Читать книгу Die Dauerschuld - Joana Goede - Страница 6
Der Berg
ОглавлениеAn einem späten Nachmittag in den Sommerferien, die August, da die Familie selten einmal in Urlaub fuhr, hauptsächlich für sich mit seinen Spielen verbrachte, machte August sich gerade auf den Weg zum Abendessen, als er auf dem obersten Treppenabsatz vor dem Dachboden auf seine Schwester stieß. Anna, bald vierzehn Jahre alt, starrte ihren jüngeren Bruder aus verdrießlichen blauen Augen an. Sie machten August nur allzu deutlich, dass sie auf Befehl handelte, indem sie hier war. Freiwillig wäre sie niemals zu ihm gekommen, um mit ihm zu sprechen. August wich wie gewohnt ihrem Blick aus, weil er ihn nicht ertragen konnte. Er suchte sich einen Punkt auf dem Treppengeländer, einen kleinen Sticker, der eine Erdbeere darstellte. Der Sticker war schon ziemlich verblichen, aber die Erdbeere war noch erkennbar.
Anna meinte in ihrer unhöflichen Art gegen ihn: Starr nicht so dämlich. Immer schaust du an mir vorbei. Glaub nicht, dass ich dir sage, was ich dir sagen soll, wenn du mich nicht ansiehst. Das nervt. Du bist total bescheuert. Nun guck schon hoch! Hallo!
August überwand sich und hob den Kopf ein wenig. Es fiel ihm schwer, gegen das Gewicht des Berges anzukämpfen. Langsam näherte sich sein Blick dem seiner Schwester und als sich beide trafen, schoss August ein schwerer Schlag durch den Kopf und seinen Nacken! Der pfefferte ihm das Kinn gegen die Brust und August selbst gegen die Wand hinter sich. Offenbar hatte der Berg, durch die scheußliche Art seiner Schwester, nun eine Größe und Schwere erreicht, die Augusts Kopf nicht mehr halten konnte. Abgeknickt war er und August meinte, sein Genick sei gebrochen. Er war nicht in der Lage, den Kopf ein Stück weit anzuheben, ihn zu drehen oder auch nur den Mund zu öffnen. Langsam sank er an der Wand hinter sich herab, kriechend bewegte er sich etwa einen Meter an der Wand entlang und blieb anschließend bewegungsunfähig liegen, den Kopf krampfartig nach vorn gepresst und vollkommen orientierungslos. Das Abknicken hatte ihm die Fähigkeit genommen, oben von unten unterscheiden zu können – er erkannte lediglich durch die Berührung des Bodens mit seinen Händen und der Wand mit seinem Rücken, dass er sich auf dem Erdboden befand. Sicher sagen, was Wand und was Fußboden war, konnte er nicht. In kurzen Schüben atmete August durch die Nase aus und ein, wirkte wie ein erstickendes Tier.
Die Worte seiner Schwester verstand er kaum, sie sagte von weit her: Du tickst ja nicht mehr sauber. Mama schickt mich, es gibt heute kein Abendessen. Sie geht aus. Du sollst dir selbst was machen. Ich geh nachher auch weg.
Schritte entfernten sich, August fühlte sich verloren. Jeder Leser möge das Kinn einmal fest gegen die Brust drücken und schauen, wie ihm selbst das Atmen möglich ist, um nachzufühlen, wie es August in diesem Moment erging. Erst war er gar nicht sicher, noch zu leben. Bald kam er zu dem Schluss, dass er zwar lebte, allerdings wohl nicht mehr lange. Er rührte versuchsmäßig die Finger seiner linken Hand, dann die Hand, dann den Arm. Mit ruckartigen Bewegungen schleppte August sich schließlich, seine wenigen Kräfte mobilisierend, nach vorn, dorthin, wo er die Treppe vermutete. Mittlerweile konnte er, wenn er den Oberkörper leicht anhob, etwas sehen und damit ungefähr einordnen, wo er sich befand. Er wusste, dass er nicht überleben würde, wenn ihn niemand entdeckte.
Der Berg tötet mich, dachte August.
Dass der Berg von der Schuld kam, hatte er lange verdrängt. Was blieb, war ausschließlich das Ding auf seinem Kopf, das seinen Hals gebrochen hatte. Den Ursprung dieses Todfeinds wollte August sich nicht mehr erschließen. Er war ohnehin nicht relevant.
