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Die Mutter

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Er ist ein Monster! sagte sie und hatte ganz rote Augen. Sie musste über Stunden geweint haben, selbst in diesem Moment wischte sie durch ihr Gesicht, dabei hatte August keine Tränen sehen können.

Er war aber eigentlich auch gar nicht da.

Versteckt hatte er sich, unbemerkt war er aus der Küche, in der er hatte warten sollen, ins Wohnzimmer geschlichen. Dort lauerte er gut verborgen hinter einer Kommode und lugte nur ab und an dahinter hervor, damit ihm ja nichts entging. Er kam sich vor wie auf einer Großwildjagd, in Deckung liegend und die Beute observierend – er hätte schießen wollen, ihm fehlte dazu jedoch die nötige Ausrüstung. Die Mutter hätte er schießen wollen. Alles in ihm schrie danach. Die Gier verzehrte eifrig seinen Verstand und er litt unter seinem Unvermögen.

Denn, so dachte August sehnsüchtig, wenn Annas Ableben eine derartige Verbesserung seiner Lage herbeigeführt hatte, müsste ihn das gewaltsam herbeigeführte Ende seiner Mutter zu einem möglicherweise gänzlich zufriedenen Kind machen. Zufriedenheit war für ihn das höchste vorstellbare Gut.

Der Gedanke einer Trophäe kam ihm bei seiner Großwildjagdphantasie nicht in den Sinn, obwohl der eine Film mit dem Jäger und den Gejagten (den Titel hatte er vergessen) auch davon sprach. Den Kopf seiner Mutter an die Wand des Wohnzimmers zu hängen, von wo sie ihn permanent mit toten Augen anblicken müsste, wollte er sich nicht recht vorstellen. Das erschien ihm widerwärtig und unpassend.

Während er seine Mutter mit den Tieren in dem Film verglich, ging er ihre Eigenschaften durch und kam letztlich zu dem Schluss, sie müsse am ehesten einer Hyäne gleichen. Eine hässliche, durchtriebene und fiese, schmarotzende, bissige und brüllende Hyäne zu erschießen, konnte unmöglich etwas Unrechtes sein. Zwar hatte in dem Film kein Jäger ernsthaft eine Hyäne abknallen wollen, sondern eher Löwen und Elefanten, aber mit diesen beiden erhabenen Tierarten hatte Augusts Mutter leider rein gar nichts gemeinsam.

So lag August auf dem Bauch, sich das Erlegen der Hyänenmutter ausmalend, quasi in eine Art kindlichen Blutrausch verfallen, derweil sich die Szene im Wohnzimmer doch ganz anders abspielte, als man es von einer echten Jagd erwarten kann.

Sie standen sich gegenüber, Vater und Mutter. Der schweigsame Riese, gleich einer märchenhaften Figur (in Kinderköpfen entstehen mitunter verirrte Mixturen), und die herzlose Hyäne. Sie hatte Monster gesagt und August wusste, dass sie ihn meinte. Das kränkte ihn nicht. Man hatte ihn schon als so vieles beschimpft, auf dieses eine zusätzliche Wort kam es nun nicht mehr an. Im Übrigen stand es ihm glasklar vor Augen, dass bei der Kombination aus Riese und Hyäne etwas Monströses herauskommen musste, wie sollte August also kein Monster sein? Besser ein Monster, dachte er, als eine Hyäne.

Der Riese wusste nicht recht, was er mit seinen Händen tun sollte. Mal steckte er sie in die Tasche, dann hielt er sie in der Luft, endlich faltete er sie, wie zum Gebet. August wollte, dass er angriff. Der Riese musste siegen, die Hyäne hatte nicht die geringste Chance! Aber der Riese wollte nicht kämpfen, denn er war ein sanfter Zeitgenosse. Er erwiderte mit seiner tiefen Stimme: Ein Monster! Wie kannst du sowas sagen?

Sie: Weil es wahr ist. Er hat, er hat...

Der Riese: Es war ein Unfall, er hat mir alles erzählt.

Sie: Er lügt. Das hat er schon immer getan. Er biegt sich alles so hin, wie er es haben will. Du kennst ihn nicht.

Der Riese: Willst du behaupten, er hätte es absichtlich getan?

Sie: Ja. Ich, ich kann nicht mehr. Ich kann ihn nicht mehr bei mir haben. Entweder du nimmst ihn oder ich gebe ihn ins Heim. Er, er – ich habe Angst vor ihm.

Der Riese: Du bist verrückt.

Sie: Was ist nun?

Der Riese trat beunruhigt von einem Bein auf das andere und stieß einen schweren Seufzer aus. Er gab zu: Du weißt, ich wollte ihn damals schon nicht. Es, es ist mir zu viel. Kinder, ich tauge nicht für Kinder.

Sie: Ja, ja. Du konntest dich immer gut vor der Verantwortung drücken. Dann bringe ich ihn eben ins Heim.

Er: Das kannst du nicht machen.

Sie: Sag du mir nicht, was ich machen kann und was nicht!

Er (resignierend): Dann lass ihn hier.

Sie (triumphierend): Na bitte.

Augusts Mutter ging. Ihr Sohn atmete auf. Einen gewissen Ärger konnte er nicht unterdrücken, trotz der Erleichterung, denn er hätte sich viel mehr von seiner Mutter erlöst gefühlt, wenn der Riese kurzen Prozess mit ihr gemacht hätte. Das hätte er problemlos tun können. Riese gegen Hyäne, keine Minute hätte das gedauert. So lebte die Mutter und August musste sie ewig fürchten. Alles konnte man aber auch nicht haben, er meinte sich damit abfinden zu können.

Seufzend beeilte er sich, wieder in die Küche zu kommen. Dort setzte er sich auf den Fußboden vor den Kühlschrank und drehte Däumchen. Das machte er oft, wenn er nicht wusste, wie er sich sonst beschäftigen sollte. Dabei bemühte er sich, die Daumen möglichst schnell umeinander zu drehen, ohne dass sie sich berührten. Leicht war das nicht. Dazu zählte er die Drehungen. Er verzählte sich oft, denn so schnell zählen konnte er nicht. Alles in allem war es ein sehr schweres Spiel, das höchste Konzentration erforderte.

Der Riese kam in die Küche. Er schaute August eine Weile zu, dann meinte er: Sie ist weg.

August: Gut. Kann ich jetzt bei dir bleiben?

Sein Vater atmete einmal tief ein, dann stieß er die Luft kräftig aus. Er sagte: Ja, erstmal.

August: Und wo soll ich schlafen?

Der Blick des Riesen zeigte deutlich, dass er sich über solche Dinge keine Gedanken gemacht hatte. Eine Weile musterte er August, prüfte offenbar seine Körpergröße, fuhr sich kopfschüttelnd mit der Hand durch die Haare und letztlich kam er zu dem Schluss: Wir stellen ein kleines Klappbett ins Zimmer. Neben mein Bett. Ist das in Ordnung?

August: Klar. Und Mama?

Der Riese: Ich nehme an, sie wird irgendwann deine Sachen bringen.

Die Dauerschuld

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