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Mantua, April 1602
Das Erste, was er in Mantua erblickte, war Giulia, die rauchend auf einem Stein saß. Es war ein grauer, warmer Frühlingstag, und sie trug ein freizügiges Gewand, dessen Lachsfarbe ihr nicht schmeichelte. Gerne hätte er sie ohne ein Wort an sich gepresst. Doch er ließ sich lediglich neben ihr vom Pferd gleiten, stand dann da und betrachtete sie.
„Du lebst noch immer“, sagte sie, und es überraschte ihn, wie hell ihre Stimme klang.
„Und der Himmel ist noch so bleischwer wie eh und je“, gab er zurück, enttäuscht darüber, wie wenig Zuneigung in ihrer Stimme lag.
„Man gewöhnt sich daran.“
„Das solltest du nicht. Er steht dir nicht, dieser Himmel.“
„Oh nein?“, fragte sie, lächelte ein wenig und zog an ihrer kleinen Zigarre. „Ich meine schon. Je grauer er ist, desto rosiger werde ich.“
„Du freust dich nicht, mich zu sehen“, sagte er, ohne eine Frage zu stellen.
„Ich habe vor einer Weile aufgehört, mich zu freuen. Aber wenn ich das nicht getan hätte, würde ich mich jetzt gewiss freuen“, gab sie zurück, während sie den Tabakrauch langsam entweichen ließ, sodass er sich einen kurvenreichen Weg durch ihr Gesicht hinauf zum Himmel bahnen musste.
„Das ist das Traurigste, was ich je gehört habe.“
„Schwer zu glauben“, sagte sie und zog die schwarzen Augenbrauen hoch.
„Ich möchte dir etwas zeigen, das dich aufmuntert. Komm heute Abend in meine Kammer“, sagte er und erschrak im selben Moment über seine Worte.
„Gewiss nicht“, sagte sie leise. Dann wandte sie sich um und ging mit nackten Füßen in Richtung Hof.
In den folgenden Wochen bot sich Peter derart wenig zu tun, dass er in ruhigen Momenten immer wieder diese Füße vor sich sah, wie sie in kreisenden Bewegungen, als gingen sie bei jedem Schritt gleichermaßen vor wie zur Seite, ihren Weg über den verdorrten Rasen machten. Er fühlte sich antriebslos und bekam Angst, eine schlimme Krankheit hätte ihn erfasst. Morgen um Morgen erwachte er mit schmerzender Kehle, die sich anfühlte, als hätte jemand Sand hineingestreut. Dazu plagte ihn der Kopf in einer Weise, die ihn beunruhigte. Es war kein Schmerz im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Druck, der gleichzeitig von allen Seiten zu kommen schien und ihn rastlos machte. Mehrmals war er kurz davor, den Arzt zu rufen, doch jedes Mal hielt ihn der Gedanke zurück, der könnte auf die Idee kommen, ein Loch in seinen Schädel zu bohren, um den Druck zu mindern.
Lustlos fertigte er Kopien und Skizzen an, hoffend, Gonzaga würde ihm durch Annibale einen Auftrag erteilen, der seinen Geist belebe. Die Erinnerung an den Altar in Gerusalemme war auch nicht geeignet, seine Stimmung zu heben, war er doch mit dem Ergebnis seiner Arbeit nun, da er Distanz zum eigenen Werk gewonnen hatte, nur teilweise zufrieden.
Es war erst Mittag und dennoch saß er bei Kerzenschein in einem Sessel in der Bibliothek. Vor dem Fenster ergoss sich brutaler Regen, der jegliches Licht zu schlucken schien. Peter entfaltete einen Brief des Bruders und begann zu lesen. Philipp erzählte darin ausgiebig von den Eskapaden mit seinem Schützling Guillaume Richardot, den er nicht nur im Lateinischen und den Rechten unterrichtete, sondern mit dem er offensichtlich auch ausgiebig dem Wein und den Weibern zusprach. Guillaume sei jung, gewiss, schrieb Philipp, aber es sei da eine besondere Verbindung zwischen ihnen, eine wie sie nur zwischen Männern existiere, und nur dann, wenn sich zwei Geister auf gleicher Höhe begegneten. Einmal habe die gleiche knochige Dame aus Deutschland, ihr Name sei Gudrun gewesen, zuerst mit ihm und danach mit Guillaume das Bett geteilt, und das habe sie auf rätselhafte Weise noch näher zusammengebracht.
