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Der Vater

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Zunächst war August verblüfft. Vor lauter ehrlichem Erstaunen konnte er sich gar nicht regen; festgewachsen verweilte er auf der Türschwelle und legte seinen schweren Kopf dabei soweit in den Nacken, wie es ihm eben möglich war. Die beiden Polizistinnen hinter sich hatte er lange vergessen.

Mit weit aufgerissenen Augen bemerke er nicht, wie eine seiner beiden Begleiterinnen sanft nach seinen Schultern fasste und dagegen drückte, damit August sich bewegte. Zu seinem Vater hin sollte er gehen, doch August steckte irgendwo zwischen Faszination und Angst fest. Die Angst wollte ihn zur verständlichen Flucht drängen, die Faszination zog ihn in ihrer sonderbaren Art hin zum unbekannten Vater.

Sein Vater war ein Riese.

Und August hatte sich seinen Vater nicht als Riesen vorgestellt.

Eher als kleinen, dicklichen, friedfertigen, rosanen und herzlichen Mann mit wenigen Haaren und einem freundlichen Lächeln. Wie August zu dieser Vorstellung gekommen war, wusste er selbst nicht. Erinnern konnte er sich nicht, er war zu klein gewesen, als er seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. Fotos waren vernichtet worden, wie es nach Scheidungen geschieht. Das Unliebsame auslöschen zu Ungunsten des ehemals Liebsamen – schöne Erinnerungen werden verdrängt, weil sie untrennbar an den hässlichen hängen. Seit Augusts zweitem Lebensjahr hatte seine Mutter sämtlichen Kontakt mit seinem Vater unterbunden – das sei kein Vater, hatte sie behauptet, das sei ein mieses Schwein.

Nicht auszuschließen, dass diese permanente Erwähnung des Vaters als Schwein Augusts eigenartige Vorstellung eines kleinen, rundlichen Mannes hervorgebracht hatte.

Sein richtiger Vater hatte rein gar nichts von einem Schwein.

August verstand nicht, wie seine Mutter zu dieser Bezeichnung gekommen war. Zwar hatte er nichts gegen Schweine, er empfand sie sogar als amüsante, niedliche, knuffige, knuddelige Tierchen, die in Form eines Sparschweins sogar Taschengeld bewachen konnten. Trotzdem war August auch ein wenig erleichtert, dass sein Vater eben doch keinem dieser Tiere glich. Ein Schwein taugt eben eher als Schwein und nicht so sehr als Vater.

Der Riese war stämmig und hatte dichtes, dunkelbraunes Haar. Seine breite Nase schien von einem Schlag angematscht worden zu sein, die Ohren standen leicht von seinem Kopf ab. August wunderte sich.

Schließlich ließ er sich endlich dem Riesen entgegenschieben, eine Polizistin sagte zu dem Vater: Es ist wahrscheinlich nur für diese Nacht. Bis wir seine Mutter gefunden haben und bis sie sich beruhigt hat. Sie wird einen Schock bekommen, wenn sie vom Tod Ihrer Tochter erfährt.

Der Riese nickte, wechselte einige unbedeutende Worte mit den beiden Polizistinnen und schloss die Tür hinter August. August blieb stumm. Beeindruckt von der unerwarteten Erscheinung seines Vaters, wagte er gar nicht zu blinzeln.

Der Kleine schaute hoch, der Große schaute hinunter und beide wussten sich nichts zu sagen.

Sie kannten sich nicht und waren nichtsdestotrotz Vater und Sohn.

Der winzige August, dessen Nacken vor Anstrengung zitterte, weil er seit Minuten gegen den schweren Berg ankämpfen musste, wirkte zerbrechlich und schwach gegen den mächtigen Vater. Allerdings war dieser, trotz seines mutigen Aussehens, viel zu feige, um seinen Sohn in väterlicher Manier zu begrüßen, ihn in die Arme zu schließen, ihm einen Kakao anzubieten. Es reichte nicht einmal für ein leises Hallo. Reine Körpergröße nutzt einem gegen Kinder eben gar nichts. Erstrecht nicht gegen die eigenen.

