Читать книгу Die Dauerschuld - Joana Goede - Страница 9
Wieder an den Leser
ОглавлениеEs kann nicht schaden, wenn der Leser bereits zu diesem Zeitpunkt erfährt, dass August seine Mutter in seinen Gesprächen mit mir von diesem Tag an lange nicht mehr erwähnte. Auf mein Nachfragen hin, behauptete er fest, er habe sie nach diesem einen Besuch bei seinem Vater jahrelang nicht gesehen. Tage später standen zwei Reisetaschen und ein Karton mit Spielsachen, Kleidungsstücken und Handtüchern, Bettwäsche und einigen Kleinigkeiten vor der Tür. Aber ich will nicht vorgreifen.
Meine Kinder stören nur permanent meine Fokussierung auf das Wesentliche. Ich musste diese wichtige Information aufschreiben, damit ich es später nicht vergesse. Um ein Haar wäre sie mir ohnehin entglitten, als meine Tochter Maria ihre kleine Schwester Kerstin an einem Ohr zog, Kerstin schrie, ich hinrannte, gleichzeitig das Telefon klingelte und meine Schwiegermutter am Apparat war, die mich bat, für sie einkaufen zu gehen. Ich muss für diejenigen, die mich nicht kennen, erklärend hinzufügen, dass ich mich neben meinen schreienden Blagen, die meine Frau partout nicht in den Kindergarten schicken will (die ganzen Krankheiten etc.), auch noch um meine vom Alter geplagte, angeheiratete Mutter kümmern muss. Sie ist zwar für ihre fast achtzig Jahre ziemlich rüstig, geht ab und an ins Schwimmbad, fährt fleißig Rad (wenn auch recht langsam), allerdings mag sie aus Rücksicht auf ihren Rücken nichts tragen. Was zur Folge hat, dass ich alles trage, was sie nicht tragen kann. Also werde ich häufig herbeigerufen, wenn es darum geht, Getränke aus dem Keller hoch oder in den Keller hinunter zu tragen, eine Kiste mit Dekoration vom Dachboden zu holen, einzukaufen, Wäschekörbe durch das ganze Haus zu schleppen und so weiter. Sie wohnt, man muss es dazu sagen, nur wenige Straßen weiter. Sonst wäre das für mich gar nicht machbar.
Anderseits hätte ich mir schon länger gewünscht, etwas mehr Raum zwischen uns zu bringen, denn meine hilfreiche Nähe führt dazu, dass meine Schwiegermutter des öfteren Dinge nicht selbst tut, die sie selbst tun könnte, die sie aber gar nicht erst ausprobiert. Beispielsweise ruft sie mich, weil der Fernseher nicht funktioniert, obwohl doch in fünf Minuten ihre Lieblingssendung läuft. Ich also klemme mir hastig meine beiden Kinder unter den Arm (zur Oma gehen sie immerhin gern und diskutieren selten mal herum), eile durch die Straßen zu ihrem Haus, nur um festzustellen, dass sie beim Staubsaugen den Stecker des Fernsehers herausgezogen und vergessen hat, ihn wieder hineinzustecken. Ein Problem, das sie natürlich hätte lösen können, wenn sie denn einmal kurz nachgedacht hätte.
Meine Mutter ist folglich verwöhnt.
Meine Kinder sind verzogen, hauptsächlich von meiner Frau.
Und ich kann mich gegen keinen von allen durchsetzen.
Gegen August kann ich das schließlich auch nicht, noch nicht einmal jetzt, wo er nicht mehr lebt.
Aber eigentlich stecken wir ja inmitten der Szene, in der August bei seinem Vater einzieht. Reichlich skurril, diese Geschichte. Von einem zum nächsten gereicht zu werden, obwohl einen eigentlich keiner von beiden haben will. Nun gut.
Autor Ende.
Weil August nicht direkt nach dieser plötzlichen Familienkatastrophe allein in der für ihn neuen Wohnung bleiben sollte, kam er notgedrungen mit seinem Vater zur Arbeit. Vorher nahm er dem Jungen das Versprechen ab, sich ruhig und gesittet zu verhalten, niemanden zu stören und am besten einfach gar nicht da zu sein. August verstand genau, was das bedeutete, und er war geübt in diesem Verhalten.
