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Findelkind Weimarer Republik

In Deutschland hatten sich die Ereignisse bei Kriegsende derart überstürzt, dass kaum jemand durchblickte. In den letzten Kriegstagen meuterten die Matrosen auf den Kriegsschiffen, weil diese ohne erkennbaren Sinn zum Einsatz kommen sollten. Nach der Abdankung des Kaisers und dessen „Flucht“ nach Holland wurde der Sozialdemokrat Friedrich Ebert als Staatsoberhaupt vom Parlament gewählt. Er musste sofort die erste Staatskrise bewältigen, als die Kommunisten nach dem Vorbild Lenins die Macht an sich reißen wollten. Die heimkehrenden Soldaten machten dem Spuk ein Ende.

Auch andernorts gab es Kämpfe dieser Art. Erwähnt sei jener in München, wo Kurt Eisner eine Räterepublik ausrief und den Prinzregenten verjagte. Ein gewisser Hitler schloss sich den Freiwilligen an. Da ihm als ehemaligem Meldegänger die nötige Kampferfahrung fehlte, wurde er als Agitator eingesetzt, der die anderen Soldaten motivieren sollte. Der bis dahin kontaktscheue Hitler entdeckte bei dieser Gelegenheit sein Talent als Redner, das er allerdings überschätzte. Die Hoffnung, der drohenden Arbeitslosigkeit auf diese Weise ein Schnippchen schlagen zu können, dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Er wanderte fortan jeden Abend von Wirtshaus zu Wirtshaus und suchte nach politisierenden Kleinbürgern, um mit ihnen zu diskutieren.

Dabei stieß er auf eine kleine bedeutungslose Partei, der es an Orientierung mangelte. Er drückte ihr geistig den Stempel auf und setzte sich an ihre Spitze. Aber welchen Namen sollte sie haben? Hitler entschied sich für die seltsame Bezeichnung Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, kurz NSDAP. Volk und Presse nannten deren Anhänger später verniedlichend Nazis. Hitlers Parteichen kam ein ganzes Jahrzehnt über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus. Mangels einer vorgeschriebenen Mindestzahl an Wahlstimmen zog die NSDAP dennoch 1924 und 1928 in den Reichstag ein.

Die Verfassung der Weimarer Republik orientierte sich teilweise an jener der USA. Deshalb war das Amt des Reichspräsidenten mit hohen Kompetenzen ausgestattet. Er konnte nach Gutdünken den Reichskanzler als Regierungschef bestimmen ohne Zustimmung des Parlaments wie zu Kaisers Zeiten. 1925 wurde Hindenburg vom Volk direkt für dieses Amt gewählt, der seine Popularität dem Sieg von Tannenberg zu Beginn des 1. Weltkrieges verdankte. Mangels einer Mindestgröße für den Einzug in den Reichstag tummelte sich fast ein Dutzend Parteien in demselben, was dessen Entschlussfähigkeit lähmte und die ab dem Frühjahr 1930 mehr und mehr zum Erliegen kam. Deshalb erlaubte die Verfassung sog. Notverordnungen, die der Reichspräsident allein beschließen konnte. Das Parlament konnte sie durch ein Veto mit absoluter Mehrheit zu Fall bringen. Von dieser Regelung wurde ab 1930 immer öfter Gebrauch gemacht. Im März 1933 verzichtete das Parlament auf dieses Vetorecht, weil es dem Reichspräsidenten erlaubte, den Reichstag aufzulösen, was zwischen 1930 und 1933 viermal geschah. Das führte zu einer gewissen Wahlmüdigkeit bei Bürgern und Parteien. Hitler konnte nach dem Tod von Hindenburg im Sommer 1934 allein Gesetze erlassen, weil kein neuer Reichspräsident gewählt wurde.

Einstweilen mussten sich andere Parteien mit der Erbmasse des verlorenen Krieges auseinandersetzen. Dabei konkurrierten die Sozialdemokraten mit dem Zentrum, das vom Besitzbürgertum bevorzugt wurde. Die Deutschnationalen wollten von patriotischen Gefühlen profitieren, die es immer noch gab. Es gab fast ein Dutzend Parteien im Reichstag, was die Regierungsbildung sehr erschwerte. Koalitionen waren unvermeidbar, die sich eher mühsam über Wasser hielten. Das größte Problem war die hohe Arbeitslosigkeit, zumal das Heer auf 100.000 Mann begrenzt war. Die Heimkehrer von der Front fanden oft keine Arbeit, weil sie verkrüppelt waren oder keine Fachkenntnisse hatten. Während des Krieges waren immer mehr Frauen in den Betrieben beschäftigt worden. Sie wollten ihre Arbeitsplätze nicht mehr aufgeben, am wenigsten die Kriegerwitwen. Außerdem kam die Kriegsproduktion zum Erliegen, was zu vielen Entlassungen führte. Die Zivilproduktion nahm eher schleppend zu, weil die Bevölkerung verarmt war. Exporte waren kaum möglich, da die Kolonialmächte ihre Märkte durch hohe Schutzzölle abschotteten. Das Prinzip des freien Welthandels, von England bis Kriegsbeginn standhaft hochgehalten, wich dem Protektionismus. Die Vereinigten Staaten von Amerika zogen sich in die „splendid isolation“ zurück. In der Neuen Welt wollte man vom Abendland nichts mehr wissen, hatte der hasserfüllte Clémenceau doch das Vierzehnpunkteprogramm mit Füßen getreten. Banken und Unternehmer machten eine Erfindung, welche die Bürger in den USA schnell faszinierte, die Massenkaufkraft.

