Читать книгу Vorletzte Worte - Joesi Prokopetz - Страница 14
ОглавлениеWenn schon vorletzte Worte, dann muss man auch über das »täglich Gleiche« ein paar verlieren. Was nach einer längeren Zeit gelebten Lebens zuerst unangenehm auffällt und sich dann sukzessive bis zur Verzweiflung steigert, sind die täglich wiederkehrenden, gleichen Verrichtungen. Man wacht auf, Tag für Tag mit dem gleichen Gefühl, außer man ist krank. Aber selbst diese Abweichung von der letztlich tödlichen Routine ist noch entsetzlicher. Man wacht auf, sieht mehr oder weniger immer den gleichen Raum, in verschärften Fällen auch noch das gleiche Gesicht, riecht das Gleiche, steht auf, wankt – ja, ab einem gewissen Alter wankt man ins Badezimmer –, blickt schlafumflort in den Spiegel und sieht, dass man täglich hässlicher wird.
»Man muss erkennen, dass man ein Alter hat, in dem man sich eine Wedgwood-Vase oder etwas Ähnliches auf den Kopf stellen müsste, um etwas Angenehmes im Spiegel zu sehn.« (Max Goldt, »Ein Buch namens Zimbo«)
Dann wäscht man sich, putzt die Zähne, kleidet sich an und so weiter und so fort. Und alle Alltagsadministrationen werden sukzessive anstrengender: das Bücken, um die Schuhe zuzubinden, diese Masche machen zu müssen, wenn einem das Blut ungesund in den Kopf schießt und Atemnot Platz greift, einem schwindlig wird, man eigentlich ärztliche Betreuung brauchte und das ewig Gleiche ungleich schrecklicher ist als in jungen Jahren und das Banale immer unverschämter das Leben bestimmt. Ich habe zum Beispiel aufgehört, mich nach dem Duschen abzutrocknen, weil es mir aber so was von auf die Nerven geht und vor allem spätestens in den besten Jahren beginnt, mühsam zu werden. Ich dusche, ziehe mir einen Frotteebademantel an und lege mich eine halbe Stunde hin, bis ich trocken bin. Ist zwar auch immer das Gleiche, aber wenigstens unanstrengend. Heute, morgen, übermorgen – immer die gleichen Bewegungen und Handgriffe, die gleichen diffusen Gedanken, die sich mit den Jahren auf den zentralen Gedanken fokussieren: Das Leben ist sinnlos. Dann kommen gewisse Leute und sondern Entbehrliches ab, wie: »Ja, man muss eben mehr Leben in die Tage bringen, und nicht bloß Tage ins Leben.« »Lebe jeden Tag, als ob es dein letzter wäre.« Was wollen uns solche Trivialitäten selbst ernannter Lebensweisheitsscharlatane sagen?
Ich weiß es nicht.
Und sie wissen es auch nicht.
Sie sagen: »Sorge dich nicht, lebe!«
Und wenn man sie fragt: »Wie geht das?«, stellen sie weitere kühne Hypothesen auf, wie: »Das Leben ist schön.«
Blödsinn!
Der Mensch weint im Laufe seines Lebens eine Badewanne voll. Darum sind ja etwa 70 Prozent aller Lebewesen lieber Bakterien geblieben.
Was ist an dem schön, wenn man – was weiß ich – Hammer und Bildernägel aus dem Keller holen will, weil man ein Bild aufhängen möchte, die paar Stufen in den Keller hinuntergeht, und wenn man unten ist, vergessen hat, was man hier wollte, ratlos herumsteht und grübelt: Was wollte ich denn?
Und dann ordnet man die Weinflachen neu, wenn man schon da ist. Dass man nicht völlig umsonst in den Keller gegangen ist. Damit man wenigstens irgendwas tut und sich selber nicht für einen Idioten halten muss.
