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Antwerpen, Mai 1600

Die Mutter saß im Salon. Ihr langes Haar erschien in der Morgenluft transparent und unwirklich. Sie sah ihn an, direkt und schweigsam. Er schritt zu ihr hin, ließ sich nieder und hielt ihr den Passierschein hin. Der Magistrat bestätigte darin, dass Antwerpen frei war von Pest und anderen Seuchen.

Er war erleichtert, das Dokument wohlbehalten nach Hause gebracht zu haben. Es war nicht schwierig gewesen, es zu bekommen, und dennoch hatte er gemeint, es wie eine Kostbarkeit mit spitzen Fingern durch die feuchte Morgenluft tragen zu müssen. Es war ein windstiller Tag, und doch hatte er die Finger fest auf das Dokument gepresst, welches sein ängstlicher Geist immer wieder in die gleichmäßig dahingehende Schelde schweben und langsam versinken gesehen hatte. Sie war eine Getriebene, diese Schelde, eine beständige Kraft, die ruhig aber entschieden auf die Weite des Meeres zustrebte und dabei wie zufällig die großartigsten kalten Spiegelungen hervorbrachte. Und warme Vorstellungen. Es war ihm seit jeher gewesen, als führte dieser Fluss ihm vor Augen, was in ihm war. Als gäbe er den Blick auf etwas Großes frei, indem er widerspiegelte, was noch nicht geschaffen war.

Die Mutter ließ ihren Blick über die Zeilen schweifen, nickte und weinte aus großen grauen Augen. Er musste sich gewaltsam daran erinnern, dass sie nicht zerfallen würde, trotz dieser Augen. Als der Vater vor Jahren unter Hausarrest gestellt wurde, hatte sie von einem auf den anderen Tag begonnen, allein für den Unterhalt der Familie aufzukommen. Sie fing an, auf dem Markt mit Fleisch und Gemüse zu handeln und Reisende zu beherbergen. Und als der Vater wenige Jahre später gestorben war, hatte es ihr Herz gebrochen, aber sie war dennoch ganz geblieben. Sie war keine Frau, um die man sich sorgen musste.

„Ich bleibe, wenn du willst“, sagte er, ohne es zu meinen. Sein Fuß wippte unruhig vor und zurück. Das tat er bereits seit dem Tag, als vor mehreren Wochen der Brief vom Hof des Herzogs von Mantua eingetroffen war, in dem dieser ein Treffen zwischen Peter und einem Gesandten namens Annibale Chieppo bestätigte. Zwar hatte er ihm nicht direkt eine Anstellung versprochen, aber um nichts in der Welt wollte Peter es versäumen, pünktlich in Venedig einzutreffen. Der Herzog war bekannt dafür, junge Maler, die er für talentiert hielt, bei Hofe um sich zu scharen.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte sie und wischte sich die Tränen ab. „Du gehst. Alles andere wäre eine Beleidigung des Schöpfers, der dir mit nichts als Großzügigkeit begegnet ist.“

Es war, als redete sie mit sich selbst.

„Antwerpen wird mir fehlen“, gab Peter zurück.

„Wenn man dir eine außergewöhnliche Gabe schenkt, ist es das Mindeste, was du tun kannst, sie mit dem größtmöglichen Einsatz zu ehren.“

„Ich schreibe dir jede Woche“, sagte er. „Und wenn ich zurückkomme, bringe ich Geschenke, Berge von Kostbarkeiten.“

Sie lächelte.

„Gib auf dich Acht, und vergiss die Schelde nicht. Die Italiener mögen die Malerei erfunden haben, aber solch einen Fluss sucht man auf der ganzen Welt vergebens.“

Peter nickte stumm.

Er weckte die Mutter in der Morgendämmerung, in der Hoffnung, ihre Schlaftrunkenheit würde den Schmerz dämpfen. Es war kalt im Salon, wo sie eingeschlafen war, das Feuer nur noch ein Glimmen. Sie schlug die Augen auf, sah ihn unbewegt an und begann zu weinen.

„Geh, geh, mein Lieber“, sagte sie und fegte ihn gestenreich zur Tür hinaus. Er würde ihr etwas Kostbares mitbringen, wenn er wiederkäme, eine goldene Uhr vielleicht, oder ein edelsteinbesetztes Gewand aus schwerer Seide.

Der beginnende Frühling hatte noch immer keine Milde gebracht, und der Boden knackte unter seinen Schritten, als er hinaustrat, während die Kälte seinen Atem in die Luft zeichnete. Keine gute Zeit für lange, beschwerliche Reisen.

