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6. Kapitel: Nach Hause
ОглавлениеIn den letzten Paderborner Tagen erteilte Abdallah zweien seiner Unteroffiziere den Auftrag, die Sklavinnen, die Karren und Zugtiere zu verkaufen, und dafür neue Reittiere für die Murabitun und Aida einzuhandeln. Ergänzend dazu sollten sie drei als Tragtiere ausgebildete Maulesel beschaffen. Das gelang in den beiden überbordenden Lagern der Franken und der Gaukler über Erwarten gut. Der Erlös lag doppelt so hoch, als er in Zaragoza zu erzielen gewesen wäre. Darum ging es eigentlich nicht. Abdallah beabsichtigte nur, die Rückreise in der halben Dauer zu schaffen, solange das Wetter dem Ritt noch freundlich blieb. Dazu gab es in dieser frühen Sommerzeit gar keinen logischen Grund. Der war in seinem Gemüt verborgen. Seit seiner desaströsen Begegnung mit dem baskischen Wettergott Mikelatz vor drei Jahren saß eine Wetterphobie in seinem Kopf. Nach Maurenart sollte heimgeritten werden, in Form der Reitergruppe, und im Stil der schnellen Razzia. Nie wieder Handelskarawane! schwor er sich. Seine Kameraden dachten ebenso. Und wenn sich Aida wund reiten sollte, hätte das in seinen Augen zwei prächtige Folgen. Er durfte nun diesen zarten Po rechtmäßig eigenhändig behandeln, und im Bett musste sich der schmerzende Zustand jener Region förderlich auf ihr „Entgegenkommen“ auswirken. Wie sich dann auf dem Ritt herausstellte, war das gar nicht nötig. Aida, rettungslos und kätzchenhaft verliebt, erfüllte im Bett weit mehr Wünsche, als ihr Herr sich je erhofft.
Die offizielle Abschiedsaudienz für Abdallah verlief kurz und bündig, eingebettet in die Verabschiedung vieler Herren des fränkischen Hochadels. Der König versicherte ihm nochmals, dass er im kommenden Sommer garantiert mit der Ankunft eines „beachtenswerten“ fränkischen Hilfskorps in Zaragoza rechnen dürfe. Er gab Order für eine kleine, gut berittene Eskorte, und gewährte der Gesandtschaft dadurch die sichere und schnelle Heimreise. Was er nicht aufdeckte, war deren anderer Auftrag: Abdallah und seine Truppe intensiv zu überwachen, deren unverzügliches Verschwinden aus dem Frankenreich sicherzustellen, und möglichst viel Spionage-Informationen bei den Mauren einzuholen.
Es gab noch eine wilde Nacht der Abschiede. Ein letztes Mal wurde den Mauren die Höchstleistung abverlangt. Abdallah traf es am schlimmsten. Prinzessin Lioba kannte Tricks, von denen er noch nie erfahren. Ein ums andere Mal richtete sie den Streikenden wieder auf. Der Morgen graute schon. Zu guter Letzt setzte sie ihr entzückendes Mäulchen ein. Ihre schlangenhafte Zunge rang ihm den achten, und zum Schluss, nach einem längeren Richtverfahren, noch einen neunten Durchgang ab, ehe sie ihm tränenden Auges ebenfalls die Abreise gestattete.
