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Mantua, Juni 1600
Nach zwei Tagesritten landeinwärts stieg der Hof der Gonzagas plump in der Diesigkeit auf. Die Tristesse, die von diesem Ort ausging, traf Peter unvorbereitet, waren die Gonzagas doch für ausschweifenden Prunk und legendäre Feste bekannt.
Die Wachen betrachteten sie feindselig, und seine Beine schienen sich mit Blei zu füllen, während er mit Annibale durch das mächtige schwarze Tor schritt. Es war ihm, als schreite er durch eine Pforte ins dunkle Nichts, aus dem es kein Entkommen gäbe. Die Steine der Burg waren so schwarz wie die Bärte der Männer, das Gras so grau wie die Luft. Nichts deutete darauf hin, dass die Künste hier einen Platz haben könnten. Er schloss die Augen, und bemerkte, wie sich seine Lippen zu einem Ave Maria bewegten.
Als er die Augen wieder öffnete, war er im Himmel. Goldüberzogene Leuchter, weiße Seidenvorhänge, hundert Spiegel und tausend brennende Kerzen, die gewiss mehr Wert waren als er bei van Veen in einem Sommer verdient hatte, versetzten die Gänge der Gonzagas in sonnigen Glanz. Er sah Annibale an, der lächelte wissend, und Peter wandte sich geschwind wieder ab, um zu verhindern, dass das Gesicht des Italieners den Anblick verdarb. Annibale wechselte ein paar Worte mit einem groß gewachsenen Bediensteten im weinroten Mantel, an dem passend zur Innenausstattung der Gänge goldene Knöpfen blitzten und der sich daraufhin fleißig verbeugte, erst vor Annibale, dann vor Peter. Auf ein weiteres Wort Annibales setzte sich der Mann unter Verbeugungen in Bewegung, offensichtlich um Peter seine Kammer zu zeigen. Er war erleichtert, seinen Begleiter los zu sein und folgte dem roten Mantel mit beschwingten Schritten.
Die Kammer war ein kleiner Raum, aber die Einrichtung war ebenso prächtig wie die Gänge, durch die er zuvor geschritten war. Das hohe Himmelbett mit den gelben Vorhängen leuchtete golden im Schein der langen weißen Kerzen, die den Raum warm erhellten. Er merkte wie sich sein Mund unwillkürlich zu einem Lächeln aufschwang. Dies war durchaus ein Raum, in dem man Meisterwerke erschaffen konnte.
Nachdem er sich bei Hofe eingerichtet hatte, wollte er malen, nichts als malen. Doch die Tage vergingen, ohne dass man ihm einen Auftrag erteilte. Und als aus den Tagen Wochen wurden, musste er einsehen, dass er dem Herzog einerlei war.
So saß er entweder zeichnend in der Kammer, seinen privaten Bildideen nachhängend, oder er wanderte durch die Gänge auf der Suche nach Ablenkung. Einmal begegnete ihm dabei eine gesprächige Hofdame, die ihn zu seiner Verwirrung in ihre Kammer einlud, ein anderes Mal sah er ein paar ernsthafte, edel gekleidete Kinder, und er war versucht, sie aufzurütteln und mit ihnen durch die Gänge zu toben. Doch die wichtigste Begegnung war die mit Frans Pourbus. Zunächst sah er ihn nur von hinten, eine schlanke Gestalt mit beschwingtem Gang und aschblondem Haar, das bis in den Nacken reichte. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, wurde sein Geist im selben Moment mit Bildern geflutet. Die vorbeieilende Schelde, der schlafende Marktplatz früh am Morgen, die flatternde Burg Steen, Nikolaas Rockox polterndes Lachen, die Augen der Mutter.
„Wartet!“, rief er der sich entfernenden Gestalt auf Flämisch hinterher.
Der junge Mann blieb sofort stehen und wandte sich ihm lächelnd zu. Peter stellte erstaunt fest, dass er ihn nie zuvor gesehen hatte. Er wusste nicht, was es war, aber etwas in der Art und Weise, wie er sich bewegte und kleidete, hatte Peter das unmissverständliche Gefühl gegeben, der Fremde und er wären vom gleichen Schlag.
Doch vielleicht hatte er sich getäuscht, vielleicht hatte er Altbekanntes und Vertrautes vermutet, wo nichts als Fremdes und Zufälliges war.
