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5. Kapitel: Der Reichstag
ОглавлениеEs war so weit. Eines fröhlich sonnigen Morgens konnte der Reichstag zusammentreten. Der war schon lange weit entfernt vom ursprünglichen Germanenthing, an dem alle freien Kriegsmänner teilnahmen, mitbestimmten und mitentschieden. Noch nicht einmal ganze 200 Würdenträger waren es noch. Die höhere Geistlichkeit, Stammesherzöge, Karls Mark- und Gaugrafen, deren Amt bereits den Charakter von Verwaltungspräsidenten annahm, und einige herausragende Köpfe des hohen Adels. Sie hatten Stimmrecht.
Auch erste sächsische Adlige waren darunter. So mancher Sachse, vor allem Westfalen, deren Stammesgebiet an das der Franken grenzte, hatte schon lange vor dem Sachsenkrieg die richtige Spürnase bewiesen. Seit Jahren getauft, dem Christentum ernsthaft und aus freiem Entschluss zugewandt, zählten sie zum Establishment des Reiches. Ihre ostfälischen und niedersächsischen Stammesbrüder benötigten noch viele Jahre, bis sie Karls Lehrstück allmählich begriffen.
Umfangreiche Vorbereitungen waren vorausgegangen. Wochenlang hatten Knechte und Handwerker Bäume gefällt, in Bretter gesägt, herangeschleppt und zu Bänken und Tischen geformt. Nicht ganz von modernem Styling, aber zweckmäßig dem Gewicht auch voller Bierhumpen gewachsen. Und da altes Brauchtum nur langsam ausstirbt, bohrten die dienstbaren Helfer von Karls Hofmeier Jerowin auch noch Löcher als Halterung für Trinkhörner in die Tischplatten. Das mit dem Quellwasser der Pader gebraute Paderborner Pils, noch heute ein Genusserlebnis, war in Hektolitern bereitgestellt. Während der Tagung der Franken eilten Dutzende dienstbarer Helfer durch die Tischreihen. Sie sorgten achtsam dafür, dass der Flüssigkeitspegel der Humpen und Hörner nie den Boden erreichte. Für so manchen der Anwesenden der wichtigste Grund zur Teilnahme. Die Verhandlungen waren zu oft so dröge, dass nur ein kräftiger Schluck das ausgleichen konnte.
Der Frontwand und dem Portal seines Königsgutes vorgelagert, hatte Karl eine breite, um einen Meter höher über der Erde liegende, überdachte Veranda anbauen lassen. Auf dieser saß er mit seinem engeren Räten und den bedeutenderen Adeligen im wohltuenden Schatten. Wie jedes Detail der Veranstaltung wohl überlegt. Die anderen Teilnehmer am Reichstag saßen in der prallen Sonne beim Bier. Beides hatte die geplante Folge. Unnötige Debatten unterblieben, und nötige wurden angenehm verkürzt.
An einem Flügel der Veranda hatten die Mauren ihre schattigen Sitze angewiesen bekommen. So konnte die Gesandtschaft des Emirs von der Empore aus dem Geschehen beiwohnen. Vor der Veranda erstreckten sich jetzt die Tischreihen in den Hofplatz, von Bänken gesäumt. Hier saß nun eine Woche lang der Rest der Teilnehmer im Rat, und am äußeren Rand jene, die nur Zuschauer waren. Das Ereignis als solches, eine beachtliche Sensation, hatte wie ein Magnet so manchen interessierten Krieger, vorwiegend Sachsen, angezogen.
Früh am Vormittag hatten sich alle ungeduldig eingefunden. Die Bankreihen waren gefüllt. Es fehlte nur noch der König und sein Herold. Sie ließen nicht lange auf sich warten. Dem Stoß ins Horn folgte der Startspruch des Ausrufers. Er gebot Frieden und drohte allen Störern die Reichsacht an.