Von dieser Errungenschaft konnten die Deutschen nur träumen, obwohl es auch zu Beginn der Weimarer Republik eine gewisse Geldvermehrung gab. Sie war aber inflationärer Art. Der Staat musste wohl oder übel gewisse Sozialleistungen erbringen, auch wenn die eher spärlicher Art waren. Man denke an die vielen Kriegsinvaliden und Arbeitslosen. Der Übergang von der Kriegs- zur Zivilwirtschaft musste abgemildert werden. Das geschah nicht so ungeschickt, wie heutzutage manche meinen. Jedenfalls machten es die meisten Nachbarstaaten kaum besser. Der Kaufkraft schadete es allerdings. Überschattet wurde diese Praxis durch zwei Ereignisse, welche die eher häufig wechselnden Regierungen nicht selbst zu verantworten hatten. Die Reparationen zehrten am Bruttosozialprodukt, wie man heute sagen würde. Am frechsten verhielt sich dabei die französische Regierung. Sie forderte derartige Mengen an Kohle und anderen „Naturalien“, dass sie der junge deutsche Staat gar nicht erbringen konnte. Deshalb blieben die Lieferungen hinter den „Erwartungen“ in Paris zurück.

Regierungschef Poincaré ließ deshalb das Ruhrgebiet besetzen. Die Regierung in Berlin befürchtete heimliche Annektionsabsichten des rigorosen Nachbarstaates und rief zum allgemeinen Widerstand auf. Viele Betriebe stellten ihre Arbeit ein. Den Lohn- und Produktionsausfall glich der Staat in vollem Umfang aus, was mittels neu gedrucktem Geld geschah. Der Finanzbedarf war so hoch, dass es zu einer Hyperinflation kam. Schließlich musste der Widerstand abgebrochen werden, weil nur so eine Währungsreform Sinn machte. Die war unumgänglich geworden und wurde u. a. von den USA aus finanziellen Gründen gefordert. Es ging diesen um die Reparationen, die zum Dauerthema der ersten deutschen Republik wurden, und die das politische System schließlich zermürbten. Auf Basis der neuen Reichsmark, die durch den Totalverlust aller Ersparnisse und Finanzwerte erkauft wurde, sollten anfangs 1,6 Milliarden gezahlt werden und innerhalb weniger Jahre die Überweisungen auf 2,4 Milliarden steigen.

Die Aufregung im Lande war groß. Das wollten Hitler und mit gewissen Einschränkungen auch Ludendorff zu einem Putsch nutzen. Sie propagierten den Marsch auf Berlin, den die bayerische Staatsregierung nach anfänglichen Sympathien für dieses Vorhaben jedoch verhinderte und die meisten Naziführer verhaften ließ. Ludendorff entging einem Prozess durch sein Exil in der Schweiz und politische Enthaltsamkeit. Hitler und seine Kumpanen wurden zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die sie in Landsberg absitzen sollten. Ihre Anhängerschaft versorgte sie derart großzügig mit Lebensmitteln aller Art, dass sie zum Entsetzen der Aufseher ein luxuriöses Leben führen konnten. Deren Anführer beteiligte sich jedoch nicht an den Ausschweifungen und schrieb das berühmte Buch „Mein Kampf“, in dem er aus seinen aggressiven Absichten kein Hehl machte. Nach einem Jahr wurde die ganze Sippschaft wegen angeblich guter Führung auf freien Fuß gesetzt. Seine Anhänger jubelten Hitler schon bald wieder zu, als er nach einer gewissen Karenzzeit wieder Reden halten durfte. Dank seiner schrillen Reden und zackigen Bewegungen war er ein zuverlässiger Lieferant von Nachrichten für die Presse, die ja an Neuigkeiten nicht genug bekommen kann. Hitler blieb für die nächsten fünf Jahre das, was er vorher auch schon war, der Hofnarr der Republik. Sein Unterhaltungswert war größer als sein politischer Einfluss.

Regierungen kamen und gingen in der Weimarer Republik wie nach dem Krieg in Italien. So ziemlich alle Jahre wechselte das Kabinett einschließlich des Reichskanzlers. Die Hälfte von ihnen hatte nicht einmal eine parlamentarische Mehrheit und konnte sich nur dank stiller Duldung durch die SPD begrenzte Zeit über Wasser halten. Diese Arbeiterpartei war zwar die stärkste politische Kraft, trotzdem aber nur selten Regierungspartei in Berlin. Dafür war sie im „Staat Preußen“ ständig an der Macht, der immerhin gut die Hälfte des Deutschen Reiches ausmachte. Die konservativen Parteien dominierten die Regierungsgeschäfte die meiste Zeit. Anfangs überschatteten Morde und Putschversuche das politische Geschehen. Erst mit Stresemann trat eine mehrjährige Beruhigung ein. Er besänftigte mit den Locarnoverträgen die Westmächte und erreichte die Aufnahme in den Völkerbund, was eine deutliche Reduzierung des wirtschaftlichen Boykotts mit sich brachte. Ausländisches Kapital, vor allem aus den USA, floss nach Deutschland und bewirkte eine vorübergehende Belebung der Wirtschaft. Beliebt war Stresemann dennoch nicht, was aber mehr an der Sturheit der französischen Politik gegenüber Deutschland lag. Erst 1930 räumten die Franzosen die linksrheinischen Gebiete endgültig auf Drängen der Regierung in London. Außerdem wurde mal wieder ein neuer Reparationsplan mit den USA ausgehandelt, der Zahlungen für weitere 59 Jahre vorsah in einer Höhe von zwei Milliarden Reichsmark jährlich.

Der Weg zum Gigantismus

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