In den Wohnbereich zurückgekehrt, fällt der Blick auf das nicht aufgehängte Bild und man fragt sich: Wo hab ich nur den Hammer hingegeben, den ich vorher aus dem Keller geholt habe?
Man trägt das Bild in das Zimmer, wo man es hinhängen möchte, findet naturgemäß auch hier keinen Hammer, geht wieder in den Keller hinunter, um den Hammer zu holen, und ist verblüfft, dass die Weinflaschen neu geordnet sind.
Dann steht man mit dem Hammer in der Hand im Wohnzimmer und muss einige Zeit lang nachdenken: Was wollte ich denn mit dem Hammer? Ah ja, das Bild aufhängen. Wo ist denn dieses Bild, das war doch hier im Wohnzimmer?
Endlich steht man vor der Wand, wo das Bild hin soll, hält den Hammer tatendurstig in der Rechten, bis einem einfällt, dass man die Bildernägel nicht mitgenommen hat.
Abermals auf dem Weg in den Keller erinnert man sich, wie man sich darüber amüsiert hat, wenn die Großeltern vor 50 Jahren solche oder ähnliche Geschichten erzählt haben, eingeleitet mit dem Seufzer: »Ich bin schon derartig verkalkt.« Es fällt einem ein, dass in Boulevardkomödien, die man damals mit den Eltern im Rahmen eines Theaterabonnements gesehen hat, der »schrullige Großvater« auch immer irgendetwas vergessen hat und das Publikum sich darüber schier ausgeschüttet hat vor Lachen.
Warum sagt niemand, dass es eine Zumutung ist, wenn man miterleben muss, wie man vergeht?
Oder: »Das Leben ist ein Geschenk.«
Auch Blödsinn. Es gibt nicht drei Grundfragen der Philosophie, es sind vier. Nämlich: »Woher komme ich? Warum bin ich hier? Wohin gehe ich?«
Und vor allem: »Wer bezahlt das alles?«
Keine Rede von Geschenk. Im Gegenteil, es wird einem – rein sprachlich – vorgemacht, dass man das Leben »geschenkt« bekommen hätte, bis sich herausstellt, dass es ein Vermögen kostet, es sich bis zum Ableben zu erhalten. Das Leben wird einem zunächst scheinbar geschenkt, und dann kostet es bis zum Schluss, und man muss sich das Leben lang anhören: »Es gibt nichts geschenkt.«
»Den Sinn deines Lebens«, sagen sie, »den Sinn deines Lebens musst du schon selbst suchen.« Wie komme ich dazu, mir zusätzlich zu der unfreiwilligen Anstrengung des Seins mir noch selbst einen Sinn dafür suchen zu müssen? Wo mir niemand garantieren kann, dass ich einen finde.
Oder gar: »Selbstverständlich gibt es einen Sinn, aber er wird sich uns nie offenbaren.«
So: »Freilich gibt’s was zu essen, aber niemand weiß, wo. Und vom kalten Buffet dürfen Sie nicht allzu viel erwarten, die Brötchen sind alle belegt.«
Die Erwartung ist mehr in den Bezirken des Wünschens angesiedelt; und wünschen kann man sich ja alles.
Indem man sich aber etwas wünscht, nimmt man automatisch die stets leicht verkrampfte Erwartungshaltung ein, die vom orthopädischen Standpunkt her nur ungenügend erforscht ist. Allerdings kann man auch etwas ganz und gar nicht Wünschenswertes erwarten, was an der Erwartungshaltung vermutlich nur insofern etwas ändert, als man das Manifestwerden solch einer negativen Erfahrung in einer Verteidigungsstellung erwartet. Zwar hofft, dass es nicht eintrifft, und wenn doch, dann so, dass man nicht allzu schwer getroffen wird. Der Boxer nennt das Deckungsarbeit.
Dazu kommt: Positives Denken ist grundsätzlich unspannend, weil die normative Kraft des Faktischen nicht ignoriert und tatsächlich Negatives nicht schöngedacht werden kann. Oder sagen wir so: zwar schöngedacht werden kann, aber dadurch nicht schön werden wird.