Der Riese arbeitete, wie August es sich nie hätte vorstellen können, in einem Supermarkt. Daher bekam August den Mund zunächst gar nicht wieder zu, als er den Riesen in einem blauen Kittel sah, der nun gar nicht zu seiner Statur passen wollte. Er wirkte darin etwas lächerlich. August lachte aber nicht, denn er wollte den Vater nicht verärgern. In dem blauen Kittel hatte der Riese etwas von einem ungeschickten kleinen Kind, dass sich beim Malen im Kunstunterricht regelmäßig kräftig einsaut. Den passenden naiven Gesichtsausdruck setzte der Riese auf, als er den Kittel anlegte. Eine merkwürdige Charakterwandlung.
Der Supermarkt war einer der wenigen privat Betriebenen, die sich gegen die Vielzahl an Ketten durchzusetzen versuchten. Dass der Laden eigentlich bereits hinüber war und niemand sich ernsthaft bemühte, diese Tatsache zu verbergen, zeigte deutlich das äußere Erscheinungsbild. Der kleine graue Kasten hatte keine sauberen Fensterscheiben, das Schild hing schief und das rk des Wortes Supermarkt war offenbar abgefallen, ohne wieder angebracht oder ausgetauscht worden zu sein. Folglich begaben sich August und sein Vater in den kleinen Supermat – das gefiel August schon deutlich besser als Arbeitsstelle für seinen Vater. Es ist doch etwas ganz anderes, wenn ein Riese im Supermat tätig ist, als wenn er in einem der Pleite geweihten Supermarkt jobbt.
Unter einem Supermat stellte sich August einen Laden vor, in dem ausschließlich Superhelden arbeiteten. Auf Abruf hielten sie sich dort auf, um jederzeit einem in Not geratenen Menschen zur Hilfe zu eilen. Sobald das Telefon klingelte und eine anbetungswürdig schöne Sekretärin den Notruf entgegengenommen hatte, stürmte der am besten für diesen Job geeignete Held durch die Flügeltür hinaus und rettete reihenweise Leben. Jeder der Superhelden hatte sein Spezialgebiet. Der Riese konnte mit seiner übermenschlichen Kraft besonders gut Eingeklemmte und Verschüttete befreien, ebenso Menschen aus brennenden Häusern durch ein Fenster im Obergeschoss herausheben. Aus diesem Grund war der Supermat für die Stadt außerordentlich wichtig, denn seine Existenz verhinderte das Vorkommen von schlimmen Unfällen. Die Leute liebten alle Superhelden, die dort arbeiteten, und viele Kinder träumten davon, selbst auch einmal dort als Superheld tätig werden zu können. August malte sich bereits seine Beliebtheit in der Schule und die Bewunderung, sogar den Neid auf den Gesichtern seiner Klassenkameraden aus, wenn sie erfuhren, dass sein Vater ein Superheld war, dessen Beruf die mehrfache tägliche Lebensrettung von verzweifelten Menschen beinhaltete.
Leider entpuppte sich der Supermat nach Augusts Eintreten als stinknormaler, heruntergekommener Supermarkt. Klitzekleine Auswahl, hohe Preise, keine Kundschaft.
Drinnen sprach der Riese kurz mit dem Besitzer des kleinen Ladens, deutete dabei mehrfach auf August, der sich die Sachen in den Regalen genau anschaute. Letztlich einigte man sich wohl darauf, dass August im Lager spielen durfte, nur anfassen sollte er nichts. Und im Weg herumstehen auch nicht.
Letzteres ließ sich besonders leicht umsetzen, denn August war im Lager vollständig allein. Außer seinem Vater und dem anderen Mann, der sich August nicht vorgestellt hatte, war kein Mensch da. So spielte August mit sich selbst verstecken, suchte sich immer bessere und gelungenere Plätze aus, wo ihn niemand hätte entdecken können, der ihn suchte. Da ihn niemand suchte, wurde ihm das Spiel jedoch bald zu langweilig. Er wäre gern hoch in die Regale geklettert, in denen viele unausgepackte Kartons standen, leider traute er sich nicht. Sicherlich war das auch verboten.
Er fand eine Ecke mit großen leeren Pappkartons und krabbelte in einen hinein. Drinnen roch es nach vielen verschiedenen Dingen, keins davon hatte einen angenehmen Duft. Das meiste strahlte Fäule oder Abgestandenheit aus, in jedem Fall war einer dieser Kartons kein Ort, an dem man sich lange Zeit aufhalten wollte. August seufzte beim Verlassen des Kartons und schwirrte weiter durch das Lager. Die summenden Kühltruhen erweckten seine Aufmerksamkeit, doch öffnen konnte und durfte er sie nicht.