Eröffnungsrede des Königs. Begrüßung der Geladenen. Dann verkündete der Herold die Ordnung des Tages. Rechtsprechung stand auf der Tagesordnung der ersten Sitzung. Nicht im alten Sinn für jeden Streit. Den zu schlichten war längst Sache der Gaugrafen. Vor den Reichstag kamen nur noch übergeordnete Streitfälle. Zum Beispiel wenn ein Erzbischof oder Erzabt gegen einen Stammesherzog oder Gaugrafen Krieg zu führen begann. Das kam unter dem strengen Regiment Karls nur selten vor.
Gleich der erste Fall von heute war ein solcher.
Oben in der Kammlage der mittleren Pyrenäen erstreckt sich eine wunderschöne Gebirgsregion mit weiten hügeligen Hochebenen, damals nur vom Land der Franken aus zugänglich. Nach Süden gab es nur Ziegenpfade. Erst 1913 bekam die Region eine Straße nach Spanien. Im Ländchen hatte bis dahin keiner deren Fehlen bedauert. 23 Jahre später dankten andere Gott, oder – je nach Überzeugung - den Behörden dafür. Tausende Demokraten entkamen mit ihrer Hilfe dem blutrünstigen Faschismus des Franco und retteten so ihre Freiheit, die meisten davon sogar zusätzlich ihr Leben.
Ausgedehnte grüne Täler, von Bächen und Flüssen durchzogen, und mit sieben hübschen Dörfern daran. Auf gut 450 Quadratkilometern ausgebreitet, eine recht ansehnliche, wenn auch nicht sonderlich ertragreiche Grafschaft.
Seit ihrer Christianisierung tobte ein mehrfach blutig ausufernder Streit um die Region. Die Grafen von Foix machten die jahrzehntealten Rechte ihrer Sippe geltend. Der neue Bischof von La Seu d´Urgell verlangte recht unchristlich auch die weltliche Oberherrschaft über seine neu gewonnenen Schäfchen.
Beide Parteien trugen dem Reichstag temperamentvoll ihre Argumente vor. Die Stimmung näherte sich beiderseits rasch dem Punkt der Überhitzung. Und da war er auch schon erreicht. Der Bischof, mehr Kriegsmann als Gottesdiener, und von Statur ein Herkules, schleuderte dem schmächtigen alten Grafen den Handschuh vor die Füße und forderte ihn zum Gottesurteil durch Zweikampf heraus. Vergnügt brüllte der Reichstag Begeisterung. Gleich in der ersten Stunde schon wieder ein Höhepunkt. Im Sprechchor forderten Sie sofortige Ausführung.
Karl wartete, dass sich das Getöse lege. Genau das hatte ihm gerade noch gefehlt: Die weltlichen Herren und die Geistlichkeit im Kampf auf Leben oder Tod! Sein Herold blies aus Leibeskräften das Horn. Als sich der Aufruhr langsam legte, sprang der Bischof von Metz in die Runde. Er hob zunächst den Arm und dann hervor, dass er nicht als der 3. Sohn des alten Grafen rede sondern als geistlicher Hirte aus christlicher Besorgnis. Schallendes Lachen und höhnische Zurufe ließ er unbeachtet. Er wandte sich der Bibel zu, zitierte gewandt aus diesem und jenem Gleichnis und geriet dann ins Predigen. Filibustern nennt man so etwas heute, und es hatte schon damals Erfolg. Die Stimmung normalisierte sich. Dann forderten erste ärgerliche Zwischenrufe das Ende der geistlichen und geistigen Turnübung.
