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Norditalien, Herbst 1600

In den folgenden Monaten erteilte der Herzog ihm einige recht angenehme Aufträge außerhalb von Mantua. Mehrmals reiste er nach Florenz und Genua, um Kopien für die Sammlung der Gonzagas anzufertigen. Und immer blieb noch etwas Zeit, um die großen Werke vor Ort zu studieren und private Skizzen anzufertigen.

Die Hochzeit Maria de Medicis mit dem französischen König dagegen war ein höchst nutzloses Spektakel, und ein skurriles obendrein. Der zum Katholizismus konvertierte Protestant Heinrich, sechsundvierzig Jahre alt, hatte eingewilligt, die schwer vermittelbare fünfundzwanzigjährige Maria zu ehelichen, hielt es aber nicht für nötig, zu seiner Hochzeit zu erscheinen und ließ sich durch Marias Onkel, den Großherzog der Toskana, vertreten. Peter war es gestattet, die Zeremonie aus der Ferne zu beobachten, war aber nicht zu den anschließenden Feierlichkeiten geladen.

Zurück in Mantua stellte der Herzog ihn zusammen mit Frans ab, um weitere Porträts für die Galerie der Schönheiten anzufertigen. Es war nicht eben schlecht, an der Seite des stets lächelnden Freundes zu arbeiten, umgeben von schönen Weibsbildern. Doch er sah Giulia nicht mehr, und er stellte fest, dass die anderen Modelle, obwohl hübsch anzuschauen, nicht die gleiche Wirkung auf ihn ausübten wie das sizilianische Mädchen. Er hatte sich mehrmals dabei ertappt, wie er in den langen Gängen der Gonzagas Ausschau nach ihr hielt, und einmal hatte er von ihr geträumt. Wenn er dem Herzog begegnete, musste er Bilder aus seinem Kopf verdrängen, die den ochsenartigen Mann zusammen mit Giulia zeigten.

Bald begann die Arbeit, ihn zu langweilen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er so etwas wie Antriebslosigkeit und Ermattung in sich aufsteigen, ohne dass er körperlich müde war.

Er sei nicht nach Italien gekommen, um Porträts anzufertigen, sagte er zu Frans, als sie malend nebeneinander in der lichtdurchfluteten herzoglichen Bibliothek saßen. Er sprach offen, weil er wusste, der gut gelaunte Freund würde ihm die nicht zu verbergende Verachtung in der Stimme vergeben.

„Ich will malen, nicht arbeiten“, sagte er und seufzte.

„Man müsste Gonzaga darauf hinweisen, wie wichtig anständige Kopien der großen Werke der Antike sind, wenn man im Begriff ist, eine bedeutende Sammlung aufzubauen“, sagte Frans, während er mit einem winzigen Pinsel die letzten Details einer blassen Rothaarigen korrigierte. „Du musst nach Rom.“

Rom. Allein der Klang dieses Wortes flößte Peter auf der Stelle neue Kraft ein. Er setzte sich auf und beugte sich vor.

„Wie soll ich das anstellen?“, fragte er. Frans sah grinsend von seiner Rothaarigen auf. „Ich habe mich bei Annibale bereits bitterlich darüber beklagt, dass zentrale Werke der Antike in der Sammlung des Herzogs fehlen. Wie wichtig doch diese Vorbilder für jeden Maler der Gegenwart sind, habe ich ausgerufen.“

„Hast du auch den Ruf der Sammlung erwähnt?“

„Annibale ist nicht so stumpfsinnig, wie sein Gesicht es zuweilen vermuten lässt. Ich müsste mich täuschen, wenn er diesen Zusammenhang nicht ohne meine Hilfe hergestellt hat.“

„Wann hast du mit ihm gesprochen?“

„Vor zwei Tagen. Warten wir noch eine Weile ab. Bevor eine Woche vergangen ist, wird Annibale sich rühren.“

„Es drängt dich also ebenso nach Rom wie mich.“

Frans legte lachend eine Hand auf seine Schulter. „Nein, mein Freund, das tut es nicht“, sagte er und deutete auf seine Staffelei.

Bereits eine Woche nach ihrer Unterhaltung begann er, es Frans übel zu nehmen, ihm Hoffnungen gemacht zu haben. Eine weitere Woche später war er kaum noch in der Lage, ein Wort mit ihm zu wechseln, und fing an, sich Ausreden einfallen zu lassen, um ihm nicht zu begegnen. Er fühle sich nicht wohl und ziehe es vor, in seiner Kammer zu arbeiten, ließ er ihm mehrmals von einem Diener übermitteln.

Gegen Mitte der dritten Woche klopfte es am Abend an seiner Kammertür, als er gerade im Begriff war, gähnend die Kerzen zu löschen, und Annibale steckte seine Nase zur Tür herein.