Wie soll man sich schon einen heftigen Nagelpilzbefall am rechten großen Zeh schöndenken. Oder gar nach dem bedenklichen philosophischen Ansatz sagen: »Noch ein Glück, dass der linke Zeh nichts hat.«
Es heißt ja, die täglichen, sich wiederholenden Handlungen zur grundsätzlichen Lebensbewältigung, dieses ständige Kopieren von Kopien, dehnen subjektiv die Zeit. Weil das Leben an sich eine Wiederholung des ständig Gleichen, also eintönig und sensationsfrei ist, kommt es einem länger vor. Da bekommt Lange-Weile eine ganz neue Bedeutung. Es ist so fad … da ist es spannender, wenn man einer Farbe beim Trocknen zuschaut.
Langweilig bis zum Selbstekel.
Immerhin die letzten Worte von Winston Churchill: »Alles ist so langweilig.«
Stetes Verrichten der gleichen Handgriffe, Erledigen der gleichen Notwendigkeiten, Routine. Der Blick in dieselben Gesichter, Austausch von Worthülsen mit den immer gleichen Menschen. Gelerntes, Bekanntes, ritualisierte Gleichgültigkeit. Das Leben gerinnt uns, kaum sind Kindheit und Spätpubertät vorbei, zum fixen Ablauf, zum Automatismus, zur systematischen, eher weniger als mehr individuellen Bewältigung.
Guten Morgen.
Mahlzeit.
Auf Wiedersehen.
Gute Nacht.
Und schon ist ein Alltag, überwiegend ein grauer, vorbei. Und der folgende dämmert herauf.
Gerade in dieser Schaukel, die in keiner Weise aus Hollywood kommt, fühlen wir uns wohl.
Wir sind sogar irritiert, wenn eine Ausnahmesituation uns aus den gewohnten Bahnen wirft, ja nur zu werfen droht. Irritiert stehen wir vor dem Ungewohnten, dem vorübergehend Neuen, sind verunsichert, ja eingeschüchtert, und sehnen uns nach der Gleichförmigkeit des Lebens zurück. Um sicher und trittfest dem Einerlei zu entfliehen, gaukelt uns die Werbung vor, bei Verwendung bestimmter Produkte uns wie auf einer Südseeinsel zu fühlen, in unendliche Weiten von Milchschokolade zu entschweben und bloß vermittels einer Herrenduftserie die Damenwelt aufzumischen.
Zwar kein »Thrillerleben«, aber doch ein bisschen Thrill erleben. Sicher, geborgen, harmlos. Die kleinen Freuden der Behaglichkeit. Oder wie eine weitgehend unbekannte Lebensweisheit sagt: Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus.
Und genau darum thrillen uns die Thriller so. Beginnen sie doch meist mit Menschen, die geregelt, ja saturiert leben, um dann in eine Haarnadelkurve ihrer Biografie zu driften, die sie vollständig aus der Bahn wirft, hilflos macht, in Todesnöte bringt und Taten abverlangt, die man nicht mit akkurat geföhnten Haaren und stringent gebügelten Hemden tun kann.
Im Thriller wird der Protagonist / die Protagonistin zuerst auf die Mindestgröße, die man mit Hut und Gummisohle haben kann, zusammengestaucht, von den Mitmenschen allein gelassen, missverstanden, verdächtigt, selbst das Böse, der Antagonist zu sein, und in tiefste Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gestürzt. Der Schurke scheint unbesiegbar und fährt hohnlachend einen Triumph der bösen Tat nach dem anderen ein. Ist das Opfer, das abrupt aus seinem Alltag gerissen wurde. Dann, eine bestimmte Zeitspanne mit der neuen Situation konfrontiert, richtet es sich in dieser schlecht und recht ein, sodass diese wieder Alltag wird, dann wächst er oder sie über sich hinaus, blickt der Furcht ins Auge und sieht, dass sie zwinkert. Und entwickelt auf einmal Kaltblütigkeit, Kampfkraft, rast im Rahmen diverser Verfolgungsjagden mit einem eigens dafür gestohlenen PKW halsbrecherisch durch eine Millionenstadt, ja findet oder erbeutet gar eine großkalibrige Faustfeuerwaffe samt ausreichend Munition, und der Mut des Löwen beginnt sich vorzudrängen.
