Читать книгу Muttis Bester - Jochen Werner - Страница 4

Оглавление

Scheiße

Im Sommer 1969 wurde ich an meiner Grundschule in Hamburg-Rahlstedt, einem nordöstlich gelegenen Stadtteil, eingeschult. Wir, meine Eltern und ich, hatten wenige Jahre zuvor ein Reihenmittelhaus in einer riesigen Neubausiedlung bezogen, die sich bis an den Rand der umliegenden Feldmark erstreckte. Die Straße, an der unser Haus lag, dehnte sich zwischen einem kleinen Einkaufszentrum auf der einen sowie einem Teich und dem Gelände der Grundschule auf der anderen Seite aus. Im weiteren Verlauf zog sie sich zwischen Sozialbaublöcken, Hochhäusern, unserer Reihen­haussiedlung und einigen noblen Bungalows hin. Die Terrasse unseres Hauses zeigte in die Richtung meiner Grundschule und lag keine 200 Meter vom Schultor entfernt. Unsere Hauszeile zählte zwölf Eingänge, einschließlich meiner Person wohnten darin 13 Kinder im schulpflichtigen Alter. Die Reihenendhäuser wurden jeweils von Lehrer-Ehepaaren bewohnt, deren Grundstücke wohl mehr als dreimal so groß waren wie unsere Reihenmittelhausgrundstücke und von dichten Büschen sowie immergrünen Hecken sichtdicht eingefriedet waren. Der größte Teil der übrigen ­Grundstücke war weder durch Hecken noch Büsche begrenzt. Das bescherte uns Kindern eine ordentliche Spielfläche, die allerdings vom Platz hinter Haus g jäh unterbrochen wurde. Die ­Alten von Haus g, sie waren bestimmt schon 40 Jahre alt oder noch älter, schnitten mit ihrer saublöden Einfriedung unsere Reihenmittelhaus-heckenfreie-Spielwiese nahezu genau in der Mitte durch. ­Außerdem war Frau Haus g eine Zicke! Sie pochte darauf, dass die Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr eingehalten wurde. Und die Nachtruhe. Und dass die Feiertage respektiert wurden. Und die Fahrräder müssten ja nun nicht an der Hecke lehnen. Und in die Hecke pinkeln müsse man ja auch nicht – das hätte sie nämlich ganz deutlich gesehen! Sie meckerte keineswegs nur mit uns Kindern, auch die Erwachsenen bekamen ihr Fett weg: »Herr Haus a, Ihre Mülltonne war wieder nicht geschlossen. Die ganze Siedlung stinkt!«, »Frau Haus c, Ihre Wäsche hängt nun schon den dritten Tag hintereinander auf Ihrer Wäschespinne!« oder »Herr Haus k, müssen Sie immer so auf den Parkplatz rasen? Es kommt noch wer zu Tode bei Ihrem Fahrstil!« Da musste einfach im Laufe der Zeit irgendjemand aufbegehren, oder?

Zwei Tage vor Silvester 1972 war es so weit. Ich ging in die vierte Klasse und hatte mich meist den älteren Kindern aus den umliegenden Reihenhäusern oder Sozialbauwohnungen angeschlossen. Und der eine oder andere von ihnen hatte noch ältere Geschwister. Daher kamen wir in den Besitz von Verheißungsvollerem als nur Stinkbomben oder Wunderkerzen – nämlich von D-Böllern, Kanonenschlägen und Bienenkörben. Unser Feindbild stand ja bereits fest – nun gab es Krieg mit Haus g. Und wir hatten einen Plan! Wir trafen uns nachmittags im Fahrradkeller des Sozialbaublocks, in dem mein Freund Holger wohnte, und bestaunten unser Sprengstoff-Arsenal. Gerd hatte von seiner großen Schwester Susanne zwei D-Böller und einen Bienenkorb bekommen. Bernd schleppte fünf Raketen, mindestens 20 Böller und Kanonenschläge sowie Unmengen an Knallfröschen an. Und Holger besaß einen halben Schinken D-Böller. Ich konnte nichts beisteuern, aber das machte niemandem etwas aus. Ein wenig mulmig war mir wegen der Sprengkraft der Feuerwerkskörper schon zumute, aber der Reiz des Verbotenen überlagerte letztlich alles. Holger drehte die Lunten von drei D-Böllern zusammen und verlängerte sie mit zwei weiteren Lunten bereits geöffneter Böller. Dann schickte er Gerd und mich los, um Hundehaufen zu sammeln. »Mindestens drei ordentliche Kavenzmänner«, meinte er. Bernd sollte eine Bild-Zeitung oder Ähnliches aus dem Müll holen. Wir fanden im Keller einen kleinen Plastikeimer und eine ­Blumenschaufel. Ich rannte mit Gerd los.