„Ich habe einen Auftrag für Euch“, sagte er. Und noch während Annibale sprach, nahm Peter sich vor, Frans zum Abschied besonders fest zu umarmen.

Annibale blieb nur einige Minuten und als er gegangen war, legte sich Peter ins Bett, weil es spät war und er früh aufstehen wollte. Dann stand er wieder auf, legte sich wieder hin, stand wieder auf, sah aus dem Fenster und gab auf. Er würde nicht schlafen in dieser Nacht. Eine Weile sah er zufrieden in das sich vor ihm erstreckende Dunkel.

Am Morgen klopfte es erneut an der Tür, als er gerade begonnen hatte, sein Bündel zu packen. Er bat herein, und Giulia betrat die Kammer. Sie sah ihn kurz an, setzte sich mit verschränkten Beinen aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an.

„Ich habe nicht vermutet, dass du so dumm bist“, sagte sie und ließ den Rauch langsam entweichen, aus weit geöffneten Lippen.

Peter sah auf, mehr interessiert als verletzt. Sie trug ein hochgeschlossenes burgunderfarbenes Gewand, das ihrem Gesicht schmeichelte. Ihm wurde bewusst, dass sie viel jünger war, als er gedacht hatte.

„Ich nehme an, du weißt, dass du sterben wirst?“, fragte sie.

„Das wusste ich nicht.“

„Dann bist du tatsächlich dumm. Ich kenne keinen Menschen, der eine solche Reise überlebt hat, aber viele, die eine unternommen haben. Als die Hungersnot in unser Dorf kam, sind Dutzende Männer davongesegelt.“

„Und?“, fragte Peter.

„Na, was denkst du? Kein einziger ist zurückgekehrt.“

„Das heißt nicht, dass sie tot sind.“

„Gewiss heißt es das. Männer aus meinem Dorf retten ihre Familien oder sterben, so einfach ist das. Das sollte selbst einer wie du begreifen können.“

„Einer wie ich reist mit anderen Mitteln.“

„Kein Orkan und keine Seuche dieser Welt machen vor einem edlen Gewand halt.“ Sie sah ihn mitleidig an.

„Jedenfalls wollte ich mich verabschieden. Du bist zwar dumm, aber doch recht lieb, das sieht man an deinen Augen. Sie sind so nackt und wässrig, als könnten sie niemals ein Leid mitansehen ohne sich mit Tränen zu füllen. Und ist das Elend eines Tages zu groß, dann ertrinken sie in ihrem eigenen Werk, einem riesigen, traurigen See aus Tränen“, sagte sie und sprang vom Bett.

„Jeder der ein Werk hat, läuft Gefahr, darin zu ertrinken“, murmelte Peter, mehr an sich selbst gewandt als an das Mädchen. Peter war einen Moment lang versucht, sie zu fragen, ob er ihre Brüste noch einmal sehen dürfe, er sei ja schließlich totgeweiht und so weiter.

„Verrate mir, warum du der Überzeugung bist, eine Reise nach Rom wäre ein totbringendes Unterfangen“, sagte er dann.

„Rom?“, fragte sie. „Man sagt, du habest einen Auftrag am spanischen Hof erhalten. Ich dachte, du brichst nach Valladolid auf.“

Peter schüttelte den Kopf. „Rom“, sagte er.

„Rom“, wiederholte sie achselzuckend. „Vielleicht bleibst du doch am Leben.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen weichen Kuss auf die Wange. Er lächelte sie an und sagte stumm adieu.

In seinen ersten Tagen in Rom schlief Peter nicht. Wie ein Besessener kam er sich vor, während er unermüdlich Skizze um Skizze anfertigte. Er war fest entschlossen, den größten Kanon an Figurationen zu erstellen, den es je gegeben hatte, einen Fundus, aus dem er die Zukunft schöpfen würde. Er zeichnete diverse antike Statuen aus Dutzenden Blickwinkeln, unter anderem den Belvedere Torso, den Apollo von Belvedere und den Sterbenden Seneca. Und er verbrachte Stunden in der Sixtinische Kapelle und fertigte mit schmerzendem Nacken Zeichnung um Zeichnung nach Michelangelos Figurenhimmel.