Ohne Wort standen sie, bis der Vater sich endlich ein Herz nahm und mit dunkler Stimme sprach: Komm.

Er ging voraus und August trottete, wie verzaubert, hinter dem Vater her. Je länger er ihn ansah, desto stolzer wurde er auf ihn. Sein Vater war ein richtiger Riese. Was kann es Besseres für ein Kind geben? Gemeinsam stelzten sie nacheinander, gezeichnet von unnatürlich steifgliedriger Unsicherheit, in die Küche. In der war kaum genug Platz für Augusts Vater, so blieb August in der Tür stehen und wartete. Der Vater schaute hilflos in den Kühlschrank, in die Schränke und fragte: Hast du Hunger? Willst du, willst du etwas essen?

August verzog den Mund als Ausdruck von konzentrierter Nachdenklichkeit und horchte tief in sich hinein, bevor er zur Antwort gab: Ja.

Der Vater: Dann setz dich schon eben ins Wohnzimmer auf das Sofa, ich bring dir gleich was. Möchtest du auch was trinken? Milch, Saft…

August: Saft.

Der Vater: Gut.

August ging.

Er ließ sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, sein Kopf hing herunter. Länger hätte er nicht mehr hoch sehen können, es bereitete ihm ernsthafte Muskelschmerzen. Heute war alles zu viel für den armen Kopf. Er hatte keine Gelegenheit zur Erholung gehabt bei den Befragungen und Ausquetschungen, August musste zu oft den Kopf heben, jemanden ansehen, nicken, den Kopf schütteln. Er fühlte sich erschlagen. Daher blickte er auf seine Knie, auf den Dreck auf seiner blauen Hose. Der Dreck kam von der Treppe. Er dachte an das Blut auf der Treppe. An das Blut unter Annas Kopf. Er dachte an Anna.

Als sein Vater mit einem Teller voll belegter Brote und einem großen Glas Saft hereinkam, meinte August gleich zu seinen Knien: Anna ist tot.

Der Vater antwortete kaum hörbar: Ja, ich weiß. Sie haben es mir gesagt.

August: Ich kann nichts dafür.

Sein Vater zögerte einen Moment, schließlich stellte er den Teller auf den Sofatisch und reichte August das Glas mit dem Apfelsaft. Er setzte sich seinem Sohn gegenüber in einen kleinen Sessel und gab zu: Das kann ich nicht beurteilen. Du allein warst dabei. Aber wenn du es sagst, wird es wohl stimmen.

August: Es stimmt!

Tonlos aßen sie Brote. Der Riese peilte dabei immer wieder grüblerisch die Tischplatte an, Augusts Blick haftete an seinen Knien. Es tat ihm wohl, beim Essen nicht sprechen zu müssen. Seine Mutter neigte zum aggressiven Ausfragen bei Tisch. Wie sein Tag gewesen sei. Ob es etwas Neues in der Schule gegeben habe. Wie der Mathetest gelaufen sei. Obwohl sie nichts davon wirklich wissen wollte. Sie heuchelte Interesse für sein Leben, hörte bei seinen Antworten jedoch nicht hin. Fragte manches doppelt. Bemerkte es nicht einmal, wenn August auf dieselbe Frage Verschiedenes erzählte. Ihm kam nicht in den Sinn, dass seine Mutter in ihrer chronischen Überarbeitung feststeckte und er nicht das kleinste Recht hatte, sie für bösartig und gemein zu halten. Kinder sind grausam. August erkannte nie die guten Absichten seiner Mutter. Er war völlig blind für ihre Liebe.