Keine lähmende Rat- und Hilflosigkeit mehr vis-à-vis der Skrupellosigkeit des unheimlichen Unbekannten, keine panische Schnappatmung und kein Erbleichen bei jeder Fehlzündung eines Gebrauchtwagens mehr. Nein, der Held / die Heldin liest in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« den Satz: »Die Vorsehung hat tausend Mittel, die Gefallenen zu erheben und die Niedergebeugten aufzurichten« – und beginnt, als beste Verteidigung, anzugreifen, sich an das schlechte Wetter und die oft nur unzureichend erklärte herrschende Dunkelheit im Film zu gewöhnen, und vor allem an die durchgehend nervenzerfetzende Musik.
Es kommt nach ersten Teilerfolgen des Helden / der Heldin zu einem neuerlichen vorübergehenden Vorteil des Missetäters, aber nur, um die Fallhöhe zu maximieren, aus der dann der – hopp oder dropp – Sturz in den Showdown folgt.
Im politisch korrekten Thriller kommt der Widersacher, der sich meist als kompliziert psychisch gestört herausstellt, nicht direkt durch die Hand des Helden / der Heldin ums Leben, sondern stürzt im Kampfgetümmel gerne mal zu Tode, verbrennt oder richtet sich selbst, um zu vermitteln, dass eine höhere Gerechtigkeit exekutiv tätig wurde. »Mein ist die Rache … et cetera … pp.«
Meist nur in B-Movies stirbt der Täter im Kugelhagel der Polizei.
Letzte Einstellung: Der Held / die Heldin kehrt in sein / ihr gewohntes Leben, in seine / ihre gelernten Abläufe zurück und nach einer meist leicht abgeschmackten Schlusspointe beginnt der Schlussroller.
Ist ein Thrillerleben eine valide Option?
Keine Angst. Alles ist gut.
Guten Morgen.
Mahlzeit.
Auf Wiedersehen.
Gute Nacht.
Es hat sich ausgethrillert.
Ist das nicht erbärmlich?
Die Leute wollen ja, wie gesagt, das Jetzt, die subjektive Zeitdehnung gar nicht. Weil die Menschen sich andauernd auf etwas freuen. Aufs Wochenende, auf die Feiertage, auf den Urlaub, auf Weihnachten, auf was weiß ich was. Niemand will mit dem täglich Gleichen, dem lebenslänglichen Jetzt etwas zu tun haben. Nur irgendein herbeigesehntes, noch nicht eingetretenes Ereignis in der Zukunft zählt, das Jetzt ist wertlos. Und darum wirkt sich die segensreiche Zeitdehnung auf die Menschen nicht positiv aus, nämlich dass die Zeit – selbstverständlich nur subjektiv – langsamer vergeht. Denn wenn das herbeigewünschte Ereignis eingetreten ist, freut man sich längst schon wieder auf das nächste, und das im Augenblick stattfindende ungeduldig Erwartete ist wiederum nichts wert. Man hört immer wieder: »Ach, wenn nur schon Freitag wäre« oder Ähnliches, und am Freitag heißt es – und das ist dann das Blödeste überhaupt – »Kinder, wie die Zeit vergeht«. Wenn bei dieser Äußerung tatsächlich Kinder anwesend sind, dann blicken sie nur ratlos drein. Wir sind ihnen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens nicht behilflich.