Des Königs Eskorte stand in der frühen Morgensonne abmarschbereit. Die Murabitun der Mauren saßen auf ihren Maultieren, und hielten die gesattelten edlen Rösser ihrer Chassas für diese bereit. Nacheinander fanden auch die sich ein. Als letzter schließlich Abdallah. Auf schwachen Beinen wankte er zum Pferd. Mühsam erklomm er seinen rassigen Araberhengst. Mehr hing er im Sattel, den er schwerfällig erobert, als er ritt. Er dankte Allah aus voller Brust dafür, dass er dem Königshof mit den gierigen fränkischen Sexhyänen entkommen war. Seine Kumpane nicht minder. Mit den Zelten, dem Reiseproviant und dem Gepäck auf einigen Tragtieren trabten sie in Doppelreihe nach Süden. Sie schafften es nicht weit. Gegen Mittag, gleich bei der ersten Rast, einige Kilometer hinter den Salzkotten im Wald war Schluss. Zwei der Chassas lagen im Tiefschlafkoma. Abdallah ließ sich hintenüber fallen und schloss sich ihnen an. Bald schnarchten die Mauren unter den schattigen Baumkronen im Gras. Zum ersten Male bewies die Eskorte ihren Nutzen. Sie wachten und versorgten die Tiere.
König Karl hatte sich die Eskorte ausgedacht, Roland und Angilbert sie aus des Königs Leibwache zusammengestellt. Das Ergebnis durfte bewundert werden! Sechs bewährte Krieger hatten sie ausgesucht. Die sechs stammten aus den verschiedenen südlichen Regionen des Reiches. Drei waren Franken, drei Westgoten. Stets hatte einer von ihnen Ortskenntnisse. Immer sprach einer den lokalen Dialekt oder zumindest die örtliche Umgangssprache. Durch die germanischen Murabitun konnten auch Abdallah und die anderen Mauren mit ihnen kommunizieren. Die Gesandtschaft hätte nicht in besseren Händen sein können.
Es blieb bei dem einen Ausfall. Sie schafften danach um die 100 km am Tage. Keine Flussreise, nur den flotten Ritt auf dem Hellweg zum Rhein. Auf dessen Westseite nahmen sie die römische Fernstraße unter die Hufe. Mit der trabten sie am Rhein hinauf zur Rhone, und an dieser hinab zum Meer. Ohne jeden Umweg, fast so, wie der Vogel fliegt. Und ein vergnüglicher leichter Sommerritt obendrein. Schon am zweiten Tage befiel Abdallah wieder der Appetit. Glücklich jauchend genoss Aida endlich ihr Erlebnis. Neidisch lauschten die anderen in ihren Zelten. Bis zum Fluss blieb Ihnen nebenan nur Handarbeit.
Nach vier sonnigen Reisetagen lag das Sachsenland hinter ihnen. Nun nächtigten sie auf dem gesamten Ritt durchs Frankenland in fränkischen Königshöfen. Ein weiterer Vorteil, den die Eskorte mitbrachte. Die Franken kannten die Strecke wie auch des Königs Infrastruktur, und die Hofmeier schuldeten den Königsboten Gehorsam.
Tagsüber hielt die Reitergruppe vorwiegend an einsamen Herbergen am Weg. In denen fanden sie Mahlzeiten und Kraftfutter für ihre Tiere. Abends, in einer der königlichen „Raststätten“, den Hofanlagen Karls, wurde ihnen alle Arbeit abgenommen. Morgens standen die ausgeruhten Reittiere fertig gesattelt zum Abmarsch. Den Mauren kam es vor, als seien sie bereits in Allahs siebtem Himmel, denn selbst an den nötigen Houris fehlte es des Nachts nicht.
Schon am neunten Reisetag lag Basel hinter ihnen. Am sechzehnten sahen sie das Mittelmeer.
So kamen sie eines Abends auch wieder nach Arles. Hier wurden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Aufruhr herrschte im Städtchen. In Gruppen standen die Bürger umher. Andere liefen von der einen zur anderen. Aufgeregt wurde diskutiert. Vor der Wehrkirche, genauer: Vor der massiven Mauer des dazugehörigen Kirchhofes, lag am offenen Zugangstor und nahe der herabgelassenen Fallbrücke eine Leichenreihe. Alle nackt! Zwei eindeutig weiblich, dem Eindruck nach zwei junge Sklavinnen. Allen war die Kehle aufgeschlitzt. Sie warteten geduldig auf ihre Bestattung. Sie hatten ja jetzt die nötige Zeit dafür.