Doch kein römisches Werk vereinnahmte ihn so wie die antike Skulptur des Priesters Laokoon, der sich – flankiert von seinen beiden Söhnen – im Todeskampf mit zwei Riesenschlangen windet. Wie zuvor Giulias Brüste zeichnete er sie immer und immer wieder, aus jeder erdenklichen Perspektive, um kein noch so kleines Detail zu übersehen. Es war anbetungswürdig, wie die damaligen Steinmetze es geschafft hatten, das starrste aller Materialien in derart schmerzende Bewegung zu bringen. Mit einem Mal keimte in ihm Verständnis für seine Lehrmeister auf. Jahrelang hatte er auf sie herabgesehen, weil sie nachbildeten anstatt zu erschaffen. Doch was gab es angesichts dieses uralten vollkommenen Laokoons noch zu erschaffen? Noch dazu, wenn einem flämisches Blut in den Adern floss.

Er war seit zwei Wochen in der Stadt, als er einen Brief seines Bruders bekam. Philipp schrieb, Erzherzog Albert werde ein Altarretabel in Auftrag geben für Santa Croce in Gerusalemme, der römischen Kirche, in der er die Kardinalswürde empfangen hatte. Albert habe Philipps Arbeitgeber Jean Richardot beauftragt, einen würdigen Maler für diese Aufgabe zu finden. Und er, Philipp, habe Peter gar nicht erwähnen müssen, nein, es sei Richardot selbst gewesen, der ihn vorgeschlagen habe.

Peter ließ den Brief sinken. Er spürte kühle Kirchenluft auf den Wangen und hörte seine Schritte vom Marmorboden widerhallen, während er zwischen mächtigen Säulen den Mittelgang hinunterging, geradewegs auf den Altar zu. Und dort, unter der Kuppel, eingerahmt von goldbesetzten Säulen, sah er sich selbst, das Werk seines Geistes, den Fleisch gewordenen Sohn Gottes.

Philipp schrieb weiter, es handele sich um ein Gemälde der Heiligen Helena, das Albert für eine der unterirdischen Kapellen von Santa Croce spenden wolle. Peter war erstaunt darüber, dass dieser Satz seine Freude um keinen Deut hemmte. Es war sein erstes Altarbild, ob über oder unter der Erde.

In den folgenden Tagen blieb er in der angemieteten Kammer nahe dem Campo de Fiori, auf dem vor einigen Jahren der Priester Giardano Bruno wegen Ketzerei verbrannt worden war, nachdem er öffentlich verkündet hatte, das Weltall sei ewig und unendlich. Erst als er eine Ölskizze der Komposition um die Heilige Helena hervorgebracht hatte, die er für gelungen hielt, wusch er sich hastig, verließ die Wohnung und überquerte den Platz, um in einer Gaststätte etwas zu essen. Der Wirt war ein freundlicher Mann, doch Peter war derart eingenommen von seinem Auftrag, dass er nicht in der Lage war, das Lächeln des Mannes zu erwidern. Er aß den Eintopf aus nicht zu identifizierenden Fleisch- und Gemüsestückchen schnell, bezahlte und wollte sich auf den Weg zurück in die Wohnung machen. Doch mit einem Mal waren seine Glieder schwer und wie erstarrt. Er beobachtete, wie der Wirt mit Speis und Trank vorbeihumpelte, mit den Gästen plauderte, einen Mann hinauswerfen ließ, der am Vortag die Zeche geprellt hatte und sich zwischendurch in großen Schlucken ein Bier genehmigte. Wie merkwürdig es sich anfühlen musste, tagein tagaus am Campo de Fiori Bier auszuschenken.

„Ist Euch nicht wohl?“, fragte eine Stimme dicht an seinem Ohr. Peter fuhr herum. Es war der Wirt, der unbemerkt an ihn herangetreten war, während er noch eine blonde Frau beobachtet hatte, deren Gewand derart eng anlag, dass man meinen konnte, sie wäre unbekleidet gewesen.

„Doch, doch“, gab Peter zurück. „Der Eintopf war gut.“

„Kann ich Euch noch etwas bringen?“

Peter zögerte, bestellte dann einen Krug Bier und beobachtete weiter das Geschehen um ihn herum. Die merkwürdig gekleidete Frau saß nun eng gedrängt zwischen zwei Männern.

„Stimmt damit etwas nicht?“, fragte der Wirt und deutete auf den Krug auf dem Tisch vor seiner Nase.

„Warum?“, fragte Peter, und es war ihm, als erwachte er aus einem Traum.

„Ihr habt das Bier nicht angerührt.“

Peter sah auf den Krug vor sich.

„Geht es Euch tatsächlich gut?“, fragte der Wirt.

„Ja, durchaus. Ich verstecke mich hier nur eine Weile, wenn es Euch nichts ausmacht“, sagte Peter, nahm den Krug zum Mund und trank einen kleinen Schluck.

„Ihr versteckt Euch?“ Der Wirt sah alarmiert aus. „Vor wem?“

„Vor niemandem.“

„Aber Ihr sagtet doch gerade, Ihr versteckt Euch.“

„Ich verstecke mich vor der Heiligen Helena, gewissermaßen.“

„Lastet etwas auf Euch?“, fragte der Mann.

