Читать книгу Muttis Bester - Jochen Werner - Страница 9
ОглавлениеMinka
»Nein! Nicht hochnehmen! Nicht!«, hatte ich noch gebrüllt, doch es war zu spät gewesen. Ein drohendes Fauchen, gefolgt von einem entsetzten Schrei. Blut! Das kleine, blonde Mädchen mit dem Pferdeschwanz rannte verängstigt über die Gemeinschaftswiese und rief nach ihrer Mutter. Tränen liefen über ihr Gesicht und von ihrer rechten Hand tropfte Blut. Noch bevor sie ihre Haustür erreicht hatte, war ihre Mutter bereits herausgeeilt, um nachzuschauen, was passiert war.
Die Familie war vor nicht einmal zwei Wochen in das drittletzte Reihenhaus unserer Zeile eingezogen. Der Vater, ein roter Lockenkopf, war groß und schlank, etwa Mitte Dreißig, seine Frau war zierlich, blond und ungefähr gleich alt. Dazu kamen die beiden blonden Töchter von vielleicht fünf und sieben Jahren. Die Mädchen waren sehr schüchtern. Anfangs hatten sie sich nicht zu uns anderen Kindern und Jugendlichen auf die Wiese getraut. Meist hatten sie auf dem kleinen Stück Rasen vor dem eigenen Reihenhaus gespielt und uns verstohlen beobachtet. Nach und nach aber waren sie aufgetaut und hatten vorsichtig und zurückhaltend den Kontakt gesucht. Mittlerweile vertrauten sie uns und gehörten schon beinahe dazu.
Die kleinere der beiden Töchter hockte sich am Ende der Wiese neben eine schwarze Katze, streichelte ihr Fell und kraulte ihr den Bauch. Die Katze mit weißem Fleck auf der Stirn und der weißen linken Vorderpfote schien wohlig entspannt und genoss die Zuneigung sichtlich. Irgendwann stellte sie sich auf und strich um das kleine Mädchen herum. Sie lehnte ihren Körper an ihre Beine, ihr Schwanz klopfte rhythmisch. Die Kleine beugte sich hinunter zu der Katze, griff ihr unter den Bauch und hob das Tier zu sich hoch.
»Nein! Nicht hochheben! Nicht!«
Unsere Siedlung wurde von unzähligen Haustieren bevölkert. Hunde, Katzen, Hamster, Meerschweinchen, Wellensittiche, Kanarienvögel, Wüstenrennmäuse, Leguane, in Aquarien eingepferchte Fische und eine zahme, frei laufende weiße Ratte – sogar ein Graupapagei namens Fiete war dabei. Fast alles war vertreten. Bestimmt zwei Drittel der Familien hatten mindestens ein Haustier. Und die Tiere, die sich draußen begegneten, ob unser Langhaar-Dackel oder der bullige Schäferhund von Eingang f, ob die Perserkatze von Haus a oder die beiden zutraulichen Meerschweinchen der Geschwister von Eingang c: Sie alle kamen stets prima miteinander klar. Kein Tier hatte je gebissen, gekratzt oder sonst wie Ärger gemacht.
Bis auf Minka! Minka war irgendwann plötzlich da gewesen. Niemand wusste, zu wem die Katze gehörte. Eine kinderlose Familie aus Haus c der ersten Nebenstraßen-Reihenhauszeile behauptete, sie heiße Minka und gehöre einem alleinstehenden Mann, zwei Zeilen weiter. Allerdings war Minka stets bei uns auf der Wiese, spielte mit den Blumen der Vorgärten, pisste in die Sandkisten und maunzte so lange vor einem der Eingänge, bis sie etwas zu fressen bekam. Tagsüber schlief sie auf einer der Terrassen, auf Schuppendächern oder Fußmatten, balancierte sicher über die Spitzen der Jägerzäune hinweg oder beobachtete stundenlang die Vogelhäuschen. All das ließ nicht gerade auf ein liebevolles Zuhause oder Herrchen schließen. Die Härte aber war der Name. Minka! Für mich ein Name für eine Katze. Aber Minka war unübersehbar ein Kater!