Karl hatte gelassen seine Zeit abgewartet und griff nun ein. Sein sehr bestimmter scharfer Kommandoruf erreichte den Bischof. Umstehende behaupteten später, Karl habe gerufen: „Nun halt endlich dein dummes Maul!“ Aber das kann nicht sein. Denn in den Reichsannalen im Reichsarchiv in Aachen fand man später nichts davon zu lesen! Der Bischof senkte jedenfalls sein Gesäß auf seinen Stuhl und wartete auf die Stimme seines Herrn. Karl zögerte nicht. Die Rolle des Salomon fiel ihm in diesem Falle leicht:
„Ich befehle das sofortige Ende dieser Fehde! Wie jeder im Reiche weiß, folgt einer eigenmächtigen Fehde die Reichsacht. Franken kämpfen nicht gegen Franken. Dafür hat Gott uns Nachbarn geschenkt! Ihr werdet künftig die Grafschaft gleichberechtigt regieren und euch die Einkünfte brüderlich und auf den Pfennig teilen! Kommt sofort vor meinen Stuhl und reicht euch die Hand darauf!“
Die beiden gehorchten unwillig, aber ergeben dem königlichen Gebot. Der König tat so, als hätte er den schmerzlichen Schrei nicht gehört, mit dem sich der Graf vom Händedruck des Herkules befreite. Er wandte sich gerade an Angilbert, seinen Kanzler, der hinter ihm saß. Zwei Stunden später mussten die beiden Kontrahenten das einschlägige königliche Staatedikt unterzeichnen, das den Vorgang für das Staatsarchiv in Aachen festhielt. Leider ging es im Lauf der Geschichte verloren. Dafür lebt die Sage davon in der Nationalhymne von Andorra weiter, um welches es nämlich gehandelt hatte. Die entstand erst viel später, als Andorra selbständige Republik geworden war. Aber sie nennt ausdrücklich diesen Vorgang und erhebt „Kaiser! Karl“ zum Gründervater der Republik Andorra!
Es folgten noch einige weniger spektakuläre Rechtshändel der Oberschicht. Karl schlichtete, befahl und urteilte. Im einen oder dem andern kritischen Fall, in dem ihm keine Lösung einfiel, ließ er abstimmen. Damit schob er die Verantwortung von sich weg dem Reichstag zu. Das schien immer dann notwendig, wenn es ihm brenzlig, oder auch nur ungeraten erschien, sich auf eine Seite zu schlagen. Am frühen Nachmittag war die Liste abgearbeitet. Der Reichstag vertagte sich auf morgen und ging zum gemütlichen Teil über.
Kaum hatte sich Abdallah in seiner Wagenburg etwas entspannt und erholt, wurde er schon wieder in Anspruch genommen. In den letzten Tagen war es zu einer Art Brauch geworden. Fast schon regelmäßig schaute zu dieser Tageszeit Markgraf Roland bei ihm auf ein Schwätzchen herein. Dessen Vorwand war es, weitere Informationen für die bevorstehende Unterstützung der Mauren zu sammeln. Abdallah versuchte umgekehrt zu ermitteln, wie denn nun seine Aktien stünden.
Den ersten Zug eröffnete der Graf mit der launigen Bemerkung: „Dieser eitle Bischof! Gibt an, als wäre er der Größte im Frankenland! Dabei bin ich das doch!“
Er und Abdallah waren sich in kurzer Zeit nahe gekommen. Beide gleich überheblich von sich eingenommen, beide gleich eitel und angeberisch. Brüder fast im Geiste - und auf jeden Fall aus gleichem Holz geschnitzt. Sie gerieten bald wie immer in ein freundschaftliches Geplänkel. Eine Art von politisch-diplomatischem Schachspiel. Sehr viel klüger wurde dadurch keiner von beiden. Im „Zweikampf“ hatte König Karl ein Remis bestätigt. In Sachen Diplomatie herrschte ein Patt vor. Manchmal gab es auch da ein Remis.