Umso heftiger wurde nebenan gestritten. Abdallah ritt mit den seinen hinzu. Einer seiner sprachkundigen Veteranen übersetzte. Ein etwas heruntergekommenes Exemplar Mensch stand in der Mitte einer Gruppe Patrizier der Stadt. Er stak in einer Art von Tunika aus Schafsleder. Ausgefranste Knickerbocker hingen darunter bis übers Knie. Er war barfuß. Unter einer undefinierbaren Lederkappe hingen lange graue Zotteln auf seine Schulter herab. Tief braun das Gesicht, von grauen Bartzotteln verdeckt, über denen eine auffallend rote Knollennase leuchtete, die von Weinliebe zeugte. Zu seinen Füßen saßen zwei kräftige Schäferhunde. Nur die und deren Anwesenheit schien die Patrizier zu beeindrucken.
„Hört zu, ihr Feiglinge“, brüllte der Waldschrat in die Runde, „meine Wölfe und ich, wir finden die Mörder. Wenn ihr nur Manns genug wäret, mit mir aufzubrechen, wäre morgen die Welt von diesem Mordgesindel gereinigt! Fasst endlich Mut und nehmt eure Bürgerpflicht wahr. Ich führe euch, und wir handeln!“
Gelächter, Spottrufe und verächtliche Mienen. Odwart der Schäfer, denn das war er, schnaubte Verachtung zurück.
Abdallah griff ein. Er befahl seinem Dolmetscher nachzufragen. Schnell ergab sich, dass der Mann ein durchziehender Wanderschäfer war. Der vermaß sich, mit seinen beiden Spürhunden das Lager der Verbrecher zu finden, damit sie ihren gerechten Lohn bekommen konnten. Abdallah ließ nachhaken.
„Da gibt es keinen Zweifel!“ bedeutete ihm der Schrat, „meine beiden Wölfe (das waren sie nicht, er nannte sie nur so) finden jeden Menschen, auf den ich sie ansetze. Aber dieses schlappe Stadtvolk will gar nicht eingreifen. Vermutlich profitieren sie mit, verhökern als Hehler und Schieber jeweils die Beute! Würde mich jedenfalls nicht wundern! Wenn nur ein paar tüchtige Krieger zur Hand wären – mit denen würde ich das Problem ein und für alle Male regeln!“
Abdallah sah in die Runde der Seinen und seiner Eskorte. Schließlich traf er in dieser Rundschau auf den alten Unteroffizier. Gregor, der Iberer, erwiderte und hielt den Blick. Ohne zu zwinkern sah er starr zurück. Dann nickte er leicht. Das erledigte jede Frage. Ihren Auftrag hatten sie erfolgreich erfüllt. Der Ritt nach Hause konnte mal warten. Hier gab es ein Abenteuer zu erleben, und auf so etwas verzichtet ein Chassa nie. Und die ohnehin stets rauflustigen Franken der Eskorte rutschten schon unruhig in ihren Sätteln.
Außerdem war da die Erinnerung an der Mauren damalige Schmach. Die kannte zwar niemand außer ihnen selbst, aber das war schon einer zu viel. Jetzt die Bande zu vernichten, das würde ihr Seelenleben wieder ins Gleichgewicht bringen.
„Du hast gerufen! Du hast deine Helfer! Sie sitzen auf ihren Reittieren hinter dir!“ ließ Abdallah den Schäfer wissen. „Führe uns, und wir erledigen das!“
Ungläubig erst, dann mit breitem Grinsen sah der Zottelbart zu ihm auf.