„Nein, nein. Ihr müsst wissen, ich habe soeben eine Komposition vollendet. Davor verstecke ich mich.“

Der Wirt zog die Augenbrauen zusammen.

„Wisst Ihr, welcher der schlimmste Moment im Leben eines Malers ist?“, fragte Peter. „Es ist derjenige, in dem er eine Komposition zum zweiten Mal anschaut, mit neuem Blick. Einem, der nicht mehr von ihr gefangen ist, sondern frei ist. Dieser Blick kann grausam sein.“

Der Wirt sah noch immer skeptisch drein.

„Man würde vermuten, es wäre der Moment, in dem das Bild irgendwo auftaucht, in einem Ballsaal oder einer Kirche, an irgendeinem Ort, wo es eine Menge Menschen sehen“, sagte der Wirt. „Und darüber sprechen“, fügte er hinzu.

Peter hob den Kopf und sah dem Wirt zum ersten Mal in die Augen. Dafür musste man Italien lieben. Wo sonst traf man einfache Leute, die sich ganz selbstverständlich Gedanken machten über Kunst.

„Bevor es dem Urteil der Leute ausgesetzt werden kann, muss es dem meinigen standhalten. Sonst wird es das Gemälde niemals in einen Ballsaal oder eine Kirche schaffen. Sonst wird es im Ofenfeuer enden“, gab er zurück.

Der Mann nickte. „Es ist wie mit einem guten Eintopf. Nur dass mir im Traum nicht einfallen würde, einen Topf mit frisch zubereitetem Essen in die Gosse zu kippen. Dafür ist meine Küche zu groß, mein Kräuterregal zu gut gefüllt“, sagte er und humpelte davon, um einen anderen Gast zu bedienen.

Peter sah in seinen Bierkrug. Er erhob sich, obwohl er den Wirt noch hatte fragen wollen, was mit seinem Bein geschehen war. Während er den Platz überquerte, verabschiedete er sich von dem Gedanken die Komposition wäre vollendet.

Als er das kleine helle Zimmer betrat, gaben die Holzdielen unter seinem Schritt nach und er spürte sein Herz im Kopf pochen. Er betrachtete die Skizze auf der Staffelei in der Mitte des Raumes lange und so kritisch wie möglich, doch er wusste auf den ersten Blick, dass sie ihm standhalten würde.

Die Heilige Helena stand groß, mächtig und andächtig zwischen Säulen und den Holzbalken eines Kreuzes, während sich zu ihrer Rechten eine Bande kleiner Himmelsgeschöpfe vergnügte. Besonders die Engelsfiguren waren ihm erfreulich gut gelungen. Er hatte die Putten fröhlich im Bild herumtoben lassen, auf dass sie den Eindruck erweckten, eine könnte jederzeit herauspurzeln und vollkommen überrascht auf der Schulter des Betrachters landen.

Als die Skizze trocken war, sandte er sie auf dem schnellsten Wege an Jean Richardot, damit er die Komposition absegne. Ihm sei sein Beifall sicher, schrieb der zurück und erteilte Peter gleich den Auftrag für zwei weitere Gemälde, eine Dornenkrönung und eine Kreuzaufrichtung, welche die Seitenwände der Kapelle schmücken sollten.

Bereits einige Tage später bekam er einen Brief seines Herrn, in dem dieser ihm gestattete, in Rom zu verweilen bis der Auftrag zum Gefallen des Erzherzogs erfüllt sei. Allerdings war Annibales Tonfall mürrisch, und Peter wurde schweren Herzens klar, dass er in Kürze nach Mantua zurückkehren musste.

Richardot reiste schließlich persönlich an, um die Installation der Werke zu überwachen und sich ein Bild von der endgültigen Wirkung zu machen. Früh morgens schritt Peter hinter ihm die Stiege zu den unterirdischen Kapellen hinunter. Als sie auf die Heilige Helena zusteuerten, sah es im Kerzenlicht aus, als tanzten lebendigen Putten um die Säulen herum.

Richardot, ein Mann mit vollem rotem Barthaar, der stets wirkte, als bisse er die Zähne fest aufeinander, riss den Mund auf und lachte laut. In ausschweifenden Gesten klopfte er Peter in zur Schau gestellter Begeisterung auf die Schulter und begann zu applaudieren. Das sei nicht weniger als das Werk eines wahren Habsburgers. Es fehle nicht viel, und Michelangelo Merisi da Caravaggio müsse sich vor ihm in Acht nehmen.

Peter Paul. Rubens Leben

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