Читать книгу Das Grüne Band – 1400 km in 4 Jahrezeiten. Zu Fuß von der Ostsee bis nach Tschechien. Joey Kelly auf Extrem-Wanderung entlang der innerdeutschen Grenze. - Joey Kelly - Страница 23
Оглавление2.BLECKEDE HITZACKER
Geplant waren im Frühjahr die zwei Marathons von Köln und Bonn.
Ich wäre fit gewesen für mein anschließendes Sommerprojekt, die Alpenüberquerung von München bis runter nach Venedig. Aber dann machte Corona mit den europaweiten Lockdowns meiner ganzen Planung einen Strich durch die Rechnung.
Das Grüne Band aber schwirrte schon länger durch meinen Kopf, das konnte ich ohne Weiteres jetzt vorziehen. Die Idee passte perfekt: Ich bin allein unterwegs, ohne irgendwelche pandemischen Beschränkungen, fast eintausendvierhundert Kilometer, da kann ich jeden Tag einen kompletten Marathon laufen, in meinem ganz eigenen Tempo. So wie ich will. Und damit das Ganze noch seinen eigenen Reiz erhält, mache ich das über ein Jahr verteilt, in vier Etappen. Dann sehe ich das Grüne Band in vier Jahreszeiten, das ist die Challenge.
Das Landschaftsprofil von Deutschland kenne ich sehr gut, ich hatte schon zwei Mal die Nord-Süd-Durchquerung gemacht. Einmal von Warnemünde und einmal von Wilhelmshaven, immer runter bis nach Bayern und dann als persönlichen Zieleinlauf auf den höchsten Berg Deutschlands, die Zugspitze.
Was mich an dem Grünen Band faszinierte, war diese Sperrzone von fünf Kilometern die gesamte innerdeutsche Grenze entlang. Ich sah darüber mal eine Dokumentation im Fernsehen. Dieser Flecken Natur, der von Menschen über vierzig Jahre lang nicht nutzbar war, sah zum Teil wie ein Urwald aus, in nur kurzer Zeit hatte sich das Grün den gesamten Todesstreifen zurückerobert. Mittlerweile sind deshalb über einhundertfünfzig Naturschutzgebiete entstanden, es ist der größte Biotop-Verbund Deutschlands. Ab diesem Moment stand für mich fest, das laufe ich irgendwann mal ab.
Und nicht nur das. Auch die Historie der deutsch-deutschen Geschichte, das geteilte Land auf diesem schmalen Streifen, muss ein beeindruckendes Erlebnis werden. Ich wollte auf meinem Weg auch Menschen treffen, die mir erzählen, was sie erlebt haben, wie es wirklich war. Leute, die die deutsche Einheit geprägt haben, Einheimische, die hier seit Generationen leben und Zeitzeugen, die diesen Wahnsinn von Stacheldraht und Todesstreifen entweder beschützt oder auch überwunden haben.
Die Elbe, auf die ich heute kurz vor Boizenburg treffe, war auf einer Länge von fast hundert Kilometern ein Teil des Eisernen Vorhangs, der Deutschland und damit auch Europa trennte. Von 1961 bis 1989 starben neunundvierzig Menschen an und in diesem Fluss, als sie versuchten, aus der DDR in die BRD zu entkommen. Sie ertranken im Wasser, erfroren in der Kälte oder wurden von Grenzsoldaten erschossen. Vierzig Jahre lang dauerte die Teilung, und dann der November 1989: Die Grenze war auf einmal Geschichte, was es endlich wieder möglich machte, die deutschen Landsleute einfach per Fähre auf der anderen Seite des Flusses wiederzusehen.
Wilhelm Jahnke ist ein ehemaliger Lkw-Fahrer aus Hitzacker. Ein lebenslustiger, schnell schwatzender Zeitgenosse, der mich zu seinem selbstgebauten Boot am Elbanleger bringt. An mein Gefährt, erzählt er mir, habe ich einfach Räder zum Runterklappen dran montiert, damit kann ich das Teil direkt aus dem Wasser fahren. Einfach die Öse hinten an den Trecker ran geklemmt und dann ziehe ich das Ding ganz einfach wie einen Anhänger nach Hause. Super Erfindung, denke ich mir und schaue ihm zu, wie er sein Boot jetzt erstmal zu Wasser lässt. Wir fahren eine Stunde die Elbe hoch und runter und er erzählt mir seine fast unglaubliche Fluchtgeschichte.