„Alsdann, Herr, und sofort! Legen wir los!“
Er scheuchte seine Hunde hoch, führte sie zu den Leichen und ließ sie an allen schnüffeln. Abdallahs Gruppe war neugierig mitgeritten. Nun wandte sich der Schäfer erneut an den Dolmetscher:
„Sage deinem Herren, dass ich jetzt die Bande finden gehe. Er möge mir zwei Krieger zur Begleitung mitgeben. Wir finden das Versteck und kehren zurück. Morgen im ersten Tageslicht packen wir dann die Bande. Ich weiß nicht, wie viele es sind. Um alle zu packen wäre es sicher ratsam, der Herr zwingt die Bürger, die Stadtwache und die Bürgerwehr mitzusenden!“
Sprachs, wandte sich mit seinen Hunden in den Wind, der von Südost her wehte, und wanderte aus dem Dorf.
Abdallah wandte sich zu Gregor: „Du gehst mit ihm! Wen willst du sonst haben?“
„Basco, der ist der am wenigsten zu dummen Streichen bereit.“ Er winkte ihn herbei. Einige kurze Worte. Sie stiegen ab und übergaben ihre Maultiere den anderen. Leichtfüßig trabten die beiden Veteranen hinter dem Schäfer her. Die Nasen hoch im Wind strebten die Hunde nach Südosten. Schon hinter der alten Burgmauer verschwamm die Gruppe mit der hereinbrechenden Abenddämmerung.
Abdallah knöpfte sich nun den Stadtbürgermeister vor. Der Schäfer hatte ihn nachdenklich gemacht. Sein Dolmetscher übersetzte seine Drohungen:
„Lass sofort die Tore schließen! Von diesem Augenblick an verlässt niemand mehr die Ummauerung! Meine Männer umstellen die Stadt. Wen sie aufgreifen, wird morgen beerdigt“, ließ er ihm mitteilen. Der alte Legionär begriff und tat aus eigener Initiative Deftiges hinzu. Seine Übersetzung lautete in etwa: „Sollten die Banditen gewarnt werden, von wem auch immer, dann wirst du morgen zusehen, wie deine Frau und deine Kinder in der Rhone ersäuft werden, ehe wir dich kastrieren, dich ausweiden und ihnen nachsenden! Um zwei Stunden nach Mitternacht will ich hier am Tor die Stadtwache und dein Jungvolk unter Waffen sehen! “
Das wirkte. Um zwei Uhr morgens stand der lokale Volkssturm am Brunnen beim Stadttor. Knüppel, Äxte, Messer bereit. Der Stadtälteste erschien als Wotan. Er trug einen Topfhelm, an dessen beiden Seiten Stierhörner in die Höhe ragten. In seinem Gurt stak ein rostiges Schwert. Abdallah teilte seine Schar in zwei Gruppen, eine dritte bildete die fränkische Eskorte. Jedem der drei Trupps ordnete er ein Drittel der lokalen Streitmacht zu.
Um Mitternacht herum waren der Schäfer, seine Hunde und die beiden Murabitun zurückgekehrt. Der Schäfer überließ es den Mauren, ihrem Kaid vom Erfolg zu berichten. Nur eine Stunde vom Dorf entfernt waren die Hunde fündig geworden. Die Bande saß auf einer größeren und dicht bewaldeten Insel in einem Mündungsarm der Rhone. Man sah ihre Feuer und hörte sie feiern. Gesang, Geigenmusik, Lachen und Grölen war zu vernehmen. Das entdeckt, nahm der Schäfer seine Hunde zurück. Unbemerkt hatten sie sich zurückgezogen, um die Beobachtung zu melden.
Die Hunde ließ der Schäfer bei seiner Herde, setzte sich nun an die Spitze, und die Streitmacht folgte. Inzwischen war auch die lastende Hitze des Sommertages einem besser erträglichen sanften Nachtklima gewichen. Sternklar wölbte sich der Himmel. Im Schein des Vollmondes und mit guter Sicht, gings im Gänsemarsch zum Wasser des Rhone Altarms, in dem die Insel sichtbar wurde. Die lag in absoluter Stille. Nicht deute auf ein Räuberlager hin. Nahe dem Ufer teilte Abdallah seine Streitmacht in zwei Arme zur umzingelnden Besetzung der dort vor ihnen vermutlich im Lager Schlafenden, und ließ seine Krieger im ersten Morgendämmer von beiden Seiten gleichzeitig zur Insel waten.
