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Stau

Die erste Hälfte der Sommerferien war kühl und verregnet gewesen, aber nun endlich stand die Sonne gleißend am Himmel. Eines Morgens klingelte ich Jörg schon vor neun Uhr aus dem Bett und nötigte ihn, mit mir zum Bach zu gehen. Der kleine Bach entwässerte die Felder, die östlich unserer Siedlung lagen, floss am Freibad vorbei bis zum Ortskern und bildete die Grenze zum nördlich gelegenen Rahlstedt-Großlohe. Jörg und ich trabten die Nebenstraße herunter, überquerten die Ringstraße und bogen in eine Sackgasse ab. Vom Ende der Straße aus sahen wir bereits, was ich erhofft hatte: Der Bach rauschte wie ein richtiger Fluss und tröpfelte nicht – wie sonst oft – als Rinnsal dahin. Wenn es wie in diesem Sommer lange regnete, füllte sich er bis zum Ufer, das einen halben Meter oberhalb des normalen Wasserpegels lag. An diesem Tag gab es sogar schon überflutete Uferbereiche. Wo der Bach sein Bett verlassen hatte, war er auf eine Breite von mindestens zwei Metern angeschwollen.

»Da kannste ja drin baden!«, staunte ich.

Wir sprinteten einen sandigen Trampelpfad entlang, folgten ihm dem Bachlauf hinab bis zum Freibad und kontrollierten immer wieder den Wasserstand.

»So voll war der noch nie!«, stellte Jörg fest.

Auch in der anderen Richtung bot sich uns der gleiche Anblick: Der Bach war voll bis zum Ufer! Wir setzten uns auf einen Findling und betrachteten die Wassermassen.

»Mann, Alter! Wo kommt das alles her?«, fragte ich.

»Keine Ahnung! Von Feldern, Wiesen, von oben. Was weiß ich?«

»Kann der überlaufen? Ich mein: richtig überlaufen?«, bohrte ich nach.

»Glaub nicht. Er fließt ja in das Flüsschen im Ortskern und das ist größer!«

»Wie größer?«

»Na ja, das kann mehr Wasser aufnehmen und so fließt das dann ab – oder so!«

»Wir sollten ihn aufstauen!«, rief ich aus.

»Warum? Der ist doch schon randvoll!«, entgegnete Jörg erstaunt.

»Mal sehen, wie breit er noch wird!«

»Und wo? Und womit?«

Jörg stellte sich auf unseren Stein und hielt in alle Richtungen Ausschau.

»Da ist was!«, rief er, sprang vom Stein und lief ein paar Meter den Pfad zurück. Aus einem Dickicht am Rand ­eines Kornfelds zerrte er ein Stück Wellblech hervor, etwa ­einen Meter breit und anderthalb Meter lang.

»Wird das damit was?«, fragte ich.

»Denk schon, wird geil. Wir probieren ’s beim Wehr!«, grinste Jörg und zog das Blech hinter sich her.

Ich lief zu ihm und packte das Teil mit an. Wir quälten uns den Pfad hinauf in Richtung der angrenzenden Reihenhäuser und stoppten an einem Wehr aus roten Ziegelsteinen, das den Bach nur wenige Meter vor dem Freibad überspannte. Es war etwa einen Meter höher als der Uferrand und reichte bis zu drei Meter in den Uferbereich hinein. Der Durchlass für den Bach war halbrund und die heranrauschenden Wassermassen füllten ihn bis auf wenige Zentimeter aus.

»Das packen wir davor!« Jörg deutete auf das Stück Wellblech und dann auf den Durchlass. Wir kletterten aufs Wehr, packten das Wellblech und bewegten uns seitlich auf die Mitte zu. Das Wasser rauschte direkt unter unseren Füßen tosend durch das Nadelöhr und spritze gegen das gemauerte Hindernis. Unsicher und langsam ließen wir das Wellblech in die uns entgegenstürzende Flut am Wehr herab. Kaum hatte das Wellblech die Wasserkante erreicht, wurde es mit enormer Kraft gegen das Wehr gepresst. Wir drückten es weiter nach unten. Ein kreischendes Geräusch heulte auf. Mit letzter Kraft schafften wir es, das Blech etwa einen halben Meter tief in die Fluten zu drücken, aber es ragte noch mindestens dreißig Zentimeter über das Wehr hinaus. Der Flutspiegel stieg augenblicklich an. Jörg tippelte über das Wehr ans gegenüberliegende Ufer und wieselte im Dickicht herum.

»Was hast du vor?«, rief ich in seine Richtung.

»Wir brauchen Hilfe!«, rief er zurück. »’ne Gehwegplatte oder ’nen Ast!«

Ich stand gebannt auf dem Wehr und beobachtete mit mulmigem Gefühl den stetig steigenden Flutpegel. Nach wenigen Minuten kam Jörg mit zwei kurzen, aber kräftigen Ästen in den Händen zurück. Er drückte mir den längeren Ast in die Hand und deutete aufs Wellblech. »Schlagen! So doll du kannst!«

Wir prügelten wie von Sinnen auf die überstehende Kante des Wellblechs ein. Die Folge waren diverse Dellen im Blech, aber es gelang uns, das Hindernis noch etwa zehn Zentimeter tiefer in die Fluten zu treiben. Mehr war nicht möglich. Der Flutpegel stieg nun schneller an. Viel schneller, als uns lieb war. Das Wasser wütete keine 50 Zentimeter unter uns, seine gierige Gischt klatschte gegen das Wehr, was uns die eine oder andere Dusche einbrachte.

