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Pille platt

1973 begannen die Frühjahrsferien schon Mitte März. Hamburg war mal wieder das erste Bundesland, in dem die Schulferien eingeläutet wurden. Die letzten Tage des Winters und die nun anbrechenden Frühlingstage waren trocken und warm, teilweise stieg das Thermometer auf knapp 20 °C. Die Älteren wie Holger, Gerd und Bernd hielten meist den Sportplatz unserer Schule besetzt, sodass wir Jüngeren auf unsere Gemeinschaftswiese auswichen, um Fußball zu spielen. Die Wiese lag zwischen der ersten Reihenhauszeile der Straße, in der ich wohnte, und der ersten Zeile der parallel verlaufenden Nebenstraße. Die etwa 40 Meter lange und 20 Meter breite Fläche trug die Bezeichnung Gemeinschaftswiese zu Recht: Diverse Grillabende, Sportaktivitäten, Iglu-Bauwettbewerbe im Winter oder Aufräumaktionen im Frühjahr hatten auf ihr bereits stattgefunden. Sie war Treffpunkt für Kinder, Eltern und Großeltern, Verwandte und Freunde. Wir waren gut 20 Familien und Dutzende Kinder rund um die Wiese, unsere Wege kreuzten sich häufig eben dort – vielleicht nicht wie bei einer großen Familie; auf jeden Fall aber wie in einer ­großen Gemeinschaft.

Nur hatte auch diese Gemeinschaft Dauer-Nörgler! Und diese ließen sich ruck, zuck lokalisieren! Zunächst waren da in der zweiten Reihe in meiner Straße die Bewohner des Reihenendhauses, das an die Südseite der Gemeinschaftswiese grenzte. Das Lehrer-Ehepaar war in den Ferien meist im Italien-Urlaub. Zumindest in dieser Zeit blieb das andauernde Gemecker aus, das es wegen der Bälle, die über ihren Zaun flogen und in ihre Blumenbeete einschlugen, anstimmte. Außerhalb der Schulferien saß Herr Lehrer bei gutem Wetter meist auf seiner Terrasse und las das Hamburger Abendblatt. Frau Lehrerin hörte gern etwas lauter Musik und pfiff oder trällerte dann einige Lieder mit. Herrn Lehrer war dies wohl unangenehm, da sie nicht alle Töne sauber traf, oder es störte ihn beim Lesen. Denn dann erhob er sich häufig und drückte seine Terrassentür ins Schloss, um die Lautstärke ihrer Darbietungen zu dämpfen. Wenn meine Großeltern uns besuchten und das Gepfeife von Frau Lehrerin mitbekamen, reimte mein Großvater immer: »Frauen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, denen sollte man beizeiten die Hälse umdrehen.«