Was Abdallah anfangs irritiert hatte: Der Graf hatte stets sein Lotterielos dabei. Der begründete das damit, dass seine braune Äthiopierin leider seine Bettkommandos nicht verstehe. Abdallahs blonde Gotin könne doch der jungen Dame etwas germanisch beibringen, damit er sich ihr verständlich machen könne. Saßen die vier dann am Tisch, verschlang er Biliana mit seinen Blicken. Er konnte sie nie aus den Augen lassen, solange sie in seine Nähe weilte. Abdallah wiederum fand schnell eine Augenweide an der schönen Aida. Bald saßen sie jeden späten Nachmittag als Quartett zusammen. Die Männer umkreisten sich im diplomatischen Eiertanz. Die Damen neben ihnen tasteten sich mit ersten Sprachbrocken auf einander zu.
An diesem Nachmittag wollte es der Zufall, oder hatte jemand es absichtlich gesteuert? Nun, keiner der vier wollte das ergründen. Alle taten so, als sei es schon immer so gewesen. Die Paare nahmen Platz und fanden sich erstmals diagonal einander gegenüber. Die Männer wechselten noch einige Bemerkungen, dann versickerte ihr Gesprächsinteresse, beide gleichermaßen abgelenkt. Des Grafen Augen waren in den blauen Bilianas ertrunken. Abdallahs versanken in den brauen Edelsteinseen ihm gegenüber, von Aida unübersehbar schelmisch dazu ermuntert, dort zu verbleiben. Dann rief die Pflicht zur abendlichen Königstafel, an der außer der Königin mit ihren Hofdamen kein weiteres weibliches Wesen teilnahm.
Sein Werk erfolgreich abgeschlossen, griff Amor seinen Bogen und nahm die Suche nach dem nächsten Paar auf, das seiner Nachhilfe bedurfte. „Komisch, diese Menschenkinder! Manchmal ganz schön schwierig, so ein Pärchen in ein und dasselbe Bett zu bekommen. Muss wohl der Christengott Schuld daran haben. Gottvater Zeus haben sie diese seltsame Scheu jedenfalls nicht abgeguckt!“ murmelte er vor sich hin und entschwand.
Beim nachfolgenden Bankett pirschte sich der Graf wieder an Abdallah heran. Dem Grafen war Abdallahs Gefangennahme durch Aida nicht entgangen. Vom Wein beflügelt klopfte er diplomatisch auf den Busch. Seine Anregung wurde ebenso diplomatisch aufgenommen und Akzeptanz angedeutet. Beide ließen ihre Visiere weg und beschlossen, sofort, jetzt und auf der Stelle, die Damen gegeneinander einzutauschen. Unauffällig verschwanden sie nacheinander zu einem Gang der Natur, trafen sich draußen und handelten.
Von dieser Nacht an hatte jeder von ihnen die lang erwünschte Bettpartnerin. Ein in der Ökonomie sonst unbekannter, oder zumindest sehr seltener Fall von Tauschhandel, bei dem jeder hohen Gewinn gemacht. Aida musste allerdings noch ein wenig auf die volle Erfüllung aller ihrer Wünsche warten. Des Königs Schwester Lioba sah die Zahl der verbleibenden vergnüglichen Nächte schwinden. Sie machte rücksichtslos ihre älteren Bettrechte geltend. Durstig schöpfte sie gnadenlos in jeder verbleibenden Nacht den Brunnen leer. Aida musste sich, nach einem ersten Ansturm im Anschluss an den Tausch, auf später vertrösten.
In den folgenden Tagen wurde über die Neuordnung des nun verdoppelten Reiches beraten. Nicht dass Karl da eines Reichstagsbeschlusses bedurft hätte. Seine Pläne standen fest. Deren Absegnung durch den Reichstag erhob die jedoch auf die Ebene von Verfassungsgesetzen. Das war für seine Nachfolger von unschätzbarer Bedeutung. Und bei aller überlegenen Herrscherqualität und mannhafter Tatkraft blieb er doch ein König von Germanen. Deren Könige „herrschten“ nicht, die wurden nach Germanenart als notwendiges Übel hingenommen. Es galt also, die Zügel unmerklich so anzuziehen, dass ihm die gewünschten Beschlüsse auf dem Silbertablett überreicht wurden. In dieser Taktik hatte er die Meisterprüfung lang schon hinter sich. Über Roland, Angilbert und seinen leiblichen Onkel Bernhard, dem Bischof von Trier waren verbündete Räte darüber instruiert, wohin die Diskussion gelenkt werden sollte. Auch diesmal verlief alles nach Plan. So reibungslos wie noch nie, weil es so viel zu verteilen gab, dass für fast alle etwas abfiel.