Ganze fünf Seiten lang erstreckten sich Philipps Beschreibungen von Haarfarben und weiblichen Körperteilen, und Peter verspürte kurzzeitig Sehnsucht nach Giulia. Doch stärker noch fühlte er etwas anderes in sich aufsteigen, eine Erinnerung an alte Zeiten, an Zusammengehörigkeit, an geistige Heimat. Gleichzeitig breitete sich angesichts von Philipps Erzählungen Unruhe und Tatendrang in ihm aus, und er beschloss ein Freundschaftsporträt zu beginnen, zu Ehren der Männer in seinem Leben.
Problematisch war an diesem Vorhaben lediglich, dass es ihm im Allgemeinen höchst unangebracht erschien, das eigene Gesicht auf die Leinwand zu bringen. Viele Maler fertigten Selbstporträts von sich an, gewiss, und das scheinbar ohne sich jemals gegen den Vorwurf der Eitelkeit verantworten zu müssen, doch ihm hatte die Idee seit jeher Unbehagen bereitet.
Er besaß bereits Skizzen der anderen, die er abbilden wollte; sein Gesicht war das einzige, das er nie gezeichnet hatte. Er verließ die Bibliothek, ging schnellen Schrittes die dämmrigen Gänge entlang und stellte sich in seiner Kammer vor den kleinen milchigen Spiegel. Wie merkwürdig Teile dieses Gesichts beschaffen waren. Als gehörten sie einem Fremden von weit her, halb Mensch, halb Tier. Er betrachtete die nackten Augen, die ihn kalt ansahen, die kantige Nase, den fransigen Bart, und musste feststellen, dass sein Gesicht in entspannter Pose stets den Anschein erweckte, er hätte soeben in einen leicht fauligen Apfel gebissen. Dieser Gedanke brachte ihn zum Lachen, obwohl er allein war, und sogleich verschwand der angewiderte Ausdruck. Er wandte sich ab und nahm sich seufzend vor, öfter zu lachen.
Die Arbeit am Freundschaftsgemälde zog sich hin und lastete auf ihm, auch wenn die Schmerzen im Hals und der Druck im Kopf ein wenig schwächer zu werden schienen, je näher er der Fertigstellung kam. Jedes Mal, wenn er das halbfertige Werk in seiner Kammer erblickte, hatte er das Bedürfnis, den Blick abzuwenden. Als der fünfte untätige Tag vergangen war, an dem er sich vor seinem eigenen Werk versteckte, beschloss er, dem Feind ins Auge zu sehen. Er nahm einen Schemel und ließ sich mit dem festen Vorsatz vor der Staffelei nieder, nicht eher aufzustehen, bis er herausgefunden hätte, was an dieser Komposition nicht stimmte.
Es dauerte nicht lange, bis er sich im Klaren darüber war, dass sich sein Verdacht nicht bestätigte. Er war durchaus in der Lage, sein eigenes Gesicht auf der Leinwand wohlwollend zu betrachten, ebenso wie die Gesichter seines Bruders, Guillaume Richardots, ihres gemeinsamen Lehrers Justus Lipsius und des ausnahmsweise ernst dreinblickenden Frans Pourbus.
Justus Lipsius bildete gewissermaßen das Fundament ihrer Freundschaft, hatte er sie doch alle gleichermaßen ausgebildet, ihre Geister geformt und ihr Leben nachhaltig geprägt. Er stammte aus wohlhabendem Hause und hatte sich Zeit seines Lebens – frei von der Notwendigkeit, seinen Unterhalt selbst verdienen zu müssen – vollends der Forschung und der Lehre gewidmet. Als junger Mann war er viel gereist, hatte die alten Schriften übersetzt, allen voran Seneca, war bekannt geworden und hatte in der Folge Lehraufträge an den Universitäten von Jena, Leiden und Löwen erhalten. Er war zum Calvinismus übergetreten, zur katholischen Kirche zurückgekehrt, und pflegte schließlich zu sagen, ob man Katholik oder Protestant sei, diese Frage sei so unbedeutend wie die, ob man in Löwen oder Leiden begraben werden wolle. Am Ende sei man doch allesamt gleich, nämlich tot.
Philipp studierte bei ihm in seiner Zeit in Löwen, avancierte zu seinem Vertrauten und schrieb Peter regelmäßig Briefe, in denen der Name Justus Lipsius hundertfach vorkam. Schließlich wurde Philipp ins sagenumwobene conturbernium aufgenommen, einen engen Zirkel von herausragenden Studenten, die im Hause Lipsius wohnten und lernten. Alle Mitglieder hatten sich vollends der stoischen Lehre verschrieben, schrieb Philipp, und die Gemeinschaft in diesen Wänden sei unbeschreiblich und größer als alles, was er je gekannt habe. Das Ideal der Gelassenheit und Selbstbeherrschung hatten sofort auch auf Peter eine starke Anziehung ausgeübt, und bald war ihm, als lebte er ebenfalls im Hause Lipsius, dessen Alltag er durch Philipps Briefe mitverfolgte und durch die Schriften, die er ihm empfahl, gar miterlebte. Er sog Senecas Worte in sich auf und war bald in der Lage, sie in großen Teilen auswendig aufzusagen. Oftmals kamen ihm des Nachtens Zeilen davon in den Sinn, die unaufhörlich seinen Geist bevölkerten.