Das Reihenendhaus der Nebenstraße an der Längsseite der Gemeinschaftswiese wurde von einer Familie bewohnt, die uns allen unsympathisch war – die nächsten Außenseiter. Dort lebte ein etwa zehnjähriger, dicker, kalkweißer Junge, mit dem nie jemand gespielt hatte, der immerzu zu Hause hockte und nur gelegentlich mit dem Fahrrad zum Kiosk an der Bushaltestelle fuhr. Am Lenker seines alten Klapprads baumelte hinzu schlaff ein rotblau karierter Einkaufs­beutel, der bei seiner Rückkehr stramm gefüllt und klingend die transportierten Flaschen verriet. Warum musste der Junge einkaufen? Und warum beim Kiosk? Die Mutter des Kalk­eimers, so nannten wir ihn, war groß, korpulent, ebenfalls kalkweiß und hatte schwarze, lange, stets fettige Haare. Sie lief sommers wie winters in langen, dunklen Kleidern und in schwarzen, flachen Schuhen herum. Ich hörte sie nur selten sprechen und konnte ihr Alter nicht einschätzen, irgendwas zwischen 40 und 60. Kalkeimers Vater war klein, dick und etwa 40 Jahre alt. Niemand aus der Siedlung wusste, welcher beruflichen Tätigkeit er nachging. Mal saß er vormittags auf seiner Terrasse, mal kam er erst abends nach Hause, mal war er auch am Wochenende unterwegs. Wir tippten auf Schichtdienst. Ein mehr oder weniger weißes Unterhemd verhüllte seine Plauze und eine kurze schwarze Turnhose sein Gesäß. Seine grau besockten Füße steckten in immer gleichen braunen, vorn geschlossenen Sandalen. Trotz der leichten Bekleidung nahm auch seine helle Haut im Sommer nahezu keine Farbe an. Er war der Meckerpott der Siedlung: »Hört auf, Fußball zu spielen!«, »Kein Lärm in der Mittagsruhe!«, »Feiert woanders! Es gibt Leute, die sich erholen möchten!«, »Kreischt nicht so! Warum müsst ihr schon so früh rumlärmen!« Unser Spitzname für ihn: »Schweinebauch!« Diese Familie nahm nie an irgendwelchen Festivitäten oder Aktionen auf unserer Wiese teil, fand aber immer etwas zu meckern. Schon kurz nach ihrem Einzug in die Nebenstraße hatte sie ihr gesamtes Grundstück mit Thuja­lebensbäumen eingefriedet, sie gehegt und gepflegt, gedüngt und gegossen. Die Thujahecke wuchs raketengleich in den Himmel, sodass das Grundstück schon wenig später kaum noch einsehbar war.

Die dritten Nerv-Faktoren wohnten im mittlerweile wieder kackebefreiten Haus g in unserer Zeile. Obwohl Herr Haus g gar nicht so ein Arschloch war. Er half sehr engagiert bei Gemeinschaftsarbeiten, übernahm häufig die Aufsicht über den Grill und spielte überragend gut Tischtennis.

»Wir haben jetzt Anstoß, okay?«, entschied Bernd, nachdem er meinen neuen Lederball auf den fiktiven Anstoßpunkt unseres Spielfelds gelegt hatte. Niemand widersprach. Bernd eröffnete mit einem Pass zu einem der Nebenstraßen-Zwillinge das Spiel. Die eineiigen Zwillinge gingen in meine Parallelklasse, sie und ihr zwei Jahre älterer Bruder waren Teil von Bernds Mannschaft. Mein Team wurde von meinem Klassenkameraden Jörg, einem nicht allzu talentierten Fußballer mit einer leichten Gehbehinderung, und von Gerd ergänzt. Unsere Tore hatten wir mit Kleidungsstücken markiert, die Seitenlinien stellten jene Hecke, hinter der wir beim Haus-g-Einsatz Deckung gesucht hatten, und die Gartenzäune der Nebenstraßen-Reihenhäuser.

»Hör auf zu ruppen, du Arsch!«, empörte sich Gerd, nachdem Bernd ihm bei einem Abwehrversuch voll in die Gräten getreten hatte.

»Stell dich nicht so an, ist doch kein Schach!«

»Hör auf damit oder ich spiel nicht mehr!«

»Ist ja gut! Reg dich ab!«

Wenige Tage zuvor hatte mir mein Vater abends einen nagelneuen Lederball in die Hand gedrückt: »Hier, viel Spaß damit, aber schieß keine Scheiben ein!« Ich war vollkommen baff. Mein erster Lederball! Weiße Sechsecke und schwarze Fünfecke rund um eine prall gefüllte Luftblase. Keine Ahnung, woher mein Vater den Ball hatte und welchen Grund es für sein Geschenk gab. Weder hatte ich Geburtstag gehabt noch irgendwas ganz Besonderes vollbracht. Egal! Ein echter Profifußball! Bestimmt einer, der auch in richtigen Vereinen, ja, vielleicht in der Bundesliga gespielt würde. Ich fühlte das Leder, roch an dem Ball, tippte ihn einige Male in meinem Zimmer auf und nahm ihn schließlich mit ins Bett.