Die wichtigsten dieser Beschlüsse sahen so aus: Niedersachsen bis zur Elbe wird in Reichsgaue aufgeteilt. Die nicht christianisierten Sachsen- und Stammesfürsten werden kaltgestellt. Die neuen Gaugrafen werden mit einem kleinen Verwaltungsstab und einer kleinen fränkischen Garnison in die vorhandenen Sachsenburgen gesetzt. Jedem wird ein Priester als Missionar zugesellt. Bischofssitze wurden bestimmt. Die Klöster im Frankenland bekamen die Order, im Sachsenland mindestens je ein Tochterkloster zu installieren, Klosterschulen einzurichten und die Söhne des sächsischen Adels zu Priestern, oder zumindest für die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben zu schulen. Die Elbe wurde zur Ostgrenze bestimmt. Eine Ostmark wurde beschlossen. Ihr Auftrag: Die Unterwerfung und Christianisierung der Slawensiedlungen auf dem Westufer, im nach ihnen benannten Wendland. Diese Aufgabe wurde in einem Zug sofort Graf Odo übertragen, einem der tüchtigsten Generäle Karls.
Danach, und die Nacht hindurch, wurden die Beschlüsse durch Angilberts Stab in Schriftform festgehalten, die Gaue und Bischofssprengel eingegrenzt, die künftigen Gaugrafen- und Bischofssitze eingeteilt und benannt, Sachsendörfer an künftige Klöster verschenkt, und denen ihre Standorte empfohlen. Am Folgetag gings dann an die Verteilung der Beute. Die nachgeborenen Söhne des Adels mutierten je nach Bedeutung ihrer Väter zu Bischöfen, Äbten, Gaugrafen usw. Gegen Abend gingen der Versammlung die Namen aus. Es wäre beinahe peinlich geworden, denn Paderborn stand noch offen. Für das zu errichtende Kloster hatte der Abt von Le Mans die Hand gehoben und einen Abt samt einigen Brüdern zugesagt. Für das Kloster Buranon hatte sich der Abt von Cluny begeistern lassen. Karl wollte aber auch einen Bischof für die Ostfalen in Paderborn haben. Wie schon so oft, errettete Angilbert seinen Herrn.
Er hatte einen Freund zu Besuch, der damals mit ihm das Priesterseminar in Colonia absolviert hatte. Ein nachgeborener Sohn eines jener schon länger christianisierten westfälischen Grafen. Er betreute dessen Hofpfarrei und hatte seinen Vater zum Reichstag begleitet. Der junge Priester hatte einen Herzenswunsch: Einmal seinen König aus der Nähe zu erleben. Zufall oder nicht, Angilbert hatte seinen Studienfreund an diesem Tage mit auf die Veranda genommen. Ohne den zu fragen flüsterte er dessen Namen in des Königs Ohr. Der grinste erleichtert. Einen Wimpernschlag später war Ägilulf, der Westfale, der erste Bischof von Paderborn.
Verwaltungstechnisch wurde das noch am gleichen Abend intern ergänzt. Der Königshof lag auf dem breiten, aber nicht sehr in die Tiefe reichenden Plateau über dem Paderloch. Daneben sollte die Bischofskirche gebaut werden. Im Hintergrund davon das Kloster mit dem Priesterseminar: Bischof Ägilulf wollte künftig junge sächsische Heiden zu christlichen Pfarrherren umschmieden lassen. Das geschieht noch heute an diesem Ort.
