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Palermo, Herbst anno 1201

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Bald plagt mich der Deutsche,

bald verletzt mich der Toskaner,

bald quält mich der Sizilier ...“

Der junge Friedrich II. in einem Brief an die Fürsten des Reiches

Entsetzen stand in den Augen des Jungen, der Haken schlagend über den Basar rannte und im Vorüberlaufen am Korbmacherstand einen Stapel Füllkörbe umriss. Der beleibte Mann, der ihm dicht auf den Fersen war, schwang ein blankgeschliffenes Hackebeil, wie die Fleischer es verwenden, um Hammelhälften zu zerteilen. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er es benutzen würde, sollte er den Jungen einholen. An der Auslage eines Obststandes stieß der Flüchtende mehrere Kisten mit Zitronen um, die gelben Früchte rollten die abschüssige Gasse hinunter. Der Obsthändler kreischte wie ein Weib und schloss sich dem Beilschwinger an.

In einer Seitengasse, die vom Hafen kam und auf den Markt mündete, lehnte ein junger Edelmann an einer Hausecke. Von seinem Standpunkt aus hatte er einen guten Überblick über das Geschehen. Er sah, wie der Tuchhändler, auf dessen Stand der Flüchtende zusteuerte, sich breitbeinig vor seinen Stoffballen aufstellte, seine Fäuste schüttelte und schrie: „Diesmal kriegen wir dich, verdammter aleman!“. Zu seiner Rechten entdeckte der junge Beobachter eine Frau, die sich über die Auslagen eines Gewürzhändlers beugte, bis das Geschrei auch ihre Aufmerksamkeit weckte und sie sich aufrichtete. Sie trug Seidenhosen arabischer Machart, ein zarter Schleier verdeckte ihr Gesicht. Er runzelte die Stirn, denn ihre Gestalt und die Art, sich zu bewegen, kamen ihm vage bekannt vor. Der Junge rannte jetzt direkt auf sie zu, hinter sich eine ständig anwachsende Meute von Verfolgern. Die wütende Menge schrie aleman und maledetto und fuchtelte mit Messern, Stöcken und anderen gefährlichen Gegenständen. Da die Verfolger rollendem Obst und Scherbenhaufen ausweichen mussten, vergrößerte sich der Vorsprung des Flüchtenden. Der Gewürzhändler hinter dem Tresen stieß einen warnenden Ruf aus. Er schien zu überlegen, ob er seinen schwerfälligen Körper nach vorn bewegen sollte, doch der Junge war bereits heran. Die Frau mit dem Schleier öffnete die Arme, als wolle sie ihn auffangen, da schlug der Kleine einen sehenswerten Haken, wich nach links zwischen die Marktstände aus und rannte schnurstracks auf seinen heimlichen Beobachter zu. Überrascht schrie er auf, als dessen Arm hervorschnellte und ihn am Kragen packte. Dunkle Locken und knielange Hosen aus sizilianischer Wolle wiesen den erfolgreichen Häscher als Einheimischen aus. Der feine Stoff seiner Beinkleider und das helle Linnen des Hemdes ließen außerdem einen Mann von Stand erkennen. Das hielt die Menge ab, sofort über den Gefangenen herzufallen, der verbissen mit den Armen ruderte und nach hinten austrat. Nach einigen Augenblicken sprachlosen Staunens regte sich unter den Verfolgern Unruhe.

„Er gehört uns!“, rief der Korbhändler. „Gebt ihn heraus, den kleinen bastardo!“

„Was hat er getan?“, fragte der junge Mann.

„Er klaut mit seiner Diebesbande mehr, als er essen kann!“, schnaufte der Zitronenhändler.

Der Metzger drehte das Beil in der Hand und knurrte: „Was soll das Gerede? Es muss endlich ein Ende haben.“ Er fuhr mit dem Daumen über die blank geschliffene Klinge. „Ich kürze seine klebrigen Finger.“

„Er ist ein Kind, das seht ihr doch!“ Zum ersten Mal mischte sich die Frau mit dem Schleier ein.

Der junge Mann wandte überrascht den Kopf, als er ihre Stimme hörte. Ihr Oberkleid war aus teurem Damast gefertigt, vom Schnitt her allerdings längst aus der Mode. Hinter der zarten Seide des Schleiers schimmerte ihr Gesicht weiß wie Milch. Die Leute murmelten und tuschelten, kurz abgelenkt durch diese hellhäutige Frau.