Am darauffolgenden Tag präsentierte ich den Ball in der Schule meinen Freunden Gerd und Bernd. Sie platzten vor Neid und Bewunderung. Wir bolzten in der Pause und nach Schulschluss auf unserer Gemeinschaftswiese. Der Ball war hart, sehr hart! Es tat mächtig weh, wenn man ihn gegen den Oberschenkel oder ins Gesicht bekam, aber man konnte ihn präzise schießen. Das galt auch für Kopfbälle: Sie zerrten ordentlich an den Haarwurzeln, aber der Ball flog dahin, wohin man ihn haben wollte. Bernd war bis dahin der Einzige in unserer Siedlung gewesen, der einen Lederball besessen hatte – zwar alt und zerschlissen, aber ein echter Lederball! Mein Ball machte mich nun zum unverzichtbaren Mitglied der fußballverrückten Jungsgang unserer Siedlung. Alle möglichen Schüler meiner Schule und auch viele Kinder, die zuvor mit mir nichts am Hut gehabt hatten, fragten nun bei mir an, ob sie mitspielen dürften. Ich hatte mich am letzten Schultag vor den Frühjahrsferien mit meinen Freunden verabredet, um unter verschärften Wettbewerbsbedingungen das Spiel unseres Lebens zu bestreiten. Einwürfe, Ecken, Pässe, Flanken, Volleyschüsse, Freistöße, Elfer – es war herrlich. Wir hatten schon eine knappe Stunde gespielt, als Bernd und ich uns bei einer 8:4-Führung seines Teams einen Pressschlag kurz vor dem Tor lieferten. Mein Ball verschwand in einer bogenförmigen Flugbahn hinter der rund zwei Meter hohen Thujahecke und landete auf Schweinebauchs Terrasse, begleitet von klirrenden und klappernden Geräuschen.

Scheiße!

Der Garten des Reihenendhauses der Familie Schweinebauch-Kalkeimer war einer der wenigen, der keine Pforte zur Wiese besaß. Es gab auch keinen Zugang vom Nachbargrundstück aus. Nur diese Scheiß-Thujahecke, die gab es!

»Oh, nein! Das gibt Ärger!«, sprach Gerd aus, was wir anderen dachten.

Wir pirschten uns an den Jägerzaun und versuchten, durch die Hecke den Ball zu erspähen. Keine Chance! Bernd kletterte über den Zaun des Ewig-in-Italien-Urlaub-Lehrer-Reihenhauses und versuchte, von dort etwas zu erkennen.

»Er liegt direkt an seiner Terrasse!«, berichtete er, als er zur Wiese zurückkam. »Aber die Terrassentür ist auf!«

»Konntest du sehen, was kaputtgegangen ist?«, fragte ich, obwohl ich es lieber nicht wissen wollte.

»Ne, nicht so richtig! Ich glaub, Besteck und ’ne Tasse oder ’nen Teller lagen auf der Terrasse.«

»Ich geh bestimmt nicht klingeln!«, stellte Gerd klar, ohne dass ihn jemand zum Gehen aufgefordert hatte.

Ich musste meinen Ball zurückhaben. Aber klingeln wollte ich auch nicht. Schon gar nicht allein! Aber durch die Hecke kamen wir auch nicht weiter! Und wenn doch, würde es wohl richtig Ärger geben!

»Ich komm mit dir!«, sagte Jörg in meine Richtung.

»Echt?«

»Klaro! Zu zweit ist besser!«

Das machte Mut! Wir flitzten die Gemeinschaftswiese herunter in Richtung Nebenstraße, dann rechts ab bis zum Beginn der Reihenhauszeile, wieder rechts, die ganze Zeile zurück bis zum Ende. Auch von vorn war kein Durchkommen aufs Grundstück möglich: wieder eine zwei Meter hohe Hecke und zudem ein ebenso hohes verzinktes und verschlossenes Gartentor. Also klingelte ich mit klopfendem Herz. Nach einer Weile öffnete sich die Haustür und der grimmig dreinblickende, mit Turnhose und Unterhemd bekleidete kalkweiße Mann kam zum Vorschein.