Man muss sehr sehr achtsam sein, dass man durch das Wissen, was im nächsten Moment zu tun ist, ja, was geschehen wird, im Jetzt bleibt und nicht ständig vorauseilend den Moment versäumt. Oder sich gar auf etwas freut. Letztlich – auf was auch?
Das Leben gibt zu wenig her. Denn das Leben schreibt die besten Geschichten nicht. Gemessen an den geschriebenen, gestalteten, inszenierten Geschichten, sind die Lebensgeschichten überwiegend banal, verworren, in der Mehrzahl niedrig, austauschbar und voll von schlechten Dialogen.
Es gibt in der Lebenspraxis keine Vorkommnisse wie in »Der Name der Rose«, »Der große Gatsby«, »Wiedersehen in Howards End«, »Frühstück bei Tiffany« oder meinetwegen in »Der Schatz im Silbersee«.
Selbst Polizeiberichte aus der Wirklichkeit sind seicht, voraussehbar und unspektakulär. Und bei Weitem nie wirklich so grauslich wie in den Kriminalromanen. Weit und breit gibt es keine genialen Megaschurken wie Dr. James Moriatry, Phantomas oder Goldfinger, und keine luciden Ermittler wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot, nicht einmal einen Columbo, diese Kakerlake der Gerechtigkeit. Wären die Mörder alle so clever, fantasiebegabt und so intelligent wie die in der Kriminalliteratur, kein einziger Mord würde aufgeklärt werden und die Welt wäre ein Paradies des perfekten Verbrechens.
Und … um Gottes willen: Vielleicht ist sie es ja.
Die Tatsache, dass wir leben, dass wir sind, bedeutet ja zunächst für einen Geistesmenschen noch gar nichts. Ein Gefäß bestenfalls. Und wenn weit und breit nirgends etwas zu finden ist, womit man dieses Gefäß füllen kann, dann ist das Gefäß obsolet und könnte genauso gut weggeworfen werden. Nur Tage, an denen mir ein großer, ein komischer, ein grotesker, ein zorniger, ein faszinierender, meinetwegen ein schöner Gedanke durch den Kopf geht und ich ihn auch halten und zu Ende denken kann, das ist ein Tag, den ich brauchen kann. Ja, es muss nicht einmal ein ganzer Tag sein. Eine Minute, eine Sekunde nur, die das ephemere Jetzt anhält und mich einen Wechselschritt im Gleichschritt der Beliebigkeit machen lässt, genügte schon, um einen ganzen Tag mit Lebensbedenkens- und -berichtenswertem auszustatten.
Die Ärmsten sind die, die den Mangel an Lebensessenz – wissentlich oder nicht – spüren und sich in eine Lebenslüge hineinromantisieren, die jeden Sonnenauf- oder -untergang und all diese Abgeschmacktheiten mit so einem aufgesetzten Lebenskünstlergetue zu Lebenssinn hochstilisieren.
Ich hatte einen Onkel, zweiten oder sonstigen Grades, zu dem alle »Onkel Schmalschuh« sagten. Er war kein böser Mensch. Und trotzdem verdarb Onkel Schmalschuh einem jede herbeibegeisterte Freude. Dabei hieß Onkel Schmalschuh gar nicht Schmalschuh, er hieß Svaljuk. Aber seine Frau, Tante Klara, nannte ihn immer Schmalschuh. Denn als er sich ihr seinerzeit mit Svaljuk vorgestellt hatte, hatte sie Schmalschuh verstanden, und dabei blieb es.
Es war ein Kosename.
»Komm, Schmalschuh«, sagte sie, wenn sie bei uns zu Besuch waren. »Steh auf, bedanke dich für die Gastfreundschaft und komm!« Und Onkel Schmalschuh stand auf und bedankte sich. Tante Klara sagte dann immer: »Das nächste Mal müsst’s aber ihr zu uns kommen. Es war so nett!« Und Onkel Schmalschuh sagte: »Gar so nett, war’s auch wieder nicht!«
Er sagte es nicht böse, man hatte auch nicht den Eindruck, dass er sich nicht wohlgefühlt hatte. Er sagte es vollständig emotionslos, sodass man keinen Grund hatte, beleidigt zu sein, aber einem auch keine Chance gelassen wurde, es wenigstens ein bisschen als Spaß zu verstehen.