Sie fanden das Zigeunerlager im Schweigen einer durchfeierten Nacht. Es war ein regelrechtes Dauerwohnlager. Auf einer schon älteren Rodung standen zum Teil feste Hütten, zum anderen Planwagen. Flussab, auf einer weiteren Lichtung, stand eine Herde von Zugtieren in einer festen Einzäunung. Auf dem freien Raum am Rand des Lagers parkte noch unangetastet der Frachtzug, Beute und Zeugnis zugleich. Das besiegelte das Schicksal der Bande.
Am Rand der Lichtung, rundum die sorglos Schlafenden eingekreist, verharrten die Rächer zunächst noch im Schatten der Bäume und warteten auf das erste Tageslicht. Nur einmal regte sich was. Eine Alte, die dem Druck ihrer Blase nachgeben musste, kroch aus einem der Planwagen. Sie watschelte zum Waldrand. Nur 5 m vor Wotans Füßen ließ sie es plätschern. Schlaftrunken kroch sie wieder unter die Plane. Nur noch vieltöniges Schnarchen. Noch eine Viertelstunde, dann erklang der erste Vogelruf des Morgens. Zugleich konnte Abdallah die Männer auf der Gegenseite am Waldesrand erkennen. Er trat in die Lichtung. Ein weiterer Blick in die Runde. Alle sahen erwartungsvoll zu ihm hin. Er hob den rechten Arm und schleudert seine Faust in Richtung Lagermitte.
Lautlos setzten sich die Männer in Bewegung. Wie von Abdallah angeordnet, gab keiner einen Ton von sich. Er hatte jedem versprochen, ihm die Zunge abschneiden zu lassen, wenn er laut werden würde. Diese milde Versprechung wirkte. Sie pirschten sich regelrecht an die Schlafenden. Es gab keinen Kampf. Die Überraschung war vollkommen. Einige Zigeuner schliefen am Boden, rund um drei heruntergebrannte Lagerfeuer. Als sie von der groben Behandlung erwachten, lagen ihre Hände in Fesseln auf dem Rücken. Noch immer kein Laut. Ihre Kehlen blieben zugedrückt. Erst als nun der lokale Volkssturm die anderen noch Schlafenden aus dem Karren und Hütten zogen, wurde es laut. Die Männer fluchten, die Weiber schrillten Wut und Hass, die Kinder kreischten. Zwei junge Männer und eine Frau rissen sich los und stürmten zum Wald. Es gab kein entkommen. Abdallah, der routinierte Razzia-Kaid, hatte so etwas erwartet. Seine eigenen Männer bildeten, von ihm zurückgehalten, die äußere Absperrung. Drei Füße schnellten vor, drei Hasen kugelten sich und wurden verschnürt.
Das wars. Ruhe kehrte ein. Unsicher sah Wotan zu Abdallah: Was nun? Der und der Schäfer sorgen für kurzen Prozess.
„Wenn du die Gefangenen deinem Gaugrafen zuführst, darfst du auf wenig Dank rechnen“ raunte ihm der Schäfer zu. „Du hast die Arbeit mit dem Transport. Du und dein Städtchen, ihr dürft die Gefangenen bewachen und ernähren, bis ein förmlicher Thing einberufen ist und der entschieden hat. Derweil haben die Brüder deiner Gefangen diese wahrscheinlich schon per List und Gewalt eines Nachts befreit. Du und die deinen, ihr habt den Schaden! Der Graf dann anschließend einen Grund, euch abzustrafen. Also sag, was du für richtig hältst!“
Unsicher sah Wotan zu Abdallah. Der nickte ihm grimmig zu. Wotan verstand:
„Wir hängen sie allesamt an hier die Bäume“ sprudelte er hervor.