Noch weiter dahinter steigt steil hinauf um 100 Meter die Felswand an, über der sich die Paderborner Hochfläche, das Sintfeld ausdehnt. Das Kalksteingebirge im Untergrund der hügeligen Ebene tritt hier sichtbar zu Tage. Fachkräfte, aus dem Westen herbeibefohlen, legten den Steinbruch an. Eine große Schar immer wieder ersetzter kriegsgefangener Sachsen und Wenden musste fortan hier fronen. Hunderte von Jahren wurde der Kalk zu Bausteinen zersägt, und damit Klöster, Kirchen, Dom und Stadtmauern errichtet. In der Neuzeit diente der Kalkberg der Zementherstellung.
Abdallahs Anliegen wurde dann kurz und bündig nebenbei erledigt. Er hätte den Beschluss gar nicht mitbekommen, hätte ihn nicht Roland darauf aufmerksam gemacht. Ohne Diskussion wurde zugestimmt. Ein Hilfstrupp durfte 778 ins Mauren Land entsandt werden. Der Reichstag vertagte sich bis zum nächsten Jahr. In Lippspringe sollte der stattfinden, dort wo der andere Fluss, so wie die Pader hier, fertig aus dem Boden quillt. Daraus wurde erst mal nichts. In den nächsten Jahren sorgten die aufmüpfigen Sachsen immer wieder für Kurzweil. Erst 782 kam es dazu, und 798 dann noch einmal in Paderborn.
Karl hielt die Geistlichkeit und seine Grafen noch zurück.
Christus stand am letzten Tag vor dem Aufbruch aller auf dem Stundenplan. Das sollte den perfekten Abschluss des Reichstages erbringen. Die letzte Massenunterhaltung dieser Tagung. Karl wollte nun vollendete Tatsachen schaffen, zumindest in der Region ums Sintfeld und den Born der Pader.
Der gesamte Adel der Ostfalen und Engern, sofern männlich, kam mit allen freien Gefolgsmännern, mit Großvater, Vater, Sohn und Enkel zum Königshof. Nicht freiwillig. König Karl hatte sie herbei befohlen und den Säumigen androhen lassen, ihnen werde im Fall eine unentschuldigten Fernbleibens später der Kopf vor die Füße gelegt. Und das allen einer Sippe, vom Großvater bis zu Neugeborenen. Solch christlich-moderne Überredungskraft überzeugte die noch Zaudernden. Tausende zogen seit dem Morgengrauen aus allen Himmelsrichtungen in endlosen Schlangen heran. Langsam füllte sich der wieder frei geräumten Vorplatz des Königshofes. Am halben Vormittag stieß des Königs Hornist in sein Gerät. Die neuen Gäste eilten zur Veranda vor dem Haus. Umgeben von seinem Hofstaat und den Edlen der Franken saß dort der König auf seinem Thron. Krone, überreich geschmückter Brokat, Zepter und Reichsapfel taten ihre Wirkung.
Als die dicht gedrängte Menge der Ostfalen vor dem König versammelt stand, gebot ein weiterer Hörnerruf absolute Stille. Der neue Bischof Ägilulf trat vor seine Herde und sprach ihnen auf sächsisch die Taufformel:
„Entsagt ihr alle dem Teufelswerk? Dann ruft gemeinsam Ek gelobo!“
„Das war kläglich, noch einmal, und so nach jeder Frage!“
„Ek gelobo!“
Zufrieden nickte der Bischof.
„Und Thunaer, Wuotan, Saxnot und allen sonstigen Unholden?“
„Ek gelobo!“
Das klang nun schon wie Donnerhall. Die noch unfertigen Neuchristen lernten mächtig schnell ihrem frisch gebackenen Bischof zu gehorchen.