»Nein! Nicht hochheben! Nicht!«
Minkas niedliches Aussehen, das schwarze, weiche Fell, der weiße Fleck auf der Stirn, die weiße Pfote und die schnurrende, anschmiegsame Art waren trügerisch! Kaum versuchte man, den Kater hochzunehmen und an sich zu kuscheln, wurde er zur Bestie. Blitzschnell fuhr er seine messerscharfen Krallen aus, fauchte und schlug um sich. Viele von uns hatten schmerzhaften Erfahrungen mit Minka gemacht und waren von dem Moment an vorsichtig, wenn sich das Vieh kuschelig und laut schnurrend näherte. Aber anscheinend hatte niemand seine Erfahrungen an die kleinen Mädchen weitergegeben.
Die Kleine schluchzte und weinte unentwegt. Ihre Mutter tupfte das Blut, das aus den drei deutlich sichtbaren Striemen auf dem Handrücken der Kleinen lief, erst mit einem feuchten Waschlappen und dann mit einem Geschirrhandtuch vorsichtig ab.
»Aua! Das tut so weh, Mama!«
»Ich weiß, mein Schatz. Das geht gleich vorbei!«, versuchte die Mutter, sie zu beruhigen, doch die Kleine schluchzte weiter.
»Was ʼn passiert?« Wolle, eigentlich Wolfgang, kam auf der Wiese angetrabt, als das kleine Mädchen auf den Knien seiner Mutter mit einem Geschirrhandtuch um seine Hand auf den Stufen hockte. Er ging in meine Klasse und wohnte in einem Reihenmittelhaus in einer Sackgasse.
»Minka!«, antwortete ich.
»Das Miststück schon wieder?«
»Sie hat ’s wohl noch nicht gewusst!«
»Wir sollten dem Mistviech die Krallen rausreißen!«, befand Wolle. »Der hat uns allen schon mal eine verpasst! Der ist gemeingefährlich!«
»’ne Lektion hätte er wirklich mal verdient …«, überlegte ich laut. »Ich hab ’ne Idee!«
»Nicht zu groß!«, mahnte ich Wolle, während wir nach und nach die Müllboxen öffneten und die Tonnen unserer Reihenhauszeile durchwühlten. »Aber auch nicht zu klein! Es müssen mindestens drei, vier Stück reinpassen!«
»So eine?« Wolle hielt eine leere Konservendose in meine Richtung.
»Die Größe ist perfekt! Aber der Deckel muss noch dran sein!«
Wir wühlten weiter. Eine Nachbarin beobachtete uns misstrauisch: »Was wird das denn?«
»Wir suchen was zum Spielen«, antwortete Wolle.
»Im Müll?«, fragte sie ungläubig.
»Ja! Leere Konservendosen!«, gab Wolle wahrheitsgemäß zurück. »Wir wollen damit Dosenwerfen!«
»Na!«, sagte die Frau, scheinbar überzeugt. »Dann guckt doch mal in unsere Tonne! Die Vorletzte! Ich hab einige im Müll!«
Wolle öffnete die Box, zog die Tonne hervor und stocherte im Inhalt. Nach wenigen Sekunden hob er eine Konservendose von idealer Größe, an der noch ein halb geöffneter Deckel hing, in die Höhe. Bingo!
Kurz darauf standen Wolle und ich im Werkzeugkeller unseres Reihenhauses. Mein Vater hatte alle Werkzeuge und Materialien ordentlich in den dafür vorgesehenen Kästen und Schubladen abgelegt, sodass ich nicht lange suchen musste: In seine Handleier spannte ich einen Metallbohrer ein und bohrte ein Loch in die Außenwand der leeren Dose. Ich schnitt etwa einen halben Meter Paketband von der Rolle, die in einer Schlaufe über der Werkbank befestigt war. Dann nahmen wir alles in die Hände und flitzten in mein Zimmer.
Ich wusste, dass ich noch welche hatte. Irgendwo. Aber wo? Wir krempelten beinahe mein gesamtes Zimmer um, bis ich endlich fündig wurde. Fünf Stück!