„So sei es, vorwärts, macht euch dran!“ Befahl Abdallah.
Der Schäfer übernahm unaufgefordert, aber mit großer Hingabe die Regie des nun folgenden Ablaufs. Er ließ die Planen der Zigeunerwagen in Streifen schneiden und zu kräftigen Stricken verwinden. Dann wurden die nur noch kurz fluchenden Männer und Frauen an die unteren Äste der Bäume gehängt. Schön langsam und vorsichtig, damit sie länger etwas davon hatten. Die Hälfte konnte mit ihren Zehen noch den Boden ertasten und taten ihm den erwünschten Gefallen. Sie tanzten, nun verstummt, den letzten Tanz ihres Lebens. Sehr zum Amüsement des Schäfers und der Städter. Die sahen bewundernd zu und schlossen Wetten ab, wer wohl der Letzte sein werde.
Es war dann eine noch recht junge und hübsche Sie, die fast eine Viertelstunde lang temperamentvoll tanzte und dann als letzte ihre schwarze Seele aushauchte. „Eigentlich dumm von uns und schade“, meinte der Schäfer dazu. „Wir hätten mit der und den anderen Mädchen erst noch Spaß haben können, ehe wir sie hängten. Jetzt ist es leider zu spät dazu. Es bleibt aber noch das kleine Raubgesindel. Reicht mir mal die Säuglinge“, befahl er und ging zur Rhone.
Einen nach dem anderen schleuderte er mit weitem Schwung ins Wasser. „Aus Nissen werden Läuse! Reicht mir nun die Kleinkinder!“
Er lehrte sie auf gleiche Weise für immer zu tauchen. Ein kleiner Junge kam als einziger wieder hoch und paddelte eilends den Fluss hinab. Wütend über seinen Fehler brüllte der Schäfer auf.
„Hättest den Größeren erst den Karnickel-Fangschlag setzen müssen!“ belehrte ihn ein weiser Alter.
„Danke, Opa, jetzt weiß ichs!“
„Lass man,“ beruhigte ihn Wotan, „ weit kommt der nicht! Er schwimmt in Richtung Afrika, und bis Karthago muss er lange paddeln!“
Brüllendes Gelächter belohnte ihn für seinen Scherz.
Sie wandten sich der Beute zu. In den Kaufmannskarren der letzten Missetat fanden sie Gold- und Silberschmuck. Das musste wohl ein fahrender Goldschmied mit seinem Gesinde gewesen sein, die nun alle auf dem Kirchhof von Arles ruhten. In den Hütten und Planwagen der Bande fand sich noch vieles mehr an Beute. Abdallah wies Odwart, dem Schäfer, den ersten Zugriff darauf zu. Der schnaubte nur wieder. Er griff sich eine gute dicke Wolldecke, die mit Sicherheit keine Zigeunerin gewebt und wohl aus früherer Beute stammte.
„Mehr brauche ich nicht!“ ließ er Abdallah übersetzen. „Bedürfnislosigkeit und Genügsamkeit sind die Grundlagen meiner Freiheit. Schaut euch diese Kretins an, Herr, wie sie wühlen und gieren. Die haben längst schon ihr Erstgeburtsrecht auf ein buntes freies Leben gegen die dumpfe Existenz in der lokalen Enge eingetauscht. Sie haben ein Haus, und damit einen Pfahl in die Erde eingerammt, an dessen Kette sie nun baumeln wie ihre Hofhunde - und genauso wie die ihr Leben vergeuden. Sie vegetieren nur. Sie haben längst vergessen, was Mensch sein bedeutet!“
Die hingegen verlachten höhnend den Mann der Natur. Ein Idiot, ein Geistesschwacher! Der ließ Gold und Silber liegen und griff nach einer billigen Decke! Morgen wird er mit seiner Herde weiterziehen. Vielleicht kommt er übers Jahr wieder vorbei – vielleicht auch nicht. Wie unwichtig! Von so einem Dummkopf kann keiner was erben. Vergessen wir ihn! Und das taten sie, noch ehe die Mauren weiterritten.