Wir sagen immer, es habe nicht in unserer Macht gestanden, welche Eltern wir bekommen, da sie uns durch Zufall gegeben sind: in Wahrheit aber können wir über unsere Herkunft selbst entscheiden. Es gibt Familien der edelsten Geister. Wähle, in welche du aufgenommen werden willst; nicht nur ihren Namen wirst du bekommen, sondern auch ihre Güter, und zwar solche, auf die du nicht in armseliger Knauserigkeit aufpassen müssen wirst; sie werden sich vergrößern, an je mehr du sie verteilst.
Einige Minuten stand Peter vor dem Gemälde und ließ die alten Texte bereitwillig in sein Bewusstsein.
Kann es etwas Törichteres geben als das Denken der Menschen, ich meiner jener, die sich ihrer Klugheit rühmen? Allzu mühsam sind sie beschäftigt: auf Kosten ihres Lebens richten sie ihr Leben ein, um besser leben zu können.
Peter stellte sich Heerscharen von eifrig umherwieselnden Ratsherren vor und wusste mit einem Mal, was das Problem war. Es war Balthasar Moretus. Er hatte in ihrer Mitte nichts verloren. War er früher, als sie Burschen waren, auch ein ausgezeichneter Kamerad gewesen, so hatte er sich als Erwachsener mehr und mehr zu einem von den von Seneca beschriebenen Törichten entwickelt. Er hatte die Druckerei seines Großvaters Christopher Plantin übernommen und steckte zu jeder Zeit bis zum Hals in den Geschäften, war zu beschäftigt für Gespräche, die ihm nicht die Erweiterung von Vermögen und Einfluss versprachen oder auf die überhöhte Anpreisung der eigenen Leistungen angelegt waren. Gewiss hielt er es für eine Verschwendung seiner Zeit, Seneca zu lesen.
Peter sprang auf. Er würde Balthasar durch Jan van den Wouwer ersetzen, einen Mann, den er in seiner Erinnerung in kurzen Hosen, mit Zahnlücke und verschmierter Nase vor sich sah. Jan wiederum hatte, wenn Peter sich richtig entsann, immer schon behauptet, Balthasar sei ein großsprecherischer Hohlkopf.
Er war gerade damit fertig geworden, die letzten hauchdünnen Pinselstriche aufzutragen, als es an der Tür klopfte, ein Dienstbote eintraf und ihm ein Schreiben überreichte. Er legte die Palette weg und entrollte es. Annibale erteilte ihm darin den Auftrag, drei enorme Gemälde für den Chor der Jesuitenkirche anzufertigen.
Peter fühlte Leichtigkeit in sich aufsteigen. Drei riesige Kirchengemälde, gestaltet nach seinem Ermessen, ganz ohne die kleinlichen Vorgaben irgendwelcher Geistlicher!
Sofort tauchten Szenen vor ihm auf. Er sah die Taufe Christi, er sah milchige Engel, die Fleisch gewordene Dreifaltigkeit und prächtige Gonzagas, die zu ihnen aufblickten. Eine Hommage an die Venezianer, und doch allein sein Werk.
Er begann, sämtliche Skizzen und Zeichnungen hervorzukramen, die auch nur im Entferntesten mit dem Thema in Verbindung standen. Auf dem Boden sitzend, umgeben von hunderten Blättern und einigen Büchern, begann er mit schnellen Federstrichen eine Komposition zu entwerfen.
Als es an der Tür klopfte, erstarrte er. Er überlegte noch, ob er schweigend darauf warten sollte, dass der Besucher wieder verschwände, oder versuchen, rasch etwas Ordnung ins Chaos zu bringen, als sich die Tür öffnete. Sie kam herein. Ihr langes Haar schien im Dämmerlicht der Kammer aus tausend filigranen Ästen zu bestehen, und das Weiß ihres Kleides leuchtete ihm unwirklich entgegen.
Es war schon eine interessante Laune des Schicksals, dass Giulia in genau dem Augenblick auftauchte, als er sie soeben vergessen hatte. Wäre sie nur eine Stunde eher erschienen, seine Hände wären feucht geworden und er hätte angefangen, Unsinn zu reden. Nun wurde er beinahe ärgerlich darüber, dass sie ihn unterbrach, und fühlte Ungeduld in sich aufsteigen.