August kam zu der ersten Treppenstufe und legte sich kurz auf den Bauch. Den abgeknickten Kopf ließ er dabei über die Stufe hängen, dort starrte er auf den Dreck, den die Schuhe hinterlassen hatten. Ewig hatte niemand mehr in diesem Teil des Hauses die Treppen geputzt. Bis zu diesem Zeitpunkt, zu dem er sich nun quasi Auge in Auge mit dem Dreck befand, war ihm das nicht aufgefallen. Jetzt waren ihm die vielfältigen Schmutzpartikel das nächste und daher erhielten sie seine gesamte Aufmerksamkeit. Der schwarz-bräunliche Dreck, von den Schuhsohlen der Hausbewohner unbemerkt abgefallen, klebte auf den Treppenstufen, als gehöre er zu ihnen. Es fiel August schwer, sich die Treppenstufe, die sich unmittelbar vor seinem Gesicht befand, farblich ohne diese Verunreinigung zu denken. Die Vorstellungskraft reichte nicht aus. Er vermutete zwar ein helles Grau unter dem Schmutz, es hätte jedoch ohne Zweifel auch ein Beige oder sogar ein gelbliches Braun sein können. August wollte sich da nicht festlegen.
Erst nach einer Ruhephase begann er mit der schwierigen, gefährlichen, aber lebensnotwendigen Mission, die Treppe auf dem Bauch hinunterzurutschen. Dem Leser wird nicht empfohlen, dieses Kunststück ebenfalls auszuführen. Es kann böse enden. Bei Augusts Versuch, auf diese gewagte Weise die nächste Etage des Hauses zu erreichen, stützte er die Hände auf die Treppenstufen, stemmte diese gegen das Gewicht seines Körpers und ließ sich so, Stufe um Stufe, immer weiter herab. Dabei war er bemüht, sein Gesicht möglichst zusammen mit dem Oberkörper hochzudrücken, trotzdem schabte es hin und wieder über die Stufen, wenn seine Arme ermatteten. Den Dreck von den Treppenstufen hatte er bald an den Händen und im Gesicht, am Bauch und an den Beinen. Bei sich dachte er, dass dies sicherlich die komplizierteste Art sein musste, die Treppen zu wischen. Lachen konnte er darüber aus offensichtlichen Gründen nicht.
Erfolgreich arbeitete sich August in den belebteren Teil des Hauses vor, in der Hoffnung, auf einen Menschen zu stoßen, der ihm half. Hilfe war nichts Selbstverständliches, das war August schon aufgegangen. Hilfe konnte man nicht voraussetzen.
Diese schon recht alte Feststellung bewahrheitete sich auch in dieser Situation, als August nämlich unten an der Treppe ankam, verschnaufte und weiterkroch. Kaum hatte er, mittlerweile etwas erfahrener und daher in den Bewegungen deutlich geübter, die ermüdeten Arme ausgestreckt und sich auf die dritte Treppenstufe heruntergelassen, berührte er ein unvorhersehbares Ding – einen Widerstand, der ihm den Weg verstellte.
Bist du jetzt völlig irre? brüllte seine Schwester: Was kriechst du hier denn auf dem Boden lang, du Idiot! Du bist total dreckig, schau dich mal selbst an! Widerlich! Wie ein Schwein siehst du aus! Ich weiß gar nicht, warum ich noch mit dir spreche!
Eigentlich hatte Anna den Bruder nur nach Hause holen sollen, weil die Mutter sich nun doch erbarmt und vor ihrem Weggehen eine Pizza in den Ofen geschoben hatte. Die sollte August eben essen. Anstatt dem Bruder allerdings von der Pizza zu erzählen, wollte Anna August am Kragen packen und ihn auf die Beine stellen, wie es sich gehört. Der Mensch läuft eben, wie es seiner Natur entspricht, in der Regel ab einem gewissen Alter auf zwei Beinen. Er schleicht nicht wie eine Schlage oder ein elender Wurm auf dem Bauch durch die Welt.
Annas Vorhaben schlug jedoch fehl, denn August konnte sich ja nicht vollständig aufrichten. Ihr Griff verursachte ihm einen starken Schmerz im Nacken, er wollte schreien vor Furcht, er wollte seine Schwester bitten, vorsichtig zu sein. Immerhin könnte sie, in ihrem Unverstand, seinen Kopf weiter schädigen als ohnehin schon. Die Lippen bekam er natürlich nicht auseinander, denn sein Kinn wurde nach wie vor unlösbar gegen seine Brust gedrückt von der enormen Macht des Berges. In Panik geraten, schlug August deshalb wild um sich, er wusste nicht so recht, wonach. Zielen konnte er nicht, weil er, halb auf den Knien liegend, nur Annas Füße sah und die auch nur verwackelt. Anna war immer noch konzentriert damit befasst, ihn auf seine Füße zu stellen, dabei schimpfte sie permanent.