Ein Kilometer durch die Strömung
WILHELM JAHNKE (72), Ex-Soldat der NVA
Für mich war es immer die „Deutsche Dramatische Republik“, wenn ich so zurückschaue. Als Kinder wohnten wir auf unserem Hof an der Elbe und tobten am Sandstrand herum, haben mit den DDR-Grenzern gespielt, die vor lauter Langeweile froh waren um ein wenig Abwechslung. Sie waren eigentlich immer ganz lustig drauf, haben uns ihre Kalaschnikows gezeigt, Patronen raus, Hebel rum, entsichert und dann mit einem Klick in den Himmel gezielt. Und wenn sie mal richtig übermotiviert waren, dann schossen sie auch mal eine Leuchtrakete für uns in den Himmel. Wir Kinder fanden das faszinierend.
Ein paar Jahre später standen nachts auf einmal zwei Jungs aus meiner Schule vor der Tür, die wollten abhauen in den Westen. Ich versteckte sie bei uns in der Scheune hinter einem riesigen Haufen Strohballen. Zwei Tage lang haben Grenzhelfer nach ihnen gesucht, und als ich mich endlich traute, nach ihnen zu sehen, waren sie schon weg. Nach meinem Verhör bei der Staatssicherheit fand ich zu Hause im Briefkasten eine Postkarte aus Baden-Baden, wo sie mir schrieben, dass sie es in den Westen geschafft hätten. Wie ich erst nach der Wende aus meinen Stasi-Akten erfuhr, war die von der Staatssicherheit selbst abgeschickt, um mich reinzulegen. Denn die Jungs hatten ordentlich Gas gegeben und waren längst schon auf einem Schiff nach New York. Diese ganze Aktion brachte mir den Tatbestand der „Beihilfe zur Republikflucht“ ein, weshalb ich als Minderjähriger für zwei Jahre in den sogenannten Jugendwerkhof kam, einem Erziehungsknast für Teenager in der DDR.
Damit war ich eigentlich nicht mehr geeignet für die „Bewaffneten Organe der DDR“. Da sie aber bei der Armee ausgebildete Fahrer für die großen, russischen Ural-Lkws brauchten und ich auf unserem Bauernhof alles fahren konnte, was vier Räder hatte, zogen sie mich dann doch noch notgedrungen mit vierundzwanzig Jahren zur NVA ein.
Ich machte meinen Grundwehrdienst in Schwerin, kam in die Eliteeinheit der Kampfschwimmer. Das war der erste Fehler von denen. Denn nun konnte ich trainieren für meinen gewagten, aber nicht aussichtslosen Versuch, über die Elbe nach Westdeutschland zu schwimmen.
Ich hatte es genau ausgerechnet und beantragte einen Ausgang für den 4. September 1973. Das war eine mondlose Nacht, und die absolute Dunkelheit würde mich perfekt tarnen. Ich bekam den Ausgang für zwölf Stunden genehmigt, das war das perfekte Zeitfenster für meine geplante Flucht. Dann raste ich in dieser warmen Sommernacht von Schwerin nach Hitzacker im Vollgas. Als ich nach drei Stunden auf Bitters Hof ankam, blieb mein Auto im Feld stecken. Außerdem konnte ich mich kaum noch orientieren, weil Nebel tief über den Wiesen hing. Ich dachte nur, wenn die mich erwischen, bin ich tot, die mähen dich mit der Kalaschnikow weg. Alle fünfhundert Meter patrouillierten Grenzposten, dann noch die bellenden Hunde an der Laufleine. Ich wusste auch nicht, ob die Selbstschussanlagen wirklich scharf waren oder nicht.
Ich ließ das Auto stehen und kroch den Rest des Weges auf allen vieren an die Elbe ran. Dann schlug ein Hund direkt neben mir an. Mir blieb das Herz in der Hose hängen, aber er kläffte wegen eines Hasen, der im Draht steckengeblieben war. Ich lag jetzt unbemerkt an der Wasserkante der Elbe und musste nur noch das Grenzboot abpassen, das einmal die Stunde vorbeifährt. Ich zog meine Klamotten aus, ließ nur noch die lange NVA-Unterhose an und nahm die kleine Aktentasche mit meinen Dokumenten in die linke Hand. Es war stockdunkel.
Dann ging ich in die Strömung rein.
Ich hatte bei der Sondereinheit im Schweriner See jeden Tag geübt, nur mit einer Hand zu schwimmen. Einen Kilometer trieb ich die Elbe herunter, versuchte verzweifelt gegen die Strömung anzukommen und erreichte gerade noch so den Sportboothafen auf der Westseite. Da standen ein paar Dorfbewohner rum und fragten mich, wo ich jetzt auf einmal herkomme. Aus dem Dorf Herrenhof im Osten, sagte ich klitschnass und völlig außer Atem. Bist du etwa besoffen? Nein, das war ich definitiv nicht. Sie brachten mich zur Polizeiwache, dort bekam ich einen Trainingsanzug und einen heißen Tee. Alles, was ich bei mir hatte, waren zwanzig Ostmark, meine Zeugnisse und der Wehrdienstausweis.
Damit fing ich ein neues Leben an.