Dabei enthielten Kühltruhen, besonders große Kühltruhen in Hinterzimmern, häufig Tote. Das hatte August im Fernsehen gelernt, denn seine Schwester hatte ein intensives Verhältnis zu dem Gerät gepflegt. Häufig war August nachts ins Wohnzimmer geschlichen, wenn die Schwester dort schaute, und hatte sich das Dargebotene unbemerkt mit reingezogen. Selbst wenn er müde gewesen war, hatte er sich zu diesem Zeitvertreib aufgerafft, weil die Schwester Filme guckte, die er nie hätte ansehen können. Die Filme der Schwester kamen erst spätabends.
Jetzt, wo August endlich einmal selbst einen Blick in so eine ominöse Kühltruhe hätte werfen können, bekam er keine auf. Sie klemmten allesamt. Oder waren womöglich abgeschlossen. Überhaupt wirkten sie, als würden sie für etwas ganz anderes als zur Kühlung von Lebensmitteln verwendet.
Vor lauter Langeweile warf August einen Blick in den Verkaufsraum des Supermats. Alles war gut überblickbar, wenn auch die Regale dort zum Teil ziemlich im Weg standen. Die nur angelehnte Tür, die das Lager vom Verkaufsraum trennte, bot August jedoch ausreichenden Sichtschutz, um sich ungestraft ein wenig umzusehen. Außerdem gelang es ihm, eine Unterhaltung mit anzuhören, die ihn interessierte.
Kein Kunde war im Laden, der Riese sprach besonders laut mit seinem Chef, dieser antwortete noch lauter. Somit konnte August jedes einzelne Wort verstehen.
Riese: Wir hatten eine Abmachung.
Chef: Aber mit einem Kind hatte das nichts zu tun.
Riese: Kann ich denn ahnen...
Chef: Du wusstest doch seit Jahren von dem Kind!
Riese: Aber ich habe auch seit Jahren nichts mehr davon gehört! Wie soll ich voraussehen, dass meine Ex...
Chef: Du hast Frauen nie kapiert. An einem Tag lieben sie dich, am nächsten hassen sie dich. Ohne einen Grund zu brauchen. Man muss mit allem rechnen.
Riese: Und ihre Kinder? Frauen lieben ihre Kinder! Die geben sie nicht von einem Tag auf den anderen weg.
Chef: Da ist was dran.
Riese: Zumindest müssen wir uns jetzt was überlegen. Ich kann ihn nicht jeden Tag mit herbringen.
Chef: Du hättest ihn heute auch nicht mitbringen sollen.
Riese: Ich hatte keine Wahl!
Chef: Das Kind hat eine Mutter! Eine Mutter ist dazu verpflichtet, ihr Kind zu lieben! Warum sollte sie es nicht mehr lieben?
Riese: Du verstehst mich nicht richtig. Der kleine putzige August dahinten mit den großen, unschuldigen Augen hat seine Schwester die Treppe hinuntergeworfen. Sie ist tot. Tot. Das Genick hat sie sich gebrochen. Seine Mutter hält ihn für ein Monster. Und er bereut es nicht einmal! Er sagt, sie sei selbst Schuld gewesen! Kannst du dir das vorstellen?
Chef: Das ist eine Schutzreaktion. Du musst mit dem Kind zum Psychologen.
Riese: Auch das noch. Du hast recht. Ich habe dafür keine Zeit.
Chef: Wir haben dafür keine Zeit. Heute Nacht kommt eine neue Lieferung. Ich brauche dich dafür! Es ist wichtig, dass wir dieses Mal vorsichtiger sind als neulich.
Riese: Ja, ich weiß das. Aber was soll ich mit dem Jungen machen? Ihm was in den Tee geben, damit er schläft? Ihn einer Nachbarin geben, die anschließend dumme Fragen stellt?
Chef: Du kannst ihn meiner Frau geben. Die fühlt sich eh immer allein. Ich bin zu viel weg, sagt sie. Wenn du ihr August vorbeibringst, ist sie nicht mehr allein und wir können in Ruhe arbeiten.
August wollte nicht vorbeigebracht werden. Er wollte bei seinem Vater bleiben, zumindest bis zum Ende der Sommerferien. Dann musste er ohnehin wieder in die Schule. Gerade war er von seiner Mutter zu seinem Vater gewechselt, jetzt sollte er von seinem Vater zur Frau vom Chef wechseln. Wer weiß, dachte August, was das wohl für eine ist.