Sein Hengst hob ein Bein und schnaubte ihn an. Er streichelte seinen Kopf, stieg auf und ritt langsam durch die leeren Gassen davon. Kurz vor dem Tor sah er sich noch einmal um. Nach Mutter. Und der Schelde.

Am dritten Tag wurde ihm bewusst, wie lang die Reise werden würde, und er empfand die schlichte Größe der Welt als Zumutung. Eine Bäuerin gab ihm verdorbene Kartoffelsuppe, und er übergab sich einen Tag und eine Nacht lang. Danach machte er um Bauernhöfe einen Bogen und kam in Gasthöfen unter. Die meisten waren ungezieferverseucht und zugig. Am zehnten Tag hatte er Flöhe und wollte umkehren, doch schreckte ihn nun auch die Länge der Rückreise, und er ritt weiter. Nach zwei Wochen musste er einsehen, dass er den Weg niemals in den anvisierten vier Wochen zurücklegen würde. Er hatte bei seiner Planung nicht berücksichtigt, wie anstrengend das Reiten war. Voller Sorge, er könnte sein Treffen mit dem Gesandten des Herzogs von Mantua versäumen, kämpfte er gegen die Müdigkeit an.

Erst als sich die Landschaft langsam um ihn herum veränderte und er sich mit einem Mal in ein Gemälde Annibale Carraccis versetzt sah, spürte er neuen Elan in sich aufkeimen. Verdurstete Bäume ragten in einen wässrigen Himmel hinein, der den Eindruck erweckte, ein einziger Tropfen Farbe hätte ausgereicht, um ihn in seiner Unendlichkeit in göttlichem Azurblau einzufärben. In der Ferne legten sich die fabelhaftesten Grüntöne in nicht endenden Schattierungen übereinander, als wäre jeder Hügel in diesem Lande in eitelster Weise darauf bedacht, sich von seinen Nachbarn abzugrenzen.

Doch eine weitere Woche später hatte er Venedig noch immer nicht erreicht, und es breitete sich erneut Müdigkeit in seinen Knochen aus, die ihn verzehrte wie eine schwere Krankheit. Auch suchten ihn Bilder der weinenden Mutter heim, die ihn anhaltend quälten und sich nicht verjagen ließen.

Als er zum ersten Mal venezianischen Boden betrat, hatte er jeglichen Antrieb verloren. Hätte ihn jemand zu seinen Ambitionen, Plänen, Leidenschaften oder Talenten befragt, er hätte mit den Schultern gezuckt. Er war mitten in Venedig, dem Ort, nach dem er sich am ärgsten gesehnt hatte – hatte es in Antwerpen doch kein einziges venezianisches Werk gegeben – und es war ihm einerlei. Es war erst Nachmittag, aber er mietete sich in der erstbesten Herberge ein Zimmer, schleppte sich die Treppe hinauf, registrierte den schimmligen Geruch ohne sich daran zu stören, ließ sich aufs Bett fallen und schlief den Rest des Tages, die ganze Nacht und bis zur Mittagszeit des darauffolgenden Tages.

Als er schließlich aufstand und seine schmerzenden Glieder streckte, stellte er fest, dass sein Lebenswille zurückgekehrt war. Er kletterte die Stiege hinunter und fragte die hagere Wirtin nach einem Bad. Sie zog die dichten, viel zu weit oben angesiedelten Augenbrauen noch weiter in die Höhe und betrachtete ihn von oben herab, als wollte sie prüfen, ob ein Bad tatsächlich vonnöten wäre. Sie schien zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich in seinem Fall nicht um ein übertriebenes Ansinnen handelte, bedeutete ihm mitzukommen und brachte ihn in eine muffige Kammer hinter dem Schankraum.

Zum Mittagessen bestellte Peter einen Eintopf mit Fleischeinlage und einen Krug Bier. Er saß rasiert und zufrieden am Fenster und überblickte den angrenzenden Platz, auf dem Blumen verkauft wurden, die in der Sonne unrealistische Farben annahmen. Zwischen den Blütentupfern schoben behaarte Männer Schubkarren vorbei, kleine Mädchen mit dicken Zöpfen rannten durcheinander, und alte Männer niesten in ihre Taschentücher. Es war ihm, als hätte er den Menschen, der er am Vortag noch gewesen war, niemals gekannt.