Der Riese fragte nichts. Für diese Stille in seinem Verhalten und für die Tatsache, dass er ein Riese war, liebte August ihn auf Anhieb wesentlich mehr als seine Mutter. August war nicht nur ein grausames Kind, sondern auch unfair. Er fühlte sich wohl in dieser kleinen Einzimmerwohnung, auf dem alten Sofa mit dem schweigenden Vater, der seinem Sohn die Ruhe ließ, die dieser brauchte. Sie verstanden sich ohne Worte und akzeptierten gegenseitig ihre Unfähigkeit zu sprechen. Niemals zuvor hatten August Käsebrote so gut geschmeckt, niemals hatte er ein Glas Apfelsaft mit solchem Genuss in einem ausgeprägten inneren Frieden trinken können, niemals hatte er ohne eine störende Unterbrechung das Abendessen in gemütlicher Langsamkeit beenden können. Kurz gesagt: er fühlte sich wie im Paradies.

Und er wünschte sich inständig, dass sie seine Mutter nicht fanden. Er wollte seine Mutter nicht. Ungeachtet des Tatbestands, dass der Riese der Vater war, dessen Flucht vor August seinen Schuldberg verursacht hatte, ebenso Annas Hass und die scheinbare Gleichgültigkeit der Mutter, glaubte August, in seinem Vater einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Er wollte nicht mehr fort von ihm. Zu ihm gehörte er.

Und er kam nicht auf die Idee, dass sein Vater ihn auch jetzt, nach beinahe elf Jahren, noch nicht haben wollte. Im Gegenteil setzte August eine Erwiderung seiner kindlichen Liebe einfach voraus. Alles andere wäre ihm vermutlich unerträglich gewesen.

So beschloss er, dem Riesen sein Herz auszuschütten. Ihm von dem Berg zu erzählen, von der unmöglichen Mutter, der fiesen Schwester, den schrecklichen Bedingungen Zuhause. Alles wollte er dem Riesen sagen, einen Teil seiner Last auf den großen Mann ablegen, der sie sicherlich wesentlich leichter tragen konnte als der kleine August.

Mit bebender Stimme begann August zu sprechen. Der Riese hörte zu. Er schien ziemlich viel Geduld zu haben. Detailliert berichtete August auch von dem Unfall, wie er sich erst vor kurzer Zeit ereignet hatte. Dabei verzichtete er nicht darauf, Anna in großem Stil als die Übeltäterin darzustellen und sich selbst im Gegensatz dazu als denjenigen, der nur in Notwehr gehandelt hatte.

August schloss mit den Worten: Was hätte ich sonst tun sollen?

Er stellte die Frage im Grunde seinen Knien, die er während der ganzen Zeit angestarrt hatte. Seinen Vater sah er gar nicht. Erst jetzt, als der Riese nicht antwortete, hob August ein wenig den Blick und bemerkte, dass es im Raum ganz dunkel geworden war. Nur eine kleine Lampe brannte in der Ecke. August verstand nicht, wie ihm das Einbrechen der Nacht hatte entgehen können. Seine Knie hatten sich schließlich ebenfalls verdunkelt.

Der Riese nun saß zusammengesunken im Sessel, hatte den Kopf schräg gegen die Rückenlehne gelegt und gab gleichmäßige Atemzüge von sich. Sein Mund stand leicht offen. Mit einem Mal erschien er August gar nicht mehr so groß und stark, so mächtig und vielleicht sogar ein wenig furchteinflößend. Eher wirkte er wie ein schlafendes Kind, geflohen ins Traumland, in dem alles besser war als in der Welt.

August hätte beleidigt sein können, weil sein Vater eingeschlafen war, obwohl August ihm wichtige, schrecklich wichtige Dinge zu erzählen hatte. Er war es jedoch nicht. Mitleid hatte er mit dem großen, müden Mann, der plötzlich sein Kind da hatte und mit ihm nicht umzugehen wusste. August musste gähnen bei dem Anblick des friedlich Ruhenden. Da stand er von einer unbekannten Macht angezogen auf, machte wenige Schritte zu dem Riesen, kroch dort vorsichtig, um diesen nicht zu wecken, auf seinen Schoß und legte seinen Kopf gegen dessen Schulter. Die körperliche Nähe des Vaters gab August das Gefühl von nie erlebter Geborgenheit, er fiel umgehend in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die Dauerschuld

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