»Entschuldigung!«, stammelte ich. »Mein Ball ist in ­Ihren Garten geflogen und ich …«

»Pech! Zieht Leine!«, raunzte Schweinebauch mich an.

»Aber wir …«, begann ich, als er mich erneut zurechtwies.

»Haut ab und klingelt hier nie wieder! Verstanden?« Er schlug die Haustür zu.

Entmutigt zogen wir von dannen.

»Die Sau rückt den Ball nicht raus!«, erklärte ich den anderen auf der Wiese.

»Der ließ uns nicht mal zu Wort kommen! Hat uns nur weggejagt!«, ergänzte Jörg.

»Der kann doch nicht einfach die Pille behalten!«, quiekte Gerd empört.

»Wir können die Polente rufen, ihn anzeigen!«, schlug Bernd vor.

»Meinem Vater Bescheid sagen!«

»Meinen großen Bruder und seine Freunde holen!«

»Seine Scheiben einschmeißen!«

»Seine Hecke anzünden!«

An Ideen mangelte es uns nicht. Bedrückt saßen wir im Gras vor der Thujahecke. Ich wollte nur meinen Lederball zurückhaben. Warum musste der Schweinebauch auch immer Theater machen?

»Hey, Jungs! Alles roger?«, fragte Holger, der gerade mit drei Freunden über unsere Wiese auf uns zukam.

Wir beschrieben den großen Jungs unser Problem.

»Gibt ’s ja nicht!«, kommentierte einer aus der Gruppe unseren Bericht ungläubig.

»Und dann jagt mich der Arsch auch noch weg!«, gab ich den Tränen nahe obendrauf.

Holger dachte eine Weile nach und sagte dann: »Gut, wir gehen da jetzt alle gemeinsam hin!«

»Der hat gesagt, ich soll nie wieder bei ihm klingeln!«, brachte ich vor.

»Brauchst du auch nicht! Mach ich!«, sagte Holger grinsend. »Los jetzt!«

Wir 16 Mann – na ja, Männlein – setzten uns in Bewegung. Mir war mulmig zumute. Eine mit Einkäufen bepackte, blonde Frau stand vor der Tür zu Schweinebauchs Nachbarhaus und betrachtete unseren Aufmarsch mit hochgezogenen ­Augenbrauen und offenem Mund. Holger drückte auf Schweinebauchs Klingelknopf. Seine drei Freunde standen hinter ihm auf den Stufen zum Eingang. Wir anderen blieben auf dem Plattenweg dahinter.

Der bleiche, dicke Mann öffnete. »Haut ab!«, schrie er sofort.

Seine blonde Nachbarin starrte nun neugierig zu Schweinebauch.

»Geben Sie unseren Ball wieder raus!«, sagte Holger ruhig, aber bestimmt. »Sonst rufen wir die Polizei!«

»Du Wicht«, brüllte Schweinebauch. »Willst du mir drohen? Ihr zerschießt unser Geschirr und du Würstchen willst mir drohen?« Er grinste Holger überlegen an und ging einen Schritt auf ihn zu. »Dich zermalm ich wie ’ne Wurst!«

Wir anderen standen mucksmäuschenstill hinter Holger und seinen Freunden. Ich hatte Schiss, dass Schweinebauch zulangen könnte. Scheiße! Geschirr zerschossen! Holger wich keinen Deut zurück und sagte mit fester Stimme: »Dann ­haben Sie schon die zweite Anzeige an der Backe!«

Schweinebauch verzog sein Gesicht, ging wieder einen Schritt zurück und drohte: »Bursche! Zieht Leine, sonst kracht ’s!«

Er wollte gerade seine Haustür schließen, als Holger nachsetzte: »Entweder Sie lassen uns unseren Ball holen oder Sie werfen ihn selber zurück auf die Wiese. In zehn Minuten ­rufen wir die Polente!«

»Zieht ab!«, brüllte Schweinbauch erneut, bevor seine Haustür ins Schloss krachte.

Wir atmeten hörbar aus und schlugen langsam den Rückweg ein.