Der Zitronenhändler kam endlich auf das dringende Anliegen zurück. Er deutete mit seinem langen Messer hinter sich. „Seht, was er angerichtet hat!“ Die beträchtliche Verwüstung zog sich durch die Marktgasse. „Das ist nicht das erste Mal. Wollt Ihr für den Schaden aufkommen?“ Sein Messer zeigte jetzt auf den jungen Mann, an dessen Arm der Gefangene zappelte.

Zustimmend knurrend rückten die Leute einen Schritt vor. Die Frau schlug ihren Schleier zurück. „Fasst ihn nicht an!“

„Luna?“, rief der Edelmann. Ihre ungewöhnlich hellen Augen forschten in seinem Gesicht. Dann hob sie die Hände. „Florent, du bist es!“

„Was wird nun?“, schrie der Zitronenhändler ungeduldig. „Gebt Ihr ihn freiwillig raus?“

„Diebe! Ladri!“ Unerwartet kam Bewegung in die Leute, als aus dem Zentrum des Marktes vereinzelte Rufe kamen. „Dort laufen die anderen! Schnappt sie euch!“

Ohne Zögern drehten die Händler um und rannten zurück zu ihren Ständen, die unbewacht in der Morgensonne lagen. „Schnell!“ Florent drängte sie in die Nebengasse, aus der er vor wenigen Minuten gekommen war. „Lasst uns verschwinden.“

Der Junge wollte sich losreißen, doch er packte ihn fester. „Du bleibst, amico mio, ich will wissen, für wen ich mir Ärger einhandele.“ Mit hastigen Schritten liefen sie die Gasse hinunter in Richtung Hafen.

„Was machst du in Palermo?“, fragte er Luna.

„Ich arbeite bei einer Kräuterfrau.“

Als er abwartend schwieg, fügte sie hinzu: „Ursprünglich wollte ich zurück in den Norden, doch Lorna ist blind und braucht mich.“

„Kann ich endlich gehen?“, begehrte der Junge auf.

Florent schüttelte den Kopf. „Zuerst klären wir ein paar Dinge: Wie ist dein Name und wo bist du zu Hause?“

Der kleine Dieb schniefte abfällig und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Unter dem Straßenstaub kamen ein paar vereinzelte Sommersprossen zum Vorschein. Florent schätzte ihn auf sechs oder sieben Jahre. Seinem Selbstbewusstsein nach zu urteilen, gehörte er zu den Bettlerkindern, die sich in Palermos Gassen durchschlagen mussten. Sein Wams starrte vor Schmutz, war jedoch von bester Qualität. Das Hemd aus feinem Linnen wies am Ärmel einen Riss auf, die Beinkleider waren aus teurer Wolle gefertigt. Der Junge trug sogar lederne Schuhe, was für ein Bettlerkind mehr als ungewöhnlich war.

Florent knuffte ihn leicht in die Seite. „Wenn du nicht redest, dann bringe ich dich umgehend zurück zu dem Metzger. Der hatte irgendwas mit deinen Fingern vor, erinnerst du dich?“

Sie bogen am Kai nach Osten ab. Auf etwa einem Dutzend windschiefen Tischen boten Fischer schreiend ihren frischen Fang an. Es roch nach Salz, Tang und Fischabfällen. Sie tauchten ein in die Menge schwatzender Hausfrauen und körbetragender Mägde, die mit kritischen Mienen und Fingern die zum Teil noch zappelnden Fische, Oktopusse und Krabben prüften. Die Blicke des Jungen hingen an einem Stapel frischer Seehechte.

„Hunger?“, fragte Luna.

„Ich schon“, bemerkte Florent. Sie blieben bei einer älteren Frau stehen, die in einer großen Pfanne Garnelen röstete. Es duftete verführerisch. Er kaufte für jeden eine Portion, die die Alte in einem Kohlblatt reichte. Der Junge griff zögerlich zu.

„Was ist? Bist du etwa wählerisch?“, fragte Luna und fingerte vorsichtig nach einer der heißen Garnelen.

„Hab keinen Hunger.“ Sein Tonfall war noch immer verstockt und sein Blick suchte die Umgebung ab.

„Denk gar nicht daran!“, knurrte Florent und versuchte, eine heiße Garnele mit den Lippen aus dem Kohlblatt zu fischen. „Ich habe dich am Kragen.“

„Warum stiehlst du, wenn du keinen Hunger hast?“, fragte Luna. Sie liefen am Kai entlang und ließen den Trubel des Fischmarktes hinter sich.