Damals durften Hunde ihr Geschäft noch unbehelligt am Straßenrand verrichten. Gerd und ich wurden daher schnell fündig: drei granatengroße Stücke Hundescheiße. Mit ausgestrecktem Arm und spitzen Fingern schob Gerd die Schaufel unter die braunen Haufen, um sie dann unsicher in unseren Eimer zu bugsieren. Nachdem wir die prächtigen Gebilde geborgen hatten, musste ich unseren stinkenden Eimer zu Holger befördern. Als wir im Lagebesprechungszentrum Fahrradkeller ankamen, zeigt gerade Bernd Holger seine Beute. Eine Hörzu, eine Hamburger Morgenpost und ein Versandkatalog. Eine Bild-Zeitung war nicht dabei. Holger entschied sich für die Morgenpost. Selbstsicher hielt ich Holger meine Tretminen entgegen, worauf er seine Nase blitzartig aus der Gestankszone drehte und mich des Kellers verwies. »Bring die Kacke bloß raus«, rief er. »Aber perfekte ­Größe!«, gab er noch hinterher. Ich verließ den Keller und wartete vor der Haustür, stolz wie Oskar. Wenig später kamen meine Kameraden aus dem Fahrradkeller. Holger erläuterte seinen Plan noch einmal, wir anderen grinsten, nickten und zogen gespannt in Richtung Reihenhäuser – bewaffnet mit drei zusammengedrehten D-Böllern, der alten Morgenpost, der Blumenschaufel und den vor sich hin muffelnden Kavenzmännern.

Wenige Meter vor unserem Einsatzort lag eine Gemeinschaftswiese, begrenzt von einer mannshohen Buchenhecke, die uns hervorragend vor unerwünschten Blicken schützte. Wir bezogen dahinter Stellung und bereiteten uns vor. Bernd zerknüllte einige Seiten der Morgenpost, aus denen Holger dann kunstvoll eine Wanne zusammenfügte. Anschließend durfte ich Holger den Eimer mit den verdauten Chappi- und Frolic-Mahlzeiten reichen. Er bediente sich mit der Schaufel und legte vorsichtig einen stinkenden Haufen nach dem anderen in das Papier. Dabei wog er die Wanne immer wieder in seinen Händen, um ihre Tragfähigkeit zu prüfen. Er hörte erst auf, sie weiter zu befüllen, als er der Meinung war, mehr Gewicht könne die Operation gefährden. Nun bohrte er die zusammengebundenen Böller in die breiige Hundescheiße und betrachtete sein Werk. Es stank bestialisch, sah aber erheblich kunstvoller aus als die Papierdrachen, die wir im Werkunterricht gebaut hatten.

»Wer macht ’s?«, fragte Holger in die Runde und blickte uns der Reihe nach an. Keiner machte Anstalten, sich zu melden. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich hatte die Hosen gestrichen voll, wollte aber gern zeigen, dass ich dazugehörte.

»Einer muss, anders geht ’s nicht!«, mahnte Holger.

»Ich!«, schoss es aus mir heraus. »Ich mach ’s!« Ich konnte kaum glauben, was ich soeben übereifrig von mir gegeben hatte.

»Okay!«, übertönte mich Holger. Mir war übel und das hatte nichts mit dem Gestank der Hundescheiße zu tun. »Dann machen ’s wir beide!«

Er wiederholte noch einmal den Ablaufplan und dann ging es los. Holger hob die Morgenpost-Hundescheiße-­Böller-Atombombe vorsichtig an und schlich an der Hecke entlang. Wir anderen folgten ihm leise, bis wir bei Haus g angekommen waren. Durch die schneeweiße, im oberen Bereich verglaste Haustür drang ein Lichtschein aus dem Flur ins Dämmerlicht des Winternachmittags. Auch bei den umliegenden Straßenlaternen flackerten nun die Beleuchtungen auf. Gerd und Bernd zogen ein paar Büsche auseinander, sodass in der ­Hecke ein schmaler Durchlass entstand. Ich lugte hindurch und überprüfte, ob der Weg rechts und links frei von Zeugen oder Feinden war. Dann gab ich das Zeichen, dass alles klar war, und schlüpfte durch die Hecke. Holger folgte. Die Haustür zu Haus g lag maximal fünf Meter von uns entfernt: vier Meter Plattenweg, drei Stufen, Waschbetonpodest mit Gitterrost. Ängstlich und aufgeregt schaute ich mich jede Sekunde um – keine Menschenseele war zu sehen. Wir schlichen voran. Im Haus, im erleuchteten Flur regte sich nichts. Kurz bevor ich die Haustür erreichte, konnte ich durch die verglasten Kassetten zwei Paar Schuhe erkennen, die auf einer Fußmatte abgestellt waren. An der linken Wand hing eine Garderobe mit dunklen Mänteln. Den Fußboden bedeckte helle Teppichauslegeware. Holger setzte die stinkende Hundescheiße-Bombe vorsichtig auf dem Gitterrost etwa 50 Zentimeter vor der Haustür ab und fingerte ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche. Er versuchte, das Ende der verlängerten Lunten zu entzünden, doch der Wind löschte die Flamme immer wieder. Ich bekam langsam Panik. Am liebsten wäre ich weggerannt, doch dann entzündeten sich endlich die Lunten in orange-rote Funken.