»Hey, spinnt ihr?«, schallte es vom Garten des gegenüberliegenden Reihenhauses. Der kreischende Lärm des Wellblechs hatte den Eigentümer alarmiert, der – die Hände in seine Hüften gestemmt – ziemlich griesgrämig an seinem Gartenzaun stand.

»Lass uns abhauen!«, forderte ich Jörg auf. Mittlerweile hatte ich doch richtig Schiss. Jörg ging es ähnlich. Ohne ein Wort wandte er sich vom Anwohner ab und schob sich eilig über das Wehr. Ich folgte ihm. Auf der anderen Uferseite angekommen erkannten wir, dass sich vor dem Wehr schon ein See gebildet hatte. Das Wasser staute sich auf einer Breite von mehr als fünf Metern und schwappte über die Absperrung. Nur wenige Zentimeter des Wehrs waren noch zu sehen. Der Pegel stieg und stieg.

»Wir saufen hier gleich ab! Macht das Wehr wieder auf!«, brüllte der Besitzer des Reihenhauses, sprang über seinen Zaun und rannte auf das Wehr zu.

»Nix wie weg!«, rief Jörg und schlug sich hinter das ­Dickicht. Ich flitzte hinterher. Wir rannten fluss-, nein stromaufwärts. Nach etwa hundert Metern bogen wir in einen schmalen Pfad ein, der wieder zum Bach führte. Kurz vor dem Bach, nein Fluss – nein Strom erreichten wir eine schon weitgehend überflutete Lichtung und rangen nach Luft. Nur der etwas höher gelegene Bereich war noch trocken! Wir bezogen Posten hinter Büschen und Bäumen und lugten zwischen zwei Trauerweiden hindurch zum Wehr, zu den Reihenhausgärten und zum Sackgassen-Parkplatz. ­Einige Erwachsene standen mittlerweile neben dem Wehr im trockenen Bereich und riefen dem Anwohner, der wie wild am Wellblech zerrte, kluge Ratschläge zu. Für uns sah es so aus, als stünde der Griesgram auf dem Wasser. Das Wehr war nicht mehr zu erkennen, nur das verbeulte Wellblech lugte wenige Zentimeter aus einem mittlerweile schon sieben ­Meter breiten See. Selbst das ­Dickicht am Ufer schien in den Fluten zu versinken. Auf dem Parkplatz am anderen Ufer gegenüber von unserem Versteck bekamen ein Renault R4 und eine 2-CV-Ente schon nasse Füße. In unser mulmiges Bauchgefühl mischten sich Freude und Stolz.

»Ist das geil!«, meinte Jörg.

»Der Oberhammer!«, pflichtete ich bei.

Der Anwohner zerrte gemeinsam mit einem anderen Mann unaufhörlich am Wellblech – erfolgreich, wie wir zu unserer Enttäuschung feststellten.

Tatütata! Tatütata! Tatütata!

Ein Polizei- und drei Feuerwehrfahrzeuge kamen nahezu gleichzeitig die Sackgasse hinunter. Ohne ein Wort sprangen Jörg und ich auf und rannten im Schutz der umliegenden Kornfelder zur Straße, um schnellst­möglich nach Hause zu kommen. Doch auf halbem Weg stoppten wir abrupt! Ein Streifenwagen kam uns entgegen.

»Abhauen!«, schoss es mir durch den Kopf.

»Ganz ruhig!«, sagte Jörg, der meinen stummen Schrei offenbar wahrgenommen hatte. Wir lehnten uns so lässig wie möglich auf einen Metallbügel, der eine Unterführung sicherte. Der Polizeiwagen stoppte direkt hinter uns.

»Hey, Jungs!«

Ich wagte es kaum, mich umzudrehen. Jörg war locker.

»Was gibt ’s, Herr Wachtmeister?«, fragte er freundlich, als würde er sich freuen, alle Fragen zu beantworten. Mir stockte das Blut in den Adern. Wann immer ich mit der Polizei zu tun hatte, war ich wie ferngelenkt. Ob ich nun etwas verzapft hatte oder nicht!

»Ward ihr am Bach und habt ihn aufgestaut?«

»Nö«, log Jörg ungeniert, »wir warten auf meine Eltern, wollen schwimmen gehen!«

»Habt ihr zwei Jungs gesehen, die am Bach rumgelungert haben?«, fragte der Beamte weiter.

»Nee, aber eben waren hier zwei Typen! Die sind da lang gerannt!« Jörg nickte in Richtung Großlohe.

»Wie alt, wie sahen die aus, was hatten die an?« Der Polizist witterte eine Fährte.

»Keine Ahnung. Normal, wie wir eben!«, legte Jörg nach. Mir wurde übel.

Der Streifenwagen raste mit quietschenden Reifen in die von Jörg angedeutete Richtung davon.

»Alter!« Ich musste kotzen.

Wir nahmen den befestigten Fußweg, um nach Hause zu kommen. Am Bach entlang zurückzulaufen, wär zwar reizvoller gewesen, aber das hätte meinem gebeutelten Magen wohl arg geschadet.

Muttis Bester

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