Der Junge verdrehte die Augen und fuhr sich mit der freien Hand durch sein struppiges helles Haar. „Es war nicht für mich.“

„Für wen dann? Für deine Freunde?“

Er schwieg und griff sich nun doch eine Garnele.

„Warum haben die Händler aleman geschrien?“, fragte Florent.

„Mein Vater kam aus dem Norden, aus Deutschland.“

Luna musterte die sandfarbenen Haare des Jungen. „Ist er tot?“

„Ja, schon lange.“

„Aber deine Mutter …“

„Gestorben.“

Luna sah ihn mitleidig an, erntete einen genervten Blick aus graublauen Augen und bemühte sich um einen neutralen Tonfall: „Wer kümmert sich um dich?“

Er leckte das heiße Öl vom Kohlblatt. „Die Mägde im Palazzo.“

Florent schob die Brauen hoch, sodass sie unter seinen dunklen Locken verschwanden. „Welcher Palazzo?“

Wieder sah der Junge sich um, als warte er auf jemanden. „Suchst du deine Freunde?“, fragte Florent. „Habt ihr die Marktleute gemeinsam bestohlen?“

Der Bengel stöhnte. „Wir wollten nur eine Handvoll Rindfleisch. Das hätte den Geizhals von Metzger nicht umgebracht.“

„Wozu Rindfleisch?“

„Für den Falken.“

„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“, schimpfte Florent. Er hatte seine Garnelen aufgegessen und machte sich über das ölgetränkte Kohlblatt her. „Ein wenig dankbar könntest du sein. Wer weiß, was der Metzger mit seinem Beil inzwischen alles …“

„Niemand kriegt Federico!“, trumpfte der Junge auf, ohne zu merken, dass er seinen Namen verraten hatte. „Wenn Ihr mich nicht feige aus dem Hinterhalt gegriffen hättet, wäre ich ihnen davongerannt.“

Florent furchte die Stirn. „Feige?“ Die Reste seines Kohlblatts fielen in den Sand.

Im selben Moment zeigte der Bengel mit erschrockener Miene in Richtung Fischmarkt: „Da, seht!“

Sie wandten die Köpfe und starrten hinüber zu den Ständen, wo nach wie vor Frauen und Knechte mit den Fischern feilschten, scherzten und stritten. Dahinter schaukelten die Fischerboote friedlich in der Dünung.

„Was ist?“, fragten Luna und Florent wie aus einem Mund. Als sie sich umdrehten, war der Junge verschwunden.

Florent fluchte. „Dieser kleine Bastard!“

„Pfiffiges Kerlchen“, lachte Luna.

Doch Florent schien ernsthaft verärgert. „Zu gern hätte ich ihn seinen Eltern übergeben.“

„Er behauptet, sie seien tot. Er sah nicht so aus, als ob sorgende Eltern auf ihn warten.“

„Wahrscheinlich ist er der Spross einer armen Magd, die ihn längst nicht mehr im Griff hat. Die Ritter aus dem Norden hinterlassen bei jedem Feldzug ein kleines Heer von blauäugigen Bastarden auf der Insel.“

Luna schüttelte den Kopf. „Dafür ist er zu gut gekleidet.“ Sie wischte sich das Fett von den Lippen. „Doch jetzt erzähle von dir, was tust du in Palermo?“

„Ich erhalte im Normannenpalast Anstellung als Schwertmeister.“ Er sah nach der Sonne. „Ich glaube, ich muss mich beeilen, wenn ich dort heute noch jemanden erreichen will.“

„Du willst im Palast arbeiten?“ Lunas Stimme war voller Unbehagen. „Nach all dem?“

„Ich habe versucht, auf dem Land zu leben“, sagte Florent und seine Worte klangen bitter. „Mein Vater besitzt Oliven- und Zitronenhaine unten im Süden. Aber ich bin kein Bauer. Ich brauche das Schwert in meiner Hand.“ Sie schlugen unwillkürlich den Rückweg ein. „Und du? Warst du noch einmal im Palast, seit damals?“

Luna schüttelte den Kopf. „Ich bin erst seit wenigen Wochen in Palermo. Und die Leute dort oben gehören nicht zu Lornas Kundschaft.“