Wir setzten uns auf unsere Gemeinschaftswiese und bereiteten unsere erzieherische Maßnahme für Minka vor. Ein Ende des Paketbands fädelte ich durch das Loch in der Dose und verknotete es fest. Aus dem anderen Ende formte ich eine Schlinge, zog diese aber nicht ganz zu, sondern ließ einen etwa Zweimarkstück großen Durchlass offen. Wir wussten, dass Minka irgendwann kommen würde, aber es dauerte elendig lange. Solange sich Menschen auf der Gemeinschaftswiese trafen, klönten, spielten oder einfach nur so dastanden, scherte sich der Kater nicht um sie. Lümmelten wir uns allerdings ins Gras oder besprachen einen Schlachtplan oder Ähnliches, war er in Windeseile da und schnurrte um uns herum.
Endlich huschte er durch die Buchenhecke und hielt zögerlich auf uns zu. Er bewegte sich ungewöhnlich langsam. Sein pechschwarzer, buschiger Schwanz war aufgerichtet und die Schwanzspitze zuckte ruckartig nach rechts und links. Wolle und ich taten so, als bemerkten wir ihn gar nicht. Ich griff in meine Hosentasche und holte die fünf Murmeln, vier kleine und eine große, hervor, die ich in meinem Zimmer wiedergefunden hatte. Ich ließ die vier kleinen in die Konservendose gleiten. Wolle grinste mich erwartungsvoll an und rieb sich die Hände. Die große Murmel passte nicht durch den halb aufgebogenen Deckel, also hob ich den Deckel etwas weiter an. Die kleinen Murmeln in der Dose klackerten. Minka schien das nicht zu ängstigen, vielmehr schien seine Neugier geweckt. Vorsichtig kam er in unsere Richtung. Ich drückte die große Murmel durch die Öffnung, bog den Deckel wieder zu und drehte die Dose ein paar Mal in meiner Hand. Das Klappern war diesmal lauter, aber die Murmeln blieben in ihrer Falle gefangen. Mittlerweile hatte Minka uns erreicht, drehte sein Köpfchen hin und her und betrachtete neugierig die Dose. Dann kauerte er sich an Wolles Oberschenkel. Nach einer Weile legte er sich direkt vor mir flach hin und schmiegte seinen Kopf an Wolles rechtes Knie. Sein buschiger Schwanz ruhte auf meinem Oberschenkel. In meiner Linken hielt ich die Konservendose, an der das Paketband herunterbaumelte. Mit klopfendem Herz und zittrigen Fingern stülpte ich die Schlinge vorsichtig etwa fünf Zentimeter weit über Minkas Schwanzende. Minka hob unvermittelt seinen Kopf und stierte abwechselnd mich und seine behangene Schwanzspitze an.
Ich zog die Schlinge kräftig zu.
Ich bin kein Mensch, der Tiere quält, und war es auch damals nicht! Ich fing Spinnen, Marienkäfer und Schmetterlinge, sogar Motten so behutsam wie möglich ein und setzte sie wieder an die Luft. Ich machte einen möglichst großen Schritt über einen Ameisenpfad, rettete Frösche und Kröten, die sich in unseren Kasematten verirrt hatten, und brachte sie zurück zum Teich. Nie trat oder schlug ich eine Katze, einen Hund, ein Meerschweinchen oder sonst ein Tier! Aber Minka brauchte eine Lektion! Er war erst unberechenbar, launisch und dann gefährlich.
Blitzschnell sprang der Kater fauchend, quiekend, maunzend auf, landete mit ausgefahrenen, messerscharfen Krallen auf Wolles Oberschenkel und schoss los. Er raste in jede Richtung, begleitet vom Krach, den die Konservendose mit den Murmeln an seinem Schwanz erzeugte. Wolle beobachtete mit schmerzverzerrtem, aber belustigtem Blick, wie der Kater unablässig Haken schlug, das eine und andere Mal über sich selbst fiel und kreuz und quer über die Gemeinschaftswiese hetzte.
An einem Jägerzaun an den Nebenstraßen-Reihenhäusern schließlich verfing sich die Dose und die Schlinge löste sich. Obwohl vom Höllending an seinem Schwanz befreit, rannte Minka, noch immer hakenschlagend, weiter und weiter, über den Parkplatz, über die Nebenstraße, wahrscheinlich über den Bach, durch Großlohe, durch Schleswig-Holstein, durch Dänemark und Schweden bis zum Nord-Kap …
Wir haben Minka danach nie wieder gesehen. Schade eigentlich, hübsch wie er war!