„Es ist immer eine Freude, einen Landsmann zu treffen“, sagte der junge Mann und hielt Peter die Hand hin. „Mein Name ist Frans Pourbus, Maler aus Antwerpen.“
Peter nahm seine Hand, lachte, nannte seinen Namen und musste sich zurückhalten, Frans vor Begeisterung nicht zu umarmen. Sie verbrachten den Rest des Tages miteinander, betrachteten Skizzen, trieben etwas Wein auf und redeten und tranken bis spät in die Nacht.
Es war Peter ein Rätsel, wie sie es angestellt hatten, sich in Antwerpen niemals über den Weg zu laufen. Er mochte Frans von der ersten Sekunden an, und das änderte sich auch nicht, als er herausfand, dass sein neuer Freund eine kindliche Liebe zur Porträtmalerei hegte, die Peter unverständlich war, waren die höfischen Personenabbilder doch kaum mehr als ein notwendiges Übel auf dem Weg zu Größerem. Frans trug, wo immer er auftauchte, eine unverwüstliche Fröhlichkeit mit sich herum, um die Peter ihn still beneidete. Es schien seinen Mundwinkel ein natürliches Bedürfnis, sich stets zu einem Lächeln hinaufzuziehen, während seine unnatürlich grünen Augen das warme Licht von Kronleuchtern verbreiteten.
Peters Neid erlosch erst, als er das unbeschwerte Wesen des Kollegen eines Tages in Zusammenhang mit dessen einfältiger Vorliebe für Porträts brachte, und ihm bewusst wurde, dass es seine Fröhlichkeit war, die es Frans niemals erlauben würde, etwas wahrhaft Großes zu erschaffen.
Frans machte ihn mit den höfischen Bräuchen bekannt, und viel wichtiger, mit den Gerüchten. Peter erfuhr, dass der Herzog nicht nur die Malerei förderte und eine umfangreiche Kunstsammlung mit Gemälden Tizians, Correggios und Raphaels besaß, sondern auch der Dichtung, dem Theater, der Wissenschaft und der Musik zugetan war. Frans behauptete, der Dichter Torquato Tasso habe bis zu seinem Tode bei Hofe gelebt, und der Physiker Galileo Galilei sei regelmäßiger Gast der Gonzagas. Claudio Monteverdi lebe sogar bei Hofe, sei aber selten gesehen, da er die meiste Zeit in seiner Kammer über Notenblättern brüte.
„Wenn man sich diesem Ort von außen nähert, würde man es niemals vermuten, aber es ist einer, der einen die Kürze des Lebens vergessen lässt“, sagte Peter, woraufhin Frans ihn rasch um eine Ecke zog und begann, auf ihn einzureden. „Niemals“, sagte er mit einem ernsten Gesicht, das an ihm unendlich komisch aussah, „erwähne in diesen Mauern die Endlichkeit.“
„Die Endlichkeit“, wiederholte Peter, ohne zu verstehen.
„Niemand erwähnt in Gonzagas Gegenwart den Tod. Es ist am besten du hältst selbst deinen Kopf frei von Gedanken an die Endlichkeit des Lebens. Einmal hat er einen Mann einkerkern lassen, weil er über einen fauligen Apfel gesprochen hatte. Ein anderes Mal hat er einem die Zunge abschneiden lassen, weil er sich danach erkundigt hatte, wie lange so ein Gaul in der Regel lebe.“
Peter nickte achselzuckend. Der Herzog schien der Überzeugung zu sein, der Tod würde ihn nicht holen, solange er so täte, als gäbe es ihn nicht. Er war offensichtlich nicht der hellste Geist.
Frans sah sich um. „Gonzaga ist außerdem ein großer Liebhaber der Frauen“, fuhr er fort, nun wieder grinsend. „Er hat sechs eheliche Kinder und wohl mindestens die gleiche Anzahl an Bastarden und ebenso viele Mätressen.“
„Wenn man den Gerüchten glaubt“, fügte Peter hinzu. Er hatte sich angewöhnt, den Dingen grundlegend skeptisch gegenüber zu stehen, insbesondere, wenn der menschliche Hang zur Übertreibung oder Geltungssucht im Spiel war.
Drei Tage später glaubte er jedoch mit einem Male jedes Wort. Er stand Gonzaga leibhaftig gegenüber, und seinen neuen Herrn umgab eine solche Aura von zur Schau gestelltem Dünkel und ungezügelter Fleischeslust, dass keine der Geschichten über ihn mehr unglaubwürdig erschien. Der Herzog trug den schweren Umhang und das seidene Gewand derart nachlässig, dass es wirkte, als hätte er sich in einen Kartoffelsack gewickelt. Dazu waren Unterarme, Hals und Nacken derart dicht mit kurzem schwarzen Haar bewachsen, dass Peter den Eindruck hatte, der Schöpfer hätte ursprünglich vorgehabt, aus Gonzaga einen Ochsen zu machen, und es sich in letzter Sekunde anders überlegt.