»Mutig, mutig, junger Mann!« Die blonde Nachbarin nickte Holger grinsend zu und schloss ihre Haustür auf. »Mutig, mutig!«

»Du bist echt supermutig!«, bewunderte auch ich Holger, als wir uns wieder ins Gras der Wiese nahe der Thujahecke gesetzt hatten. »Hätt ich mich nicht getraut!«

»Sah nur so aus!«, schwächte Holger ab. »Hatte die Hosen ganz schön voll. Vor allem als er auf mich zukam. Ich dachte, der scheuert mir gleich eine!«

»Ich auch!«, bestätigte ich.

Bernd sah auf seine Armbanduhr: »Noch vier ­Minuten!«

»Du hast die Zeit genommen?«, stellte Holger belustigt und erstaunt fest. »In dieser Situation? Ist ja gediegen!«

»Klaro! Muss doch wissen, wann die zehn Minuten rum sind!«

»Was machen wir, wenn er den Ball nicht zurückgibt?«, fragte ich unsicher.

»Dann holen wir die Polente, logo!« Holgers Anweisung war klar.

Ein mehrmaliges Zischen drang durch die Thujahecke. Kurz darauf flog ein Schatten über unsere Köpfe hinweg und schlug wenige Meter entfernt dumpf auf der Wiese auf. Mein Ball! Platt wie eine Flunder! Ich stürzte zu ihm.

»Die Sau hat ihn zerstochen!«, schluchzte ich, begleitet von einem Tränenschwall.

»Das glaub ich doch nicht!« Holger war empört. »Der will wirklich Krieg!«

»Kommt, jetzt rufen wir die Polente!«, rief einer seiner Freunde aus.

»Moment! Moment!« Holger hob seine Hand, woraufhin alle verstummten. »Er sagte, ihr habt Geschirr zerschossen? Davon habt ihr nichts erzählt!«

Bernd berichtete, was er vom Nachbargrundstück gesehen hatte.

»Keine Ahnung, ob wir das zerschossen haben! Es ­lagen halt Scherben auf der Terrasse!«

»Scheiße!« In Holger rumorte es. »Was kostet so ’n Scheiß-Geschirr?«

»Keine Ahnung!«, wiederholte Bernd.

»20, 30 Mark?«

»Für ’nen Teller und ’ne Tasse? Niemals!«, protestierte Bernd.

»Wie teuer war dein Ball?«, fragte mich Holger.

»Weiß nicht, hat mein Vater mir geschenkt!«

»Okay!«, begann Holger nach einer Weile. »Die Polente wird wohl sagen: Ball kaputt, 20 Mark. Geschirr kaputt, auch 20 Mark. Ihr seid chico!«

»Aber wir können uns doch den Scheiß nicht einfach so von Schweinebauch gefallen lassen!«, protestierte Jörg.

»Ich geh nach Hause!«, sagte ich entmutigt und hob meinen platten Ball auf. »Trotzdem Danke für eure ­Hilfe!« Mit hängenden Schultern und Tränen in den Augen schlurfte ich über die Wiese zum Eingang unseres Hauses.

»Hey, Alter!« Jörg stand hinter mir, als ich unsere Haustür aufschloss.

»Was is?«

»Ich hab ’ne Idee! Wir müssen uns das wirklich vom Schweinebauch nicht gefallen lassen! Komm mit zu mir!«

Meine Wut war riesig. Wie konnte dieses kalk­weiße Miststück meinen nagelneuen Ball zerstechen? Ich hätte ihm was in seinen dicken Bauch stechen können! Nein, vielleicht nicht, aber ihm vors Schienbein treten und dann abhauen oder ihn aus sicherer Entfernung anpöbeln oder anspucken oder … ich war voller Hass und gleichzeitig voll Ohnmacht. Diese Sau! Ich zögerte. Im Grunde wollte ich lieber allein sein. Allerdings wollte ich meinem Vater auch nicht beichten, dass ich Schweine­bauchs Geschirr zerschossen hatte. Zumal er mir ja geraten hatte, keine Scheiben einzuschießen. Porzellan kam Glas wohl ziemlich nahe!