»Jetzt!«, schrie Holger und ich drückte den Klingelknopf.

Schon tauchte im Haus am Ende des Flurs ein Schatten auf. Ich hechtete Holger, der die Hecke schon beinahe erreicht hatte, hinterher. Wie abgesprochen hatten Gerd und Bernd wieder einen Durchlass in die Hecke gezogen, durch den Holger und ich nun nacheinander durchschossen, um unmittelbar nach der Landung Schutz in der Dunkelheit direkt hinter dem Gebüsch zu suchen und am Boden liegend das Geschehen zu beobachten. Herr Haus g hatte die Haustür gerade einige Zentimeter geöffnet, als die Funkenwut der Lunten in einen ohrenbetäubenden Knall überging und die präparierten Hundescheiße-Haufen über – so schien es uns – ganz Norddeutschland verteilt wurden. Die eben noch weiße Haustür war schmutzig braun gesprenkelt, ebenso Brief­kasten und Klingelknopf. Eine ordentliche Ladung war auch auf Herrn Haus g gelandet, hatte ihn allerdings nur halb­seitig getroffen, da die Tür ihm teilweise noch Schutz geboten hatte. Hunderte von Scheißespritzern schossen in unsere Schutzhecke, einige auch hindurch, sodass wir eine – wenn auch recht geringe – Streuladung abbekamen. Frau Haus g stürmte kreischend in den Flur. »Diese Drecksbande!«, schrie sie, als sie das neue Muster an ihrer rechten Flurwand, an der Klotür und im Teppichboden erkannte. »Klaus! Schnapp dir diese Idioten!«, trieb sie ihn an. Herr Haus g sprang in seine bereitstehenden Schuhe, warf sich einen Mantel über und stand gleich darauf an der Hecke – uns genau gegenüber. Seine Schuhe hatten den Anschlag scheißefrei überstanden und glänzten keinen Meter von mir entfernt im Laternenlicht.

Wir lagen leichenblass, leichenstill, leichengleich hinter der Hecke auf dem Boden. Jeder von uns hatte unglaubliche Angst, obwohl wir uns liebend gern schlappgelacht hätten. Frau Haus g rief ihrem Mann Anweisungen zu, als Herr Haus g begann, unsere Schutzhecke auseinanderzuziehen und, soweit es ihm möglich war, hindurchzusehen. Es gelang ihm nicht wirklich. Dann hörte ich Frau Haus g aus dem Haus kommen mit Worten, die uns die reine Panik einflößten: »Hier, nimm die Taschenlampe!« Herr Haus g versuchte erneut, einen Spalt in die Hecke zu ziehen, und nun half ihm Frau Haus g dabei. Schon fiel ein tagheller Lichtschein auf Holgers rote Jacke und die weißen, wie Leuchtraketen reflektierenden Streifen von Gerds neuen Sport­schuhen.

»Ich hab sie!«, schrie Herr Haus g.

Mittlerweile öffneten sich die Türen weiterer Reihenhäuser, unter anderen unsere. »Was ist denn hier los?«, hörte ich die Stimme meines Vaters.

»Weg!«, schrie Holger und wir rannten über die Gemeinschaftswiese fort von unserer Reihenhauszeile. Wir schlugen Haken wie Karnickel, sprangen über Zäune und flache Hecken der nächsten Grundstücke, schossen durch die Gärten. Drei oder vier Erwachsene versuchten, uns zu folgen. Sie brüllten uns Schimpfwörter hinterher, die wir Kinder niemals hätten straffrei äußern dürfen, sodass sich immer mehr Haustüren und Fenster öffneten. Im Augenwinkel sah ich Holger und sprintete ihm nach. Wir peitschten über die Straße und erreichten atemlos, aber unversehrt unseren Rumgammel-Scheiße-verzapfen-Fahrradkeller. Keine zwei Minuten später traf Gerd erschöpft ein, nach weiteren fünf Minuten auch Bernd. Wir waren begeistert von unserer Aktion und blieben so lange im Fahrradkeller, wie jeder von uns draußen sein durfte. Wir feierten unsere erfolgreiche Operation und erzählten uns das Erlebte in allen Einzelheiten immer wieder von Neuem.

Als ich dann glücklich und pünktlich nach Hause kam, fragte mich mein Vater, wie mein Tag gewesen sei. Ich antwortete: »Och, war ganz lustig. Wir waren im Fahrradkeller.«

»Hättest mal lieber hierbleiben sollen! Hast ganz schön was verpasst!«

»Echt? Erzähl mal!«

Muttis Bester

Подняться наверх