Als Peter ansetzte, um mit ihm über die Malerei zu sprechen – wie er es als Hofmaler für seine Pflicht hielt –, winkte der Herzog ab und rief, Peter müsse unbedingt seine Ställe besuchen. „Die prächtigsten Tiere, die Ihr je gesehen habt, das garantiere ich Euch! Von solchen Exemplaren könnt Ihr in Antwerpen nur träumen! In der ganzen Welt beneidet man uns. Brecht noch heute auf, in egal welchen Erdteil, und fragt nach den besten Rössern, die sich finden lassen. Sie werden sich winden und winden, aber schließlich werden sie es zugeben: Wer die besten, schönsten, stärksten Pferde sucht, der muss nach Mantua reisen. Wir haben die prächtigsten Gäule!“, rief er aus und lachte. „Und die prallsten Weiber!“, fügte er hinzu und lachte lauter.
Auf Peters Frage nach seinen Aufträgen für die folgenden Wochen, zuckte der Herzog mit den Schultern und schrie nach Annibale.
„Ich möchte, dass Ihr mich zur Medici-Hochzeit nach Florenz begleitet, alles andere wird Euch Annibale unterbreiten“, sagte er und entließ ihn mit einer desinteressierten Geste der Hand.
Angesichts der vielen Frauengeschichten des Herzogs hatte Peter beinahe vergessen, dass Vincenzo Gonzaga in zweiter Ehe mit Eleonore de Medici verheiratet war. Ihre jüngere Schwester Maria würde im nächsten Monat den König von Frankreich heiraten.
Annibale zog seine Nase in die Breite und erteilte Peter den Auftrag über drei Kopien für die fürstliche Sammlung und einen weiteren über ein Porträt einer Dame fragwürdiger Herkunft. Peter atmete erleichtert aus, verbeugte sich und verließ den Saal, um sich an die Arbeit zu machen. Es würden keine aufregenden Werke sein, aber sie boten doch ansatzweise die Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen.
Er aß kaum in den folgenden Wochen. Es war ihm, als lebte er von den beißenden Dämpfen, die seine Farben verströmten. Kein Hungergefühl wollte sich einstellen. Erst als die Kopien schließlich zum Trocknen in einem der Pavillon-Gärten des Hofes standen, genehmigte er sich eine Pause und ein gebratenes Salbei-Huhn.
Es dauerte lange, bis er den Raum gefunden hatte, in dem die Dame, die er für den Herzog zu porträtieren hatte, ihn erwartete. Zweimal hatte ein Diener ihm den falschen Weg gewiesen, und mit dem Skizzenmaterial unter dem Arm schritt er zunehmend ärgerlich die herzoglichen Gänge entlang. Als er bereits aufgegeben hatte und sich auf den Weg machte, um Annibale zu suchen, sah er endlich das Erkennungszeichen. Die kurzstielige rote Tulpe, die vor der Tür in einer winzigen Vase stand.
Er klopfte, eine Frauenstimme rief „Herein“, und er trat ein. Sie war eine junge Frau mit intakten weißen Zähnen und langem erdig-braunem Haar. Er war sofort überzeugt, es müsse sich um eine der prallen Mätressen des Königs handeln. Sie saß rauchend inmitten der lichtdurchfluteten Kammer, die mit vier deckenhohen Sprossenfenstern ausgestattet war. Peter stellte sich vor. Sie wies auf einen Schemel und fragte mit heller, weicher Stimme und Augen voll von zur Schau gestellter Melancholie, ob er jemals auf Sizilien gewesen sei. Er setzte sich kopfschüttelnd.
„Mein Großvater würde kein Wort mit Euch wechseln“, sagte sie und blies ihren Rauch in einer dünnen, taumelnden Säule gen Decke. Er fragte nach ihrem Namen. Sie sah ihn schweigend aus den Augenwinkeln an.
Während er sein Material ordnete und mit seiner Skizze begann, fing sie an zu erzählen, von irgendeinem winzigen Dorf auf Sizilien, von dem er noch nie gehört hatte, das aber offenbar die feinsten Weine und die treusten Menschen hervorbrachte. Peter schwieg, eingenommen von ihren fleischigen Armen und dem Burgunderton ihrer Wangen. Wer von dieser Frau kein anständiges Bild auf die Leinwand bringen konnte, war kein Maler. Er hätte diese Haut gern berührt, wäre mit den Fingern durch das wilde, volle Haar gefahren, hätte gern ihre Brüste gesehen. Einem solchen Körper musste man das Recht einräumen, sich auf der Leinwand zu entfalten. Wie sonst konnte er vom Wesen berichten, das er beherbergte. Nur wenn er frei war, erzählte er von sizilianischen Weinbergen und feuerfesten Familienbanden.
