Читать книгу Das Grüne Band – 1400 km in 4 Jahrezeiten. Zu Fuß von der Ostsee bis nach Tschechien. Joey Kelly auf Extrem-Wanderung entlang der innerdeutschen Grenze. - Joey Kelly - Страница 12

Man ist versucht, das Ganze als einen Abenteuertrip zu sehen, aber das funktioniert nicht.

Оглавление

Der Kolonnenweg selbst zieht die Spur, gnadenlos und geradeaus, Tag für Tag. Die kaum noch wahrnehmbaren Drahtzäune zu meiner Linken, verbogen und verrostet, können nicht verbergen, dass ich mich stets auf dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen bewege. Es ist eine unheimliche Atmosphäre, weil man ganz allein unterwegs ist, keine Menschenseele weit und breit. Man weiß, was hier passiert ist, und das ist ein finsteres Etwas der deutschen Geschichte.

Ich genieße im gleichen Augenblick diese Einsamkeit, diese Stille, diese unfassbare Schönheit der Natur. Den verbrauchten Atem, der aus der Lunge strömt, mit jedem Schritt, den man hinter sich vergisst. Den Schweiß, der einem die penetrante Anstrengung fühlbar macht, die brennenden Waden, die bei jeder nur unscheinbaren Steigung keine Lust mehr signalisieren, noch weiterzugehen. Das unmerkliche Schwanken der Bäume, das Blätterrauschen der Wipfel mit all ihren imaginären Stimmen, die mich stundenlang begleiten. Das Zirpen der versteckten Grillen im Gras, die Hitze, die im Wald wie eine Wucht steht, kaum zu vertreiben von dem leichten Hauch des Windes.

Das Hirn spielt verrückt, versucht, alles irgendwie in einen Zusammenhang zu bringen: Diese urbane Umgebung, unfassbar zu greifen, um das in Worten irgendeinem überhaupt erklären zu können, der das selbst nie erlebt hat. Dazu die emotionalen Begegnungen mit all den Leuten, die eine Vergangenheit mit dieser verdammten Grenze hatten und noch immer haben, die damit leben müssen, weil sie hier nie wegkommen werden, weil sie hier geboren und mit ihrem Hab und Gut und ihren Familien auf Generationen hinaus verbunden sind, in guten wie in schlechten Zeiten.

Und für mich als spontanen Zeitgenossen, der hier jeden Tag seine Kilometer abspult, der einfach diesen Weg zu Ende bringen will, der das Ganze nicht in seiner vollen Tragweite nachvollziehen kann, der jeden Tag diesen einzigartigen Eindruck der Natur in sich aufsaugt, sich keine Gedanken bei dem Anblick der faszinierenden Sonnenaufgänge über das Böse der Welt macht, wird es umso schwerer, das zu verarbeiten. Ich versuche das Tag für Tag, Kilometer um Kilometer, aber es lässt sich nicht verdrängen.

Es beschäftigt einen ständig, ohne dass man es will. Taucht auf und verschwindet wieder. Der nächste verrottete Grenzzaun reißt einen zurück in die schon fast verblichene Vergangenheit, gerade so, als ob man innerhalb eines Augenaufschlages wie in einer Matrix verschwindet, nach ein paar Sekunden ist man wieder zurück und versteht die Welt nicht mehr. Wo man ist, wohin man geht. Es geht weiter, einfach weiter.

Der Kolonnenweg ist die Realität. Man läuft darauf, macht seine Schritte, Stunde für Stunde, bis zum Sonnenuntergang. Und man kann nicht nachvollziehen, was damals über Jahrzehnte deutscher Teilung auf diesen Quadratmetern passiert ist. Weil man es nicht ansatzweise erahnen kann.

Man hat es nicht erlebt, so einfach ist das.

Und auch so kompliziert.

Das Grüne Band – 1400 km in 4 Jahrezeiten. Zu Fuß von der Ostsee bis nach Tschechien. Joey Kelly auf Extrem-Wanderung entlang der innerdeutschen Grenze.

Подняться наверх