Der Stadtbürgermeister hatte inzwischen begriffen, dass sich die Fremden nicht weiter einmischen wollten. Er übernahm die Initiative. Es zeigte sich rasch, dass er sein Amt zu Recht innehatte. Mit Autorität brachte er Ordnung in das weitere Geschehen. Zwei Finger in den Mund, ein schriller Pfiff, und seine Mannen strömten herbei. Er sah kurz in die Runde: „Jason und Wulfnot, was meint ihr als Ratsälteste? Wir sollten nicht länger verweilen. Was Wert hat, nehmen wir mit. Wir werden ehrlich teilen. Den Kaufmannszug bekommt der Gaugraf in Nimes. Alles andere, was in dem Zigeunerlager an Werten vorhanden, teilen wir unter uns. Wie seht ihr beiden das?“
Seine Räte nickten Zustimmung, sein Gefolge johlte Beifall. Als der ausklang:
„Jason, du nimmst einige erfahrene Ackerbürger und holst uns 6 Zugpaare aus der Umzäunung. Vier für den Kaufmannszug, zwei für die Karren mit allem was Wert für uns hat.
Du, Edwin, nimmst deine jungen Freunde und treibst die übrige Herde sofort zur Allmende, dem gemeinsamen Stadtanger.
Du, Wulfnot sonderst die beiden besten Karren aus. Ihr durchsucht gründlich die Hütten und Zigeuner-Wohnwagen. Die verwendbare Beute ladet ihr auf die beiden Karren. Danach schiebt ihr die überprüften und verbleibenden Wohnwagen in die Zwischenräume der Hütten. Wenn alles erledigt ist, werde ich das Lager abfackeln!“
„Es kann sein, dass wir mehr als zwei Karren benötigen.“ Wulfnot hatte Bedenken.
„Kein Problem, binden wir halt einen leichteren an einen der anderen an, das schaffen die Zugtiere bis zur Stadt! Und nun vorwärts, ans Werk, damit wir nach Hause und zu unserer Morgensuppe kommen.
Abdallah sah keinen Grund zum Verweilen. Er wies den Dorfältesten noch an, den Gaugrafen von des Schäfers Leistung zu berichten. Der schnaubte nur wieder, erkennbar verächtlich.
„Sic transit gloria mundi!“ murmelte er vor sich hin. „Das wird wohl was werden! Die sind doch nicht viel besser, als jene, die jetzt die Bäume schmücken. Wir hätten die besser dazu gehängt! Die Hälfte der Beute bleibt bestimmt an ihren schmutzigen Fingern kleben!“
Erstaunt hörte Abdallah sein Gegrummel. Er hatte auch Latein bimsen müssen, in seiner Schulzeit in Zaragoza. Latein war die Verkehrssprache von Europas Gebildeten. Das hatte ihm auch an Karls Hof beträchtlich weitergeholfen.
Dann dämmerte es dem Mauren:
„Du bist ein entlaufener Mullah der Christen!“ sagte er ihm in Latein auf den Kopf zu.
„Nicht ganz!“ erwiderte der. „Ich war ordinierter Priester einer kleinen Stadt in der Provence. Ich hatte eine hübsche junge Westgotin, eine Waise und ein aufblühendes Prachtweib, in mein Pfarrhaus aufgenommen. Die wärmte mir bald unerwartet lustvoll und gekonnt aufs Schönste mein Bett. Ich verfiel ihr in grenzenloser Liebe. Dann lud ich den Bischof von Toulouse zur Erstkommunion. Als er abreiste, verschwand meine geliebte Reana mit ihm. Der Bischof hatte sie hinter meinem Rücken mühelos davon überzeugt, dass es sich in Samt und Seide lustvoller lieben lässt, als in Wolle und Leinen.