»Okay«, sagte ich, legte meinen platten Ball auf das Telefonschränkchen in unserem Flur und schrieb meinen Eltern einen Zettel, dass ich bei Jörg übernachten würde.

»Meine Alten sind nachher nicht da!«, begann Jörg, als er seine Haustür aufschloss. »Dann ist es stockdunkel und wir marschieren los!«

»Wohin?«

»Na, zum Schweinebauch. Rache nehmen!«

»Spinnst du? Der scheuert uns eine!«

»Ne!« Jörg feixte.

Wie angekündigt verabschiedeten sich seine Eltern später am Abend.

»Wir sind bald wieder da!«, sagten sie noch. Kaum war die Haustür zugezogen, sprintete Jörg schon zur Terrassentür, öffnete sie und rannte in die Dunkelheit zum Gartenhäuschen am Ende des Grundstücks. Kurz darauf kam er grinsend mit einem Fuchsschwanz in seiner Hand zurück in den Lichtkegel der Wohnzimmerbeleuchtung.

»Und nun?«, fragte ich ideenlos.

»Wenn wir schon nicht Schweinebauch drankriegen, dann wenigstens seine Scheiß-Hecke!« Jörg strahlte.

»Willst du sie absägen?«, fragte ich ungläubig.

»Klar! Der hängt doch an seinem Grünzeugs wie Spucke in der Hecke!«

»Du willst sie alle absägen?«

»Vielleicht nicht alle! Aber ein paar an der Wiese!«

»Aber, das wird dauern und Krach machen!«, warf ich ein.

»Nein. Die ist neu und scharf!« Jörg hielt die Zahnung der Säge in die Höhe. »Wir werden die Stämme auch nicht durchsägen, nur ansägen!«

»Aha!?«

»Ja, dann machen sie keinen Lärm, weil sie nicht umfallen. Die Mistdinger verrecken nach und nach! Komm! Lass uns los!« Jörg war voller Tatendrang.

Er schloss die Terrassentür und lief in den Flur.

Wir trabten los.

»Wir haben nur eine Säge!«, stellte ich fest, während wir die Nebenstraße überquerten und den Plattenweg zur Gemeinschaftswiese nahmen.

»Langt!«, wiegelte Jörg ab. »Du stehst Schmiere!«

Die Gemeinschaftswiese war gut beleuchtet, aber der südliche Bereich vor Schweinebauchs Grundstück lag im Dunkeln. Gut so!

»Du passt da vorne auf!«, befahl mir Jörg, hob sich über Schweinebauchs Jägerzaun, verschwand in der Hocke und begann zu sägen. Hier und da war Musik aus den umliegenden Häusern zu hören, eine Frau (diesmal nicht Frau Lehrerin) sang zu Coco von The Sweet mit. Auch Fernsehgeräusche, Stimmen oder Gelächter drangen zu uns durch. Jörgs Sägearbeit hingegen war kaum wahrnehmbar. Es klang eher wie das Schnarchen einer alten Frau oder wie die quietschenden Matratzen meiner Eltern durch die Schlafzimmertür. Gespannt lief ich zu Jörg.

»Wie läuft ’s?«, fragte ich ihn, als ich erkannte, dass er bereits die sechste Pflanze ansägte.