Die junge Frau missverstand seinen Blick.
„Ich bin des Herzogs Mädchen“, sagte sie und tätschelte mitleidig seine Hand. Peter errötete und vertiefte sich in seine Skizze.
Bei ihrem zweiten Treffen versammelte er die zuvor angefertigten Kohleskizzen auf den Dielen zu seinen Füßen. Im Vergleich zum Modell wirkten sie blass und ungewöhnlich unzureichend. Er wählte eine Skizze aus, auf der die Italienerin den Betrachter aus den Augenwinkeln ansah, als wäre sie dabei abzuschätzen, ob er jemals auf Sizilien gewesen war. Doch sobald er seine Ölskizze begonnen hatte, würdigte er das Papier zu seinen Füßen keines Blickes mehr.
Zwischen dem zweiten und dem dritten Treffen vergingen fünf Tage, in denen Peter ungeduldig und ziellos umherlief. Als es endlich soweit war, spannte er eine Leinwand auf, rührte Farben an und zog einen himmelblauen Kittel über, von dem er glaubte, dass er ihm schmeichelte. Er nahm zwei Staffeleien mitsamt der Kohle- und Ölskizzen unter den Arm, den Kasten mit den Farben und Pinseln in die Hand, und machte sich auf den Weg. Anstatt der roten fand er vor ihrer Kammer eine gelbe Tulpe vor. Als er eintrat und sie sah, war er überzeugt, sie wäre seit der letzten Begegnung noch schöner geworden.
„Wechselt sie ihre Farbe je nach Eurer Stimmung?“, fragte er, auf die Tür deutend.
„Ihr kommt spät“, sagte sie.
„Antwortet Ihr niemals auf eine Frage?“
Sie reckte das Kinn hoch. „Großvater Alberto sagt, gelb ist die edelste aller Farben, denn sie spiegelt die Sonne, die auf unsere Felder scheint.“
„Ein kluger Mann“, sagte Peter, während er die Ölskizze auf der einen Staffelei und die aufgespannte Leinwand auf der anderen platzierte. Als er aufblickte, sah er sie zum ersten Mal lächeln. Ihre Zähne waren nicht so perfekt, wie er geglaubt hatte, wurde ihr Lächeln im linken Mundwinkel doch von einer auffälligen Zahnlücke unterbrochen. Und trotzdem sah er vollkommene Schönheit, welche die Traurigkeit für einen Augenblick aus ihrem Blick verbannte.
Er begann mit den Vorarbeiten, und sie mit einer Geschichte über Großvater Alberto und einen Stier, der offenbar in dessen Vorgarten eingedrungen war und die Bettlaken von den Leinen gerissen hatte. Mitten in der Erzählung begann sie, die Schnüre am Ausschnitt ihres Kleides zu lösen. Einen Moment später sah er ihre Brüste, spitz und weiß, und er wusste nicht, was er zuerst tun sollte. Rasch schob er die Staffelei weg, griff nach einem leeren Blatt und begann zu zeichnen. Er musste diese Gelegenheit nutzen, um sie aus jeder denkbaren Perspektive aufs Papier zu bringen. Immer wieder sah er zur Tür, während das sizilianische Mädchen redete und rauchte. Wie ein Naturforscher, der einen seltenen Schmetterling untersucht, kreiste er um sein Modell. Ihre Brüste hatten keine Ähnlichkeit mit denen, die er an antiken Statuen gesehen hatte. Sie waren nicht nur spitzer, sondern besaßen auch größere Brustwarzen, die wie ein leicht schielendes Augenpaar in unterschiedliche Richtungen wiesen. Die rechte Brust war etwas voller als die linke. Dafür besaß die linke unter der Brustwarze einen Halbkreis aus vier kleinen Muttermalen.
Peter stellte sich unwillkürlich ihre Mutter vor, mit dem gleichen Muster auf der Brust, dann ihre Tanten, ihre Schwestern, und schließlich die gesamten weiblichen Einwohner ihres Heimatdorfes. In seiner Vorstellung trug schließlich ganz Sizilien die halbmondförmigen Male unter der linken Brustwarze.
„Ich werde Euch auf ewig dankbar sein“, sagte er, als sie begann, sich wieder zu bekleiden. Sie nickte und sagte, sie heiße Giulia.