Ich verließ meine Menschenherde und lauerte ihm auf. Es dauerte nicht lange. Ich erwischte ihn eines Nachts in einer anderen Pfarre, als er das Plumpsklo im Hof aufsuchte. Ich würgte ihn, bis er nicht mehr zappelte. Ich hab ihn ein wenig beschnitten. Seither singt er mit im Eunuchenchor, und die ungetreue Reana bespringt er auch nicht mehr! Er hatte ein paar Goldstücke in seiner Bischofshose. Davon habe mir hier an der unteren Rhone, weitab von dem nun endgültig zölibatären Kirchenfürsten eine Schafsherde zugelegt. Seither bin ein freier Mann der Camargue, niemandes Untertan, niemandem verpflichtet!“ schloss er immer grimmiger seine Rede. Dann blickte er noch einmal in die fasst kreisrunde Lichtung und nickte zufrieden beim Anblick all der bunten Früchte, die jetzt die Bäume schmückten.
„Sehen ja fast aus wie verfrühte Weihnachtsbäume!“ Fasste seinen Knotenstock fester, watete zum Festland und verschwand. Abdallah sah verständnisvoll hinterher. Das war ein befriedigender Morgen gewesen. Nun noch diese interessante menschliche Komödie.
Er nickte seinen Männern zu, furtete den Rhone Arm und wanderte mit ihnen zurück nach Arles. Sie saßen noch in ihrem Camp an der Stadtmauer beim Frühstück, als die Städter mit der Wagenkolonne ankamen. Fern hinten im Südosten hing eine dunkle Rauchwolke über der Camargue.
Schon am Vormittag ritten sie weiter, direkt Barcelona zu. Abdallah trieb sein Pferd zu Gregor. Als der weder erstaunt noch ängstlich aufsah, zuckte er mit geneigtem Kopf zur Seite hin und zügelte sein Ross. Gregor folgte. Erst als sie allein etwas zurück hingen fragte er ihn:
„Bist du Sklave oder Söldner?“
„Ein freier Krieger!“ war die stolze Antwort.
„Nur noch bis Zaragoza. Dort wirst du entlassen! Danach meldest du dich bei mir in meinem Palast. Du übernimmst ihn als Majordomo, als mein Haus-Wesir. Du bist fortan meines Hofes al-Dschund, Chef meiner Palast-Schurta, und vor allem mein al-Rasa´il. Zusammengenommen: Mein erster Ratgeber!“
Er gab seinem Pferd die Sporen. Den Unteroffizier beachtete er nicht weiter. Eine Antwort von ihm hielt er für überflüssig.
Bis Barcelona gab es nichts Besonderes mehr. Diesmal ritten sie offen in die Stadt. Zusammen mit ihrer Eskorte erregten sie beträchtliches Aufsehen. Ein Torwächter des Walis führte sie zum Palast. Abdallah ließ seinen Trupp dort im Hof rasten, den Verpflegungsvorrat für die restliche Reise aufstocken, und machte dem Wali kurz seine Aufwartung. Der nahm befriedigt das positive Ergebnis der Unternehmung zur Kenntnis und übereichte seinem erfolgreichen Gesandten zur Belohnung einen schweren Goldring. Er kicherte nicht wenig über das Aufsehen, das sein Mädchen-Quartett in Paderborn erregt hatte. Brüllte vor Lachen über die Geschichte vom Mädchentausch. Zeigte volles Verständnis dafür, dass sein Gast sofort weiterstrebte. Dem Wali von Huesca werde er sofort die freudige Botschaft durch einen reitenden Boten übermitteln, versprach er noch, dann schieden sie schon wieder voneinander.
In munterem Trab bewältigten die in weiteren fünf Tagen, nur von der hoch sommerlichen Hitze geplagt, die letzte Strecke nach Zaragoza.