Sonst sprach Onkel Schmalschuh kaum etwas, aber wehe jemand sagte: »Mein Gott, war das schön.« Prompt kam, gewissermaßen ansatzlos: »No, gar so schön wird’s auch wieder nicht g’wes’n sein.« Der daraufhin jäh seiner romantischen Erinnerung Beraubte zuckte innerlich zusammen, blickte kurz irritiert Onkel Schmalschuh an, tief drinnen wissend, dass das als »Mein Gott, war das schön« Beschriebene ja in Wirklichkeit gar so schön auch wieder nicht war.
Wenn man mit Onkel Schmalschuh im Gasthaus aß und der Ober routinemäßig fragte, wie es denn geschmeckt hätte, so beeilten sich alle beifällig zu nicken und Gemeinplätze wie »ausgezeichnet« oder »hervorragend« zu äußern, während Onkel Schmalschuh ohne jegliches Engagement brummte: »No, gar so hervorragend war’s auch wieder nicht!« Und es stimmte. Das Schnitzel hatte etwas Lappiges gehabt, der gemischte Salat hatte gummig geschmeckt, und wenn man ehrlich war, so war die Hühnerbrust nicht ganz durch gewesen. Es war zwar alles diesseits der Reklamation, aber es war weit davon entfernt, »hervorragend« zu sein.
Besonders traf es einen, wenn man von eigenen Leistungen erzählte. Wenn zum Beispiel jemand sagte, dass er seinem Vorgesetzten einmal die Meinung gesagt hatte, und das mit den Worten »No, dem hab ich’s aber eineg’sagt« beschrieb, so kommentierte Onkel Schmalschuh einfach: »No gar so mei Liaba wird’s schon nicht gewes’n sein«, und schon war alles auf das banale Maß der Wirklichkeit zurückgeschraubt und das »Hineinsagen« bestenfalls auf ein halbherziges Widersprechen reduziert. Der Alltag bietet uns kein »mei Liaba« und kein »hervorragend« und schon gar kein »Mein Gott, war das schön«. Und darum wollen wir immer das Wundervolle und das Großartige herbeizitieren, indem wir jedem läppischen Vorkommnis den Nimbus des Besonderen andichten.
Ja, ein Mal ist jeder Mann Held des Tages, ein Mal ist jede Frau die allerschönste, ein Mal können wir so viel Glück gar nicht verkraften, und das sind dann die wunderbarsten Augenblicke in unserem Leben.
Aber: Gar so wunderbar sind sie auch wieder nicht.
Viele versuchen diesen realen Untiefen des Seins durch Sport davonzulaufen. Wie viele Sportler scheuen keine Anstrengung und im Spitzensport keine Droge, um ihren Körper durch extremes Abverlangen, ja Abringen von für die Menschheit völlig irrelevanten Höchstleistungen so in den Vordergrund zu drängen, dass ihr Kopf ganz leer wird. Und Gedanken, die den einen oder anderen Tag bedeutend machen könnten, gar nicht mehr wahrnehmen. Die Letzten werden die Ersten sein, und die Ersten werden die Verletzten sein. Ein Weltklasse-Sportler darf »nichts anderes im Kopf« haben, wie man sagt, als seinen Sport.
Die Zeit macht uns alles zunichte. Ganz gleich, was wir tun.
Und wenn einem oder einer seine oder ihre Zeit dann wirklich schon fast vergangen ist, sagen sie resigniert, aber verwundert: »Mein Gott, wo sind die Jahre?«
Aber das weiß dann »Gott« auch nicht.