„Was wolltest du mir zeigen?“, fragte sie.
„Das habe ich jetzt nicht mehr. Habe es verschenkt“, log er.
„Was war es?“
„Ein Gemälde.“
„Und das hätte mich aufmuntern sollen?“
„Ein Gemälde von Sizilien.“
„Das glaube ich nicht. Du bist nie dort gewesen. Wie könntest du es malen?“
Peter deutete auf ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden lag und eine Landschaft zeigte.
„Ich hole es mir wieder“, sagte sie und machte sich ein Stückchen größer. „Wem hast du es geschenkt?“
Peter lachte.
„Du holst es dir wieder?“, fragte er.
Sie nickte.
„Ich male dir ein Neues, als Abschiedsgeschenk. Sobald ich die Gemälde für die Jesuitenkirche vollendet habe.“
„Du und deine ewigen Reisen“, sagte sie, ging zum Bett, kletterte hinein und setzte sich mit verschränkten Beinen hin. „Ich warte so lange.“
Peter lachte, zuckte mit den Schultern und begann zu zeichnen. Bald war seine Kammer erfüllt von Tabakrauch. Als es zu finster zum Zeichnen wurde, zündete er drei Kerzen an, die er in einem Halter neben sich auf den Boden stellte. Giulia saß noch immer auf dem Bett, rauchte und betrachtete ihn.
Als er müde wurde und versucht war, ein wenig zu schlafen, saß sie noch immer da. Er stand auf, reckte sich, gähnte und stand dann unschlüssig vor dem Bett. Nach einer Weile streckte sie eine Hand nach ihm aus, die er zögerlich ergriff. Sie zog ihn zu sich und er stellte überrascht fest, dass er mit einem Mal kaum mehr müde zu sein schien. Er hätte wieder an die Arbeit gehen können, doch da spürte er sie auf seiner Haut, ihre Lippen, weich und warm, und er vergaß die Jesuitengemälde. Für eine Weile.
Als er aufwachte, sah er als erstes Giulias Augen, und ihm fiel auf, dass ein Schleier auf ihnen lag, den er früher nie an ihr bemerkt hatte. Ihm wurde bewusst, dass es ihm schwerfallen würde, sie in Mantua zurückzulassen. Sie stand angezogen vor dem Bett, in dem er noch in seiner Nachtwäsche lag.
„Komm mit mir nach Rom“, sagte er.
Sie schüttelte beinahe unmerklich den Kopf.
„Du weißt doch, ich bin des Herzogs Mädchen.“
„Das musst du nicht in alle Ewigkeit bleiben.“
„Doch“, sagte sie und es war als zöge sich im selben Moment ein Vorhang zu, der den Blick auf ihr Innerstes vollends versperrte.
„Bist du deshalb so traurig?“
„Wer sagt, dass ich traurig bin?“
„Du.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Als ich in Mantua ankam, hast du gesagt, du hättest aufgehört, dich zu freuen.“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Das ist wohl genau das Problem mit mir. Die Vergangenheit vergesse ich, die Gegenwart ignoriere ich und vor der Zukunft ängstige ich mich.“
„Komm mit mir nach Rom!“
„Und dann? Willst du ein Mädchen wie mich vielleicht heiraten?“
Peter schwieg.
„Du könntest bei mir und meinem Bruder Philipp wohnen“, sagte er dann.
„Bis du dir ein anderes Mädchen suchst. Nein, nein, ich gebe nicht das auf, was ich hier in Mantua habe, um ein paar Monate mit dir zu leben, bis du es dir anders überlegst.“
„Lieber teilst du das Bett mit einem Ochsen?“
Sie nickte. „Er hat mir versprochen, dass ich meine Kammer und meine Annehmlichkeiten bei Hofe behalte, solange ich möchte. Selbst wenn ich so alt bin, dass er kein Interesse mehr an mir hat. Das nimmt zumindest der Zukunft ihren Schrecken.“
Sie zuckte mit den Schultern, gab ihm einen flüchtigen Kuss und verließ die Kammer.
Vor seiner Abreise nach Rom sah er Giulia nur noch ein einziges Mal, aus der Ferne, wie sie mit einer kleinen Gruppe Frauen den Gang hinunterkam. Er hob die Hand zum Gruß und sie nickte beinahe unmerklich. Einen winzigen Moment lang erwog er, sie zu entführen und zu einem besseren Leben zu zwingen. Dann wandte er sich ab, um die letzten seiner Habseligkeiten für die Reise zu verpacken. Er verließ Mantua mit einer vollbeladenen Kutsche, an der ein nasser, unnachgiebiger Wind zerrte, bis der Hof Gonzaga außer Sichtweite war.