Nachdem der Hafen hinter ihnen lag, passierten sie auf der Cassaro, wie die Sarazenen die Straße einst nannten, zunächst die Porta Felice, das Tor, an dem die Seeleute kontrolliert wurden, die in die Stadt wollten. Nach der Porta Nuova ließen sie die gewaltige Kathedrale von Palermo rechts liegen und bogen zum Normannenpalast ab. Seine spitzen Zinnen ragten wie die Zahnreihe eines Raubtieres in den blauen Himmel. Unter König Roger II. war er zur Residenz umgebaut und unter Kaiser Heinrich gründlich renoviert worden. Die arkadenartigen Fensterbögen und Simse im obersten der fünf Geschosse erinnerten an die Architektur der Sarazenen, von der die normannischen Baumeister sich inspirieren ließen. Beim Anblick der Mauern dachte Luna an den prächtigen Palastgarten mit seinen verschlungenen Pfaden unter einem dicht gewachsenen Dach aus Weinranken, wo zahlreiche Wasserspiele für Erfrischung sorgten. Dort hatte sie mit König Rogers Sohn Wilhelm Latein geübt, während seine Schwestern zwischen den Springbrunnen Haschen spielten, zwei wonnige kleine Mädchen, die nicht ahnten, dass ihr Schicksal sie bald in eine feuchtkalte Festung nördlich der Alpen verschlagen würde.

„Wie lange bist du schon in Palermo?“, fragte Luna.

„Seit gestern. Mein Vater hat mir die Anstellung besorgt. Er und Walter von Pagliara kennen sich gut.“

„Der Kanzler?“ Sie erklommen den steilen Anstieg zum Hauptportal und Luna schnaufte leise. „Was ist das für eine Anstellung?“

„Ich soll den kleinen König im Bogenschießen und im Schwertkampf unterweisen.“

„Oh, ich erinnere mich an deine Lektionen damals in Bari.“ Sie senkte ihre Stimme: „Luna, du sollst nicht tanzen, sondern kämpfen!“

Er nickte grinsend. „Dir fehlte die Kraft und Prinz Wilhelm die Eleganz.“

„Denkst du oft an ihn?“

„Es vergeht kein Tag. Gut, dass Kaiser Heinrich tot ist, ich hätte sonst keine Ruhe.“

Sie waren am Tor angekommen. Einer der Wachleute sah ihnen aufmerksam entgegen. Er würde Luna nicht ohne einen triftigen Grund ins Innere des Palazzos lassen.

Sie blieb stehen. „Sehen wir uns wieder?“

Florent überlegte kurz. „Morgen Mittag am Hafen? Dort, wo der Junge entwischte?“

„Einverstanden.“

Während er der Wache sein Anliegen erklärte, trat sie den Heimweg an. Ihr Weg führte sie zurück zum Basar, wo ihr Einkauf unterbrochen worden war. Sie suchte nach Anis, Kümmel, Piment und Safran, Gewürze, die sie nur bei den sarazenischen Händlern bekam. Von ihrem Ziehvater hatte sie arabisch gelernt, was beim Feilschen von Vorteil war. Sie schnupperte an den frischen Pimentdolden und begutachtete Safranfäden. Neben einem Bündel Kümmelstängel und einem Säckchen mit Anisfrüchten erstand sie noch eine Flasche Walnussöl und getrockneten Wermut. Bei einem Händler am Rande des Marktes fand sie hochwertigen Weihrauch, den sie nach kurzem Verhandeln zufrieden lächelnd in ihre Tasche schob.

Vom Basar aus gelangte sie in die breitere Straße der sizilianischen Kaufleute, sauber verputzte Häuser reckten hohe Giebel mit Fenstern aus buntem Glas gen Himmel. In den schattigen Hinterhöfen lauschten steinerne Engel dem plätschernden Wasser der Springbrunnen, streckten ihre weißen Arme gen Himmel oder lächelten still über Körben voll roter Geranien. Unter mannshohen Oleanderbüschen, deren Duft zwischen spitzbogigen Mauerdurchbrüchen herausströmte, rekelten sich träge Katzen.

Am Ende der Straße kam sie an zwei Häusern vorbei, deren Fenster mit Brettern vernagelt waren und deren Hofgärten verdorrt und stumm in der Sonne lagen. Von Lorna wusste sie, dass die Besitzer deutsche Kaufleute waren, die während der Herrschaft der Kaiserwitwe Konstanze vertrieben wurden. Nach Konstanzes Tod verlief die Ausweisung der Deutschen aufgrund der führerlosen und chaotischen Verwaltung im Sande. Einige der Adligen kamen zurück und nahmen klammheimlich ihre Güter wieder in Besitz