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August

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August war kein Kind wie andere es waren; er schleppte bereits in jungen Jahren eine große Schuld mit sich herum, die er an sich kaum tragen konnte. Hart drückte sie von oben auf seinen Kopf, beugte diesen durch ihr Gewicht leicht nach vorn und gab August demgemäß ein etwas eigenwilliges Aussehen. Der uferlose Schmerz der Schuld fand sich in seinen beim Gehen stets zum Boden gerichteten Augen. Selten blickte er einem Menschen direkt ins Gesicht, denn er wagte es nicht. Er fürchtete, der andere könne die Schuld sehen. Wie ein kleines, niedergeschlagenes S schaute er von der Seite gesehen aus, was bei seinen Altersgenossen nicht selten gemeine Äußerungen voll von Spott und Verachtung provozierte.

Was hatte August in diese unangenehme, aber nicht zu behebende Körperhaltung geführt? Was hatte ihm dieses Leben als Außenseiter aufgezwungen?

Die Geschichte ist schnell erzählt, weil sie sich so oder so ähnlich häufig ereignet.

August war das zweite Kind. Und man hatte ihn nicht gewollt. Zumindest war das die Erklärung, die ihm seine um drei Jahre ältere Schwester Anna stets gegeben hatte. Mit einem Kind waren Augusts Eltern glücklich und zufrieden gewesen. Als das zweite kam, trennten sie sich. Für jeden musste offensichtlich sein, dass August allein die Schuld an dieser Familienauflösung trug. Er war verantwortlich für die einsame Mutter, der der Mann fehlte, und die vaterlose Schwester, die ihn dafür hasste.

So eine Schuld lässt sich in gewöhnlichen Gewichtsklassen nicht ausdrücken. August glaubte, ein großer, unsichtbarer Berg sei auf seinem Hinterkopf gewachsen und dieser wachse beständig fort. Er konnte ihn nicht fühlen und nicht sehen, doch er hörte, wie der Berg wuchs. Mit jedem Schluchzen von Augusts Mama, das sie nachts in ihrem Kopfkissen ersticken wollte, erhob sich der Berg ein wenig, mit jeder Beschimpfung der Schwester. Mit jedem Klingeln des Telefons, das nicht der Vater war, gewann Augusts Berg an Höhe.

Je weiter der Berg anschwoll, desto tiefer sank Augusts Kopf. Ärzte konnten dafür keinen Grund in seinem Knochenbau entdecken. Als August etwa fünf Jahre alt gewesen war, hatte es angefangen. Zunächst kaum sichtbar war der Kopf gesunken, man hatte Trauer darin zu erkennen geglaubt. Das Kind ließ eben den Kopf hängen, weil die Eltern sich getrennt hatten. Als August zehn war, hing der Kopf wesentlich tiefer und niemand glaubte mehr an Trauer. Selbst Augusts Mutter hielt es mittlerweile für einen Tick ihres Sohnes und kümmerte sich nicht mehr darum. Sie hatte ohnehin Wichtigeres zu tun, als sich um die Eigenheiten ihres stillen Kindes zu kümmern. Rechnungen mussten bezahlt werden und das ohne das nötige Geld. In Augusts trübseliges Seelenleben wollte sie gar keinen Einblick mehr erhalten. Sollte das stupide, sture Kind doch machen, was es wollte.

Daher war August mit seinem Berg relativ auf sich allein gestellt und er war froh darüber. Seine Schwester wollte er nicht sehen, weil sie ihn permanent nur beschimpfte. Und er wusste es ja: mit jedem ihrer keifenden Worte wuchs sein Berg. Seine Mutter wollte er ebenfalls nicht sehen, weil sie ihn anschwieg. Da war nichts Herzliches in ihrem Betragen gegen August, nur Kälte. Lautlose Kälte. Auch diese von Abscheu geprägte Lautlosigkeit gab dem Wachstum des Berges neuen Auftrieb, sie wirkte wie ein starker industrieller Dünger auf ihn.

Darum hielt August sich am liebsten, sobald er aus der Schule kam, auf dem Dachboden des Mehrfamilienhauses auf. Unter tiefen Schrägen waren abgeteilte, abschließbare, den Mietern des Hauses zugeteilte Bereiche, wovon einer allein August gehörte. Seine Mutter kam selten auf den Dachboden, Anna setzte ohnehin keinen Fuß in diesen Teil des Hauses. Er war ihr unheimlich, wegen seiner Dunkelheit und der Wäscheleinen, an denen fast nichts hing. Die Wäscheleinen waren quer durch den Mittelgang des Dachbodens gespannt und nur hier und da hing schlapp einmal ein Bettlaken, ein Nachthemd oder ein vergessener Pullover. August fürchtete sich nicht im geringsten vor der Dunkelheit.

Hauptsächlich war der Dachboden ein Abstellplatz für Dinge, die nicht oft oder gar nicht gebraucht wurden, die aber auch zu schade waren, um sie wegzuwerfen. Unter diesen ausrangierten, missverstandenen Gegenständen fühlte August sich eigentlich ganz wohl. In seinem eigenen Dachbodenabteil stand nicht viel herum. Ein altes Fahrrad war da, das zuerst Anna, dann August gehört hatte. Jetzt war es für beide zu klein geworden, also staubte es zu und hatte keine Funktion mehr. Daneben reihten sich einige Kisten aneinander, in denen angeschlagenes Geschirr, ein paar staubige Bücher und wenige Erbstücke von Augusts Oma waren, die er nie kennengelernt hatte. Das machte die Erbkiste für ihn uninteressant.

Augusts größte Aufmerksamkeit galt den wenigen Spielsachen, die er oder seine Schwester nicht mehr hatten haben wollen und die deshalb hier oben standen. Ein kleines Schaukelpferd aus Holz war da, auf das man höchstens eine Puppe hätte setzen können. Dazu gab es einen Plastikkasten mit Legosteinen, aus denen man allerhand bauen konnte; einen Plüschbären mit nur einem Arm, der immer etwas fröhlich dreinschaute, und eine kleine Spieldose, die, wenn man sie aufzog, eine entzückende Melodie von sich gab. Zu dieser Melodie ritt der Teddybär oftmals auf dem Schaukelpferd durch eine wunderbare Welt aus bunten Legosteinen, entdeckte dabei wahre Schätze wie goldene Teller, Tassen aus Edelstein und manches mehr. August benötigte die Welt draußen gar nicht, um Abenteuer zu erleben. Er brauchte auch keinen Fernseher, keine Computerspiele oder Bücher. Schließlich hätte er gar nicht gewagt, seine Mutter um irgendeines dieser Dinge zu bitten. Das schlechte Gewissen hielt ihn ab, denn er hatte seiner Mutter schon so viel genommen. Wie konnte er dann jetzt noch etwas von ihr verlangen? So verbrachte August Stunden um Stunden auf seinem Dachboden.

Ansonsten stand er morgens ohne Murren auf, frühstückte schweigend, kam nie zu spät zur Schule, erledigte brav seine Hausarbeiten, verschwand für den Nachmittag auf dem Dachboden, erschien auf die Minute zum Abendessen, ging ohne Widerrede ins Bett und bemühte sich heftig darum, sofort einzuschlafen. Unter keinen Umständen wollte er seiner Mutter Anlass zum Ärger geben, er wollte ihr nicht den kleinsten Umstand bereiten.

Insofern war August ein sehr einfaches Kind. Sehr viel einfacher als die meisten anderen.

Die Dauerschuld

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