Er genoss den Anblick, und doch kehrten seine Gedanken immer wieder zum bestellten Eintopf zurück. Es dauerte lange, bis eine süßlich duftende Schale mit Gemüse, Kartoffeln und Schweinebauch vor ihm stand. Der Eintopf schmeckte so hervorragend und nahm Peter derart gefangen, dass er den Mann, der sich ihm gegenüber niedergelassen hatte, erst nach einer Weile bemerkte.

„Sie ist ein Borstentier, aber kochen kann sie“, sagte der Mann und gähnte.

Peter sah auf. „Etwas ganz Feines“, fügte der Fremde hinzu, „dieser Schweinebauch.“

Peter nickte brummend, löffelte die Suppe und musterte sein Gegenüber. Er war ein kleiner Mann mit breiter Nase, der den Eindruck erweckte, er wäre einer Erzählung über eine lange ausgestorbene Menschenrasse entsprungen. Das gewellte Haar stand über der hohen, breiten Stirn wirr vom Kopf ab und ging weiter unten übergangslos in einen dichten Bart der gleichen rotbraunen Farbe über. Über den glänzenden braunen Augen lag ein merkwürdiger rötlicher Schimmer, der Peter gleichermaßen faszinierte wie abstieß.

„Ihr seid nicht von hier“, stellte der Mann fest.

„Sieht man es mir an?“, fragte Peter.

„Ihr sprecht hervorragend Italienisch.“

„Sieht man es mir an?“

„Einer von hier wäre gesprächiger.“

Peter zuckte mit den Schultern.

„Einer von hier bewegt sich auch mehr. So als glömme stets eine kleine Glut in seinem Inneren, die ihn treibt, mit dem ganzen Körper zu sprechen, zu singen, zu tanzen, zu malen“, sagte der Fremde, nicht ohne ein paar demonstrative Gesten mit Händen und Armen zu vollführen.

„Gewiss“, sagte Peter. „Zu schade nur, dass diese Glut, die Ihr beschreibt, zuweilen dazu verleitet, den einen oder anderen Pinselstrich zu viel zu machen. Und die eine oder andere Figur gar zu ausladend zu gestalten.“

Der Italiener hob die stacheligen Augenbrauen und beugte sich vor.

„Guter Mann! Die italienische Malerei! Tizian! Michelangelo! Correggio!“, rief er und bewegte die Arme auf und ab wie eine aufgebrachte Ente. Er sah aus, als wäre er kurz davor, aufzuspringen und ihm an den Kragen zu gehen. „Ein Pinselstrich zu viel! Ihr müsst übergeschnappt sein!“

Peter lehnte sich zurück und leckte sich langsam die mit Schweinefett überzogenen Finger ab. „Ich bin ein großer Verehrer Tizians“, sagte er. „Mir ist niemand bekannt, der eine ähnliche bildliche Ausdruckskraft besäße. Und Michelangelo, nun was kann ich sagen, der unangefochtene Meister der fleischlichen Verschlingungen. Und ich würde den kleinen Finger meiner linken Hand dafür geben, um mit meiner Kunst Correggios sakrale Weichheit zu erreichen. Eine Weichheit, die nicht von dieser Welt ist.“

Sein Gegenüber atmete schwer aus.

„Mein Name ist Annibale Chieppo“, sagte er dann. „Ich bin vor ein paar Tagen aus Mantua angereist, wo ich im Dienste des Herzogs Vincenzo Gonzaga stehe. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Noch während der Mann sprach, erhob sich Peter hastig und verbeugte sich.

„Verzeiht, dass ich Euch nicht als herzoglichen Gesandten erkannt habe“, sagte er schnell und verbeugte sich erneut.

„Vor einigen Jahren war es mir vergönnt, die Bekanntschaft Eures Herrn zu machen. In Begleitung meines Meisters Otto van Veen besuchte ich damals den Hof Alberts und Isabellas, wo der Herzog ebenfalls verweilte. Er hat sofort mehrere Gemälde bei Otto van Veen in Auftrag gegeben.“

„Gewiss, er ist ein großer Förderer der Malerei“, entgegnete Annibale. „Zuweilen fällt seine Gunst sogar auf einen Maler nicht-italienischer Herkunft. Allerdings kommt das aus offensichtlichen Gründen seltener vor.“

Peter faltete die Hände und hielt sich gewaltsam von einer Entgegnung ab. Einige Sekunden verstrichen, in denen sie sich musterten.

