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Bismarck lebt!

Die letzte Woche meiner Grundschulzeit war angebrochen. In Kürze würden eine neue Schule, neue Lehrer und neue Mitschüler mein Leben begleiten. Jeder von uns wusste, auf welche Schule der andere künftig gehen würde. Obwohl ich in meiner Klasse keine echten Freunde hatte, lag Wehmut im nahenden Abschied. Immerhin zwölf Schüler aus meiner Klasse hatten eine Empfehlung fürs Gymnasium, aber nur sechs von uns, vier Mädchen, Jörg und ich, wechselten dorthin.

Seit dem Seilspringen mit Juliane hatte ich mich bei Gerd, Bernd und den anderen nicht mehr blicken lassen. Auch den Bolzplatz mied ich, ebenso die Wiese hinterm Teich. Dafür hatte ich mich mit Jörg fester angefreundet. Jörgs rechtes Bein war zwei Zentimeter kürzer als sein linkes. Wenn er barfuß unterwegs war, setzte er den rechten Fuß nicht flach auf, sondern nur seinen Ballen. Bei seinen Schuhen war die Sohle seines rechten Schuhs zwei Zentimeter dicker als die des linken. Jörg war Sportschütze im Schützenverein, wo er mit dem Luftgewehr seines Vaters schoss. Als Belohnung für die Gymnasialempfehlung sollte er noch in den Sommer­ferien sein eigenes Luftgewehr bekommen. Jörg war auch ein exzellenter Schwimmer. Wie ich besaß er den Frei-, den Fahrten- und den Jugendschwimmschein. Wann immer sich die Gelegenheit bot, duellierten wir uns. Meist gewann Jörg. Und er war ein begeisterter Modell­bauer. Unmengen von Kriegsmodellen lagerten in seinem Kinderzimmer: ­Flugzeuge, Panzer, Kriegsschiffe. Keines seiner Modelle hatte er bemalt – eine silbrig-graue Armada aus Plastik.

»Willste auch mal?«

Nach Schulschluss war ich mit zu Jörg gegangen. Seine Eltern arbeiteten beide, wie auch meine. Wir waren also Schlüsselkinder und meist unbeaufsichtigt.

»Darf ich, echt?«

»Klar!«

Ich stand neben Jörg im Kellerflur. Er hatte soeben eine 9 getroffen, zuvor eine 11 und eine 8. Jörg knickte den Lauf des Luftgewehrs ab, schob einen neuen Flachkopf hinein und bog den Lauf wieder zurück, bis er hörbar einrastete. Dann reichte er mir die Waffe, die Mündung des Laufs hielt er nach unten. Aufgeregt übernahm ich das Luftgewehr.

»Nicht rumfummeln, sonst schießt du mir noch den Arsch weg!« Jörg ging durch den Kellerflur in den angrenzenden Raum, an dessen hinterer Wand in einem Kugelfang die Zielscheibe steckte. Er tauschte die durchlöcherte Scheibe gegen eine neue aus und kam zurück.

»8, 9, 11!«, bestätigte er mit Blick auf die Scheibe. »Und jetzt du. Kimme, Korn, Druckpunkt und … Feuer!«

»Kimme was?«

Jörg schob meinen rechten Arm und den Gewehrkolben auf die Höhe meiner Wange und in Richtung des Ziels.

»Das ist die Kimme!«, er deutete auf eine v-förmige ­Visiereinrichtung am Anfang des Laufs. »Das ist das Korn.« Jörg zeigte auf eine weitere Visierung an der Mündung. »Wenn du durch die Kimme siehst, dann ist das Korn dein Ziel, das heißt, das was sich dahinter befindet. Kapiert?«

»Ne!«

»Okay! Wenn du durch das V guckst und da drin den Strich des Korns siehst und dahinter die 12 der Zielscheibe, dann drückst du ab. Klar?«

»Jo!« Ich hob den Lauf, visierte die Zielscheibe an und drückte ab … Peng! Die Kugel traf die Schranktür etwa anderthalb Meter neben der Zielscheibe. Der Schuss hatte sich viel zu schnell gelöst.

»Scheiße, ey!«, kreischte Jörg. »Erst zielen und dann abdrücken!«

»Hatte ich vor!«, rechtfertigte ich mich. »Ging aber ­irgendwie so leicht. Kann ich ’s noch mal probieren?«

Jörg nahm mir das Gewehr ab, lud es erneut und gab es mir wortlos zurück. Ich zielte, konzentrierte mich, zielte erneut, zielte noch mal und noch mal und noch mal und drückte dann ab. Peng! Sofort sah ich nach, ob ich wieder ein Möbelstück beschädigt hatte. Nichts! Un­sicher sah ich zu Jörg. Er grinste.

»Stark, Alter! Ne 11!«

Jetzt sah auch ich das beinahe zentral gelegene Loch in der Zielscheibe. Gemeinsam gingen wir zum Kugelfang. Tatsächlich! Der schwarze Ring der 11 war gerade eben angekratzt, aber das würde zählen, meinte Jörg. Diesen Nachmittag ballerten wir noch ewig auf die Scheiben und verbrauchten die gesamte Munition in der bereitstehenden Dose. Immer abwechselnd, jeder drei Schuss. Ich hatte nicht nur riesigen Spaß, sondern erzielte auch dauerhaft ordentliche Resultate.