»Spinnst du?«, fauchte er mich erschrocken an. »Hau ab und steh Schmiere!«

Wortlos und ein wenig eingeschnappt bezog ich wieder meinen Posten und sah plötzlich zwei Personen, die maximal 20 Meter von meinem Standort entfernt schnurstracks in meine Richtung marschierten. Ich rannte zu Jörg zurück und wollte ihm die Gefahr melden, doch er hatte mein gehetztes Laufen schon gehört und seine Säge-Aktivität eingestellt. Warnend hielt er seinen Zeigefinger vor seine gespitzten Lippen. Ich verharrte ohne zu atmen in der Hocke vor dem Jägerzaun. Die Schritte der beiden Personen hallten in meinem Rücken den Plattenweg meiner Reihenhauszeile entlang und näherten sich der ersten Laterne. Vorsichtig und lautlos drehte ich mich um. Das Blut stockte in meinen Adern und mein unterdrückter Atem begann zu rasseln. Jörg packte meinen Kragen und drückte seine Hand auf meinen Mund. Seine aufgerissenen Augen starrten mich fragend an. Schweinebauch und seine Frau! Sie, zwei Meter hinter ihm, folgte ihm wortlos und im Stechschritt zur Nebenstraße. Ich traute mich kaum weiterzuatmen. Jörg hielt seine Hand nach wie vor fest auf meinen Mund gepresst. Herr und Frau Schweinebauch bogen rechts in die Nebenstraße ab – außer Sicht! Jörg hievte sich vorsichtig über den Jägerzaun, die Säge in seiner Rechten.

»Nix wie weg!«, flüsterte er eindringlich.

Wir wetzten zur Buchenhecke der Gemeinschaftswiese. Im Schutz ihres Schattens rannten wir zum Parkplatz, überquerten ihn und liefen bis zu Jörgs Haustür.

»Neun!«, frohlockte Jörg.

»Neun hast du angesägt?«, fragte ich aufgeregt.

»Jo! Und die zehnte ’nen bisschen!« Jörg schloss die Tür auf.

»Stark!«

»Und wie …«

»Was macht ihr denn jetzt noch draußen?«, fragte Jörgs Vater empört, keine zehn Meter entfernt. Er erkannte seine neue Säge in Jörgs Hand und setzte einen verkniffenen Gesichtsausdruck auf. »Und was wollt ihr damit?«

»Och, wir waren nur kurz bei seinen Eltern.« Jörg nickte in meine Richtung. »Sein Vater möchte sich eine Säge kaufen und da wollte ich ihm mal kurz deine neue Säge zeigen!«, log er.

»Ach was?! Abends um acht?«

»Wieso seid ihr schon wieder hier?«, wechselte Jörg eilig das Thema.

»Henni hat Kopfschmerzen und Paul kann nicht kochen. Wir verschieben es!«

»Er schläft auch lieber zu Hause!« Jörg deutete in meine Richtung. »Er wollte gerade gehen!«

»Ach, ja?«, fragte sein Vater mich direkt mit hochgezogenen Augenbrauen.

Aha?! Warum informiert Jörg mich nicht vorher über mein angebliches Vorhaben? Hätte er nicht irgendwas andeuten können? Was erzähl ich jetzt meinen Eltern?

»Äh, ja! Ich will dann mal!«, bestätigte ich Jörgs Ver­sion, verabschiedete mich höflich und ging.

Nix wie weg!

»Hallo, mein Junge! War nix mit übernachten?« Mein Vater kam mir im Flur entgegen. Mein Lederball klemmte unter seinem Arm.

Ich stierte auf den Ball und nuschelte: »Ne. Passt heute nicht so!«

»Na ja! Du hast ja dein eigenes Bett! Sag mal: Spielst du eigentlich mit Feuer rum?«

»Was? Nein, wieso?« Mein Vater drückte mir meinen Ball in die Arme. Prall und hart!

»Weil ein abgebrochenes Streichholz in seinem Ventil steckte. Ich hab ’s gezogen und deinen Ball neu aufgepumpt! Okay so?«

»Oberaffengeil!«

»Woher hast du denn den Spruch?«

Ich flitzte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. »Danke! Gute Nacht!«

Konnte man eigentlich Schweinebauchs Hecke wiederbeleben, irgendwie retten? Wir hatten uns meinen platten Ball gar nicht genauer angesehen, weil alle fest davon ausgegangen waren, dass er zerstochen worden war. Dabei hatte Schweinebauch lediglich die Luft herausgelassen. Und seine Hecke musste nun dafür büßen … Scheiß-Gefühl! Ich zermarterte mir noch lange das Hirn, bis ich dann irgendwann doch einschlief.

Muttis Bester

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