„Falls Ihr Werke Eurer Hand bei Euch tragt, könnte ich sie mir ansehen“, sagte Annibale dann. „Sie könnten dem Herzog gefallen. Ausgeschlossen ist das nicht.“

„In der Kammer.“ Peter wies mit dem Zeigefinger nach oben. Der Italiener nickte.

Peter erhob sich und bedeutete Annibale, ihm zu folgen. Er führte ihn die Stiege zur schimmeligen Kammer hinauf, wobei er sich zwingen musste, seinen Schritt zu mäßigen.

Als sie eintraten, verzog Annibale das Gesicht. Peter holte ein Gemälde und eine Zeichnung hervor, die er in einer Truhe verstaut hielt.

Das Gemälde zeigte die nackten Körper Adam und Evas vor dunklem Blattwerk. Van Veen hatte sich einst mit heruntergezogenen Mundwinkeln darüber gebeugt und gebrummt, dieses Werk könne beinahe als Stück seiner eigenen Hand durchgehen, so anständig sei es gelungen. Peter hatte vor Verwunderung für einen Moment das Luftholen vergessen.

Die Zeichnung war eine Kopie in Tinte nach einem Holzschnitt Tobias Stimmers und zeigte eine Audienz-Szene bei Kaiser Maximilian II. Annibale hielt die breite Nase dicht ans Papier, als wollte er die Qualität der Werke schnüffelnd erfassen, und ließ die Augen hin und her laufen.

„Ausgezeichnet“, sagte er dann. „Hier und dort sehe ich dieses und jenes, aber alles in allem ist Eure Hand nicht eben übel“, sagte er und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das seine Nase zusätzlich in die Breite zog.

„Dieses und jenes“, wiederholte Peter.

„Gewiss, mein flämischer Freund“, sagte Annibale, verbeugte sich kurz und verschwand.

Als Peter am folgenden Tag frierend aus der Frühmesse kam, wartete der Mann aus Mantua vor der Wirtschaft. Wie ein winziger Kobold stand er dort, mit hochgezogenen Schultern und einem vertrockneten Eichenblatt im wirren Haar. Wieso glaubte dieser Wicht, der gewiss niemals ein bedeutendes Werk erschaffen hatte, wenn überhaupt eines, er wüsste, was Malerei war?

„Seid gegrüßt“, sagte Annibale. Peter nickte ihm knapp zu und schritt schnell an ihm vorbei. Die Begegnung am Vortag war in keiner Weise nach seinen Vorstellungen verlaufen und seine Hoffnung auf eine Anstellung am Hof von Mantua war geschwunden.

„So wartet doch“, rief der Italiener und eilte ihm nach. „Ich habe ein Angebot für Euch.“

„Ich habe zu tun“, gab Peter im Gehen zurück.

„Es ist ein Angebot des Herzogs.“

Peter öffnete die Tür zur Wirtschaft, trat ein, genoss die Wärme und schritt auf einen leeren Tisch zu, den Verfolger auf den Fersen.

„So hört mich an“, bat Annibale.

Peter setzte sich und sah sich nach der Wirtin um, während der Italiener sich ihm gegenüber niederließ und zu reden begann. Der Herzog habe Verwendung für einen Mann wie ihn, dafür lege er, Annibale, seine Hand ins Feuer. Gonzaga lade ihn an den Hof, das heiße, er, Annibale, lade ihn an den Hof, aber das sei im Grunde ein und dasselbe. Der Herzog habe vollstes Vertrauen in seine Expertise, wenn es die Malerei betreffe, und deshalb sei es keine Vermessenheit, wenn er, Annibale, ihm an des Herzogs Stelle eine Stellung als Hofmaler anbiete.

Peter versuchte angestrengt, sich die Aufregung, die bei der Erwähnung des Wortes Hofmaler in ihn gefahren war, nicht anmerken zu lassen.

„Ich war der Auffassung, meine Arbeiten sagten Euch nicht zu“, sagte Peter und bemühte sich, seinen Tonfall sachlich zu halten.

„Ganz im Gegenteil! Ich sehe enormes Potenzial in Euch!“

Potenzial! Peter musste sich davon abhalten, die Augen gen Decke zu drehen.

„Wie viele Hofmaler hat der Herzog?“, fragte er, mit dem Geiste bereits bei dem Brief, den er der Mutter schreiben würde. Hofmaler!

„Reitet mit mir nach Mantua“, gab der Italiener zurück.

Peter streckte die Hand aus und griff nach dem Eichenblatt im Haar des Italieners, zog es heraus und zerbröselte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger.

Peter Paul. Rubens Leben

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