Von da an trafen wir uns immer häufiger zum Schießen, aber eines Tages während der Sommerferien wollte sich kein richtiger Spaß mehr einstellen. Schon bald stellten wir den Schießbetrieb ein und gingen in Jörgs Zimmer. Wir langweilten uns, bis Jörg anfing, seine ­Modellbau-Kollektion zu sichten. Schon nach wenigen Sekunden standen acht Modelle auf seinem Schreibtisch: fünf kleine Panzer, ein Schlachtschiff und zwei kleinere Flugzeuge. Er drückte mir die Panzer in die Hand, nahm selbst das Schlachtschiff und die Flugzeuge und sagte nur: »Komm!«

Ich wackelte ihm in den Keller hinterher und ahnte, was nun kommen würde. Jörg entfernte die Zielscheibe aus dem Kugelfang und platzierte darin einen der Panzer. Dann lud er das Luftgewehr und feuerte. Der drehbare Turm des Modellpanzers samt dem daran befindlichen Kanonenrohr wurde in Sekundenbruchteilen in zig Einzelteile zerlegt, die sich über den gesamten Boden des Kellerraums verteilten.

»Geil!« Ich war beeindruckt.

Jörg reichte mir wortlos die Knarre. Ich lud, zielte – und schon verabschiedete sich der Rest des Modells aus dem Kugelfang. Da war es wieder! Das Gefühl, Verbotenes zu tun, Scheiße zu bauen. Nachdem wir sämtliche Panzer zerlegt hatten, befestigten wir ein Modellflugzeug mithilfe einer Angelsehne an der Deckenleuchte des Kellerraums. Ich gab dem Flugzeug einen Stoß, sodass es sich taumelnd hin und her bewegte. Jörg setzte den ersten Schuss. Die Kugel traf den Flieger an einer Tragfläche und riss ein winziges Stück heraus. Doch die Wucht des Aufpralls der Kugel gab dem Modell einen solchen Drall, dass es um seine eigene Achse wirbelte. Jörg lud schnell nach und reichte mir die Waffe. Ich hatte ­einige Mühe beim Zielen, drückte dann aber doch ab. Ein metallischer Knall erklang, dann klirrte es. Das Flugzeugmodell drehte unbeeindruckt seine Pirouetten. Jörg und ich sahen uns fragend an.

Ich stellte das Gewehr ab und wir stürzten in den Kellerraum. Am Metallrahmen des Fensters, das in Schussrichtung lag, war etwas Farbe abgeplatzt, aber an der gegenüber­liegenden Wand troff eine rote Flüssigkeit an der Tür eines Schranks herunter. Ich erschrak: Blut!

»Nicht so wild«, meinte Jörg, der die Situation schnell erfasst hatte. »Das merkt keiner!«

Die Kugel meines Schusses war auf irrwitzige Weise am Kasematten-Fensterrahmen abgeprallt und hatte dann als Querschläger ein Glas mit eingelegten Kirschen getroffen. Roter Kirschsaft rann aus einem Riss. Jörg entsorgte das beschädigte Glas in der Mülltonne seiner Nachbarn, während ich sämtliche Saftspuren beseitigte und den bis dahin angefallenen Modellkriegsschrott zusammenfegte. Die Schlacht von Rahlstedt-Ost konnte weitergehen! Wir versetzen dem nahezu unbeschädigten Modellflugzeug einen erneuten Stoß und schon schlug ein Projektil, von Jörg abgeschossen, ­darin ein. Die Kanzel wurde zerfetzt und der Rest von der Angelsehne getrennt. Das Modell stürzte ab, prallte auf dem Fliesenboden des Kellerraums auf und zerbrach in Hunderte Stücke. Einzig der Propeller des Fliegers tanzte noch unter der Decke.

»Phänomenal!«, kommentierte Jörg seinen Treffer und die Folgen. »Das war ja wohl wie im echten Krieg, oder? Ich glaub, ich geh später zum Bund!«

»War voll stark, Volltreffer!«, bewunderte ich ihn.

Das Modellkriegsschiff, es war die Bismarck, war mindestens einen halben Meter lang. Seine Vernichtung durch die Offensive Rahlstedt-Ost sollte den Krieg auf spektakuläre Weise entscheiden und der Untergang der Bismarck, so beschloss Jörg, den würdigen Sieger ehren. So sah unser Plan aus: Jörg sollte im Kellerflur auf den Fliesen liegend den Durchgang zum Kellerraum anvisieren. Meine Aufgabe bestand darin, mithilfe eines Besens und geschützt von der Kellerwand die Bismarck in sein Blickfeld schieben. Ein gezielter Schuss auf den Rumpf des Bugbereichs sollte das Schiff zerstören. Gesagt, getan! Ich stellte das Modell auf die Fliesen, kniete mich – das Schiff vor mir – außerhalb von Jörgs Sichtbereich hinter die Bismarck auf den Boden und schob das Schiff langsam in den Durchgang. Ein Schuss krachte, ein zweiter – und dann folgte … ein Schrei.

Mein Schrei!

Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen linken Knöchel. Tränen schossen mir in die Augen und strömten über mein Gesicht. Sofort untersuchte ich meinen Knöchel – auf das Schlimmste gefasst. Jörg stand mittlerweile leichenblass neben mir, das Luftgewehr in seiner rechten Hand. Ich schob meine Socke herunter und dann sah ich es! Nur eine Rötung! Auch wenn mein Knöchel höllisch wehtat, das Projektil hatte meinen Körper nicht durchbohrt. Die Bismarck war unbeschädigt, deshalb vermuteten wir, dass das Projektil direkt vor ihrem Bug auf einer Fliese aufgeschlagen und gegen die hintere Wand geprallt war und so als Querschläger meinen Knöchel getroffen hatte. Einige Minuten später war der Schmerz wieder erträglich. Wir räumten auf, beseitigten alle Beweismittel und taten so, als sei nichts geschehen. War es ja auch eigentlich nicht. Und die Bismarck lebte auch noch!

Ein Luftgewehr fasste ich während der Sommerferien 1973 übrigens nicht mehr an.

Muttis Bester

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