Das Schimpfen hörte erst auf, als der Schrei kam.
Mit diesem Schrei endete alles.
Nicht nur das grausige Zerren an Augusts Kragen und das nervige Gezeter von Anna, sondern auch Augusts erbarmungswürdige Lage. Nach dem Schrei erklang der dumpfe Laut eines Aufpralls, von dem August glaubte, ihn selbst verursacht zu haben. Er krachte in dem Moment, in dem Anna ihn losließ, frontal auf die nächste Treppenstufe und blieb kurzzeitig benommen liegen. Um ihn her war es ungewohnt still.
Die Stille blieb nicht lang, denn durch den Schrei und das Gepolter waren einige weitsichtige Hausbewohner auf die Idee gekommen, es hätte ja im Treppenhaus etwas passiert sein können. Dementsprechend stürzten nun ein paar aufgewühlt herbei, planlose Entsetzenslaute machten sich unter ihnen breit. Einer rief, es solle ein Notarzt kommen. August verstand nichts davon.
Verunsichert mühte er sich, den Kopf zu heben und tatsächlich! Von einem heftigen Pochen in den Schläfen begleitet, gelang es ihm, das Kinn etwa einen Zentimeter von der Brust zu lösen. Noch einer kam hinzu, dann noch einer. Nun erst wurde August gewahr, was um ihn her vor sich ging.
Diverse Nachbarn umkreisten ihn, gingen neben ihm in die Hocke, fühlten seinen Puls, seine Stirn, fragten ihn Zeug, das er nicht kapierte. Unten, das begriff er dafür sehr gut, am Fuß der Treppe lag seine Schwester, nicht sonderlich weit von August selbst entfernt. Leblos wirkte sie, Blut umgab ihren Kopf, der etwas unnatürlich kurz unterhalb der Treppe ruhte. Ihr Gesicht war abgewandt, August konnte es nicht erkennen.
Er war in der Lage, sich halbwegs aufzurichten, sich gegen eine freundliche, ältere Nachbarin zu lehnen, die ihm tröstend den Kopf streichelte und sich soweit zu erholen, dass er die Besserung seines Zustandes direkt bemerkte. Die Last auf seinem Kopf war zwar deutlich spürbar, aber sie hatte sich erheblich gemindert. Wenn er sich anstrengte, konnte er den Kopf sogar beinahe normal halten, so normal, wie andere auch. Es fehlte ihm der Mut, um diese neue Fähigkeit weiter zu erproben. Daher ließ er den Kopf wieder hängen und die Nachbarin schob sein Gesicht gegen ihren Busen. Leise sagte sie zu ihm: Sieh nicht hin, Kind, sieh nicht hin.
August hatte aber schon alles gesehen. Und er deutete die Lage folgendermaßen:
Anna war tot. Er, ihr Bruder, hatte sie umgebracht.
Das empfand er keineswegs als Verbrechen, schließlich hatte er sich bloß gewehrt. Notwehr. Die rücksichtslose Anna war schuld daran, sie allein. Da konnte August sich sicher sein. Vielleicht war deshalb der Berg um einiges geschrumpft, hatte sich eingeschüchtert zurückgezogen.
Und August merkte es: Schuldlosigkeit fühlte sich ziemlich gut an.
Überhaupt meinte August, sich selten so gut gefühlt zu haben wie in diesem Augenblick. Selbstverständlich schmerzte das Pochen in seinen Schläfen ordentlich, auch eine Schulter hatte bei dem Aufprall gelitten. Innerlich dagegen hatte sich in August zum ersten Mal ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein gebildet, das ihm die Kraft gab, den Mund zu öffnen und zu der netten Nachbarin zu sagen: Ich kann nichts dafür. Es ist nicht meine Schuld.
Die Nachbarin, die die Worte mehr erahnt als gehört hatte, weil sie August mit dem Gesicht weiterhin gegen ihren Busen drückte, erwiderte beruhigend: Sicher nicht, Schätzchen. Es wird ein furchtbarer Unfall gewesen sein. Ein ganz furchtbarer Unfall.
Weiter unten im Haus schlug ein Nachbar vor, die Mutter zu holen. Doch niemand wusste, wo sie war.
Sie fehlte, als der Notarzt zu spät eintraf; sie fehlte, als Annas toter Körper in einem schwarzen Sack abtransportiert wurde; sie fehlte, als sich einer im Haus an den Namen von Augusts Vater erinnerte und die hinzugezogene Polizei sich bereit dazu erklärte, diesen zu finden und August zu ihm zu bringen.
Niemand fragte August, ob er überhaupt zu seinem Vater wollte.