„Gelobt ihr euch dem allmächtigen Gott, dem Vater, seinem Sohn und dem Heiligen Geist?“ „Ek gelobo!“
„Gut, nun tretet zurück, formt eine Schlange und marschiert an eurem König vorbei. Ihr werdet vor seinen Augen das Sakrament, die Heilige Taufe empfangen!“
Die Menschenkette kroch herbei und bückte sich unter das neue Schwert des Königs, das mit dem mit dem Rubin am Knauf. Das war zuvor vom Erzbischof von Toulon christlich getauft worden. Nun hielt Angilbert es drohend über die vorbeimarschierenden Sachsen gereckt. Um manches tiefer beugten sie ihre Häupter und nahmen danach den Guss kalten Paderwassers entgegen, der ihnen übers Haupt geschüttet wurde. In dieser juristischen Sekunde mutierten sie zu Christen.
Die am Hofe weilende Geistlichkeit, vom Erzbischof bis zum letzten Lehramtsanwärter, schuftete bis in den frühen Abend im Akkord. Gelegentlich gab es für die im Weinberg des Herrn Fronenden eine Erholungspause. So schnell und so viel des benötigten Wassers konnten die Knechte und Sklaven nicht vom Paderloch heraufschaffen. War es da, mussten erst noch die heidnischen Wassergeister der Sachsen vernichtet werden. Eine langwierige und umständliche Prozedur. Lange Passagen, vom ehrwürdigen und ältesten der Erzbischöfe, dem Greis aus Reims in Latein gemurmelt, reinigten das Wasser und machten es verwendungsfähig. Dann erst ging das Fließbandtaufen weiter. Selten hat des HERRN Bodenpersonal dem himmlischen Stellvertreter auf Erden in einem Arbeitsgang so viele Schäfchen zugetrieben.
Als alle in den Schoss der Mutter Kirche gelangt waren, wurden sie erneut zusammengetrieben. Dicht gedrängt hörten sie Bischof Ägilulf zu, der sich im lokalen Dialekt erst jetzt zu Recht als ihr neuer Hirte vorstellte. Er verlas ihnen des Königs Befehle zur Gründung und Bebauung von Paderborn. Die Bauten zu bezahlen, und die ihnen dabei auferlegten Fronarbeiten nahmen sie schweigend hin. Ebenso den befohlenen Bau des Klosters Buranon. Es schien keinem geraten, an diesem Tage etwas von demokratischer Mitbestimmung zu murmeln.
Vae victis – es dauerte dennoch weitere 25 Jahre, bis die sturen Sachsen ihre Lektion erlernt hatten.
Den Abschluss des Reichstages bildete traditionell die Musterung des Heerbannes. In diesem einen einzigen der 45 Regierungsjahre der Herrschaft König Karls folgte kein Feldzug. So wie gestern die zu Taufenden, so marschierten heute die Gewappneten über den Vorhof, vorbei an ihrem König und seinen Fürsten, Grafen und Baronen. Ein buntes Bild der Feldzeichen und Schild-Bemalungen benannte dem Kundigen die Einheit. Aufmerksam und mit scharfen Augen wurden die Krieger kontrolliert, deren Haltung und der Zustand ihrer Waffen. Neben dem Kanzler saßen seine Schreiber und notierten Sünder, Versager und rostige Wehr, so wie Karl oder sein Feldmarschall Bernhard, im Nebenberuf Bischof zu Trier, es ihnen zu murmelten. Die jeweiligen Kommandeure einer Tausendschaft erhielten später vom Militär-Kommandeur ihre Tadel zur Weitergabe an die betroffenen Hundertschaften.
Am Abend wurden die Krieger in ihre Heimat entlassen. Am nächsten Morgen folgten ihnen die Trupps der Adligen und Bischöfe. Karl eilte mit seinem Hofstaat nach Aachen. Die Mauren zogen mit der Gewissheit, ihren Auftrag voll erfüllt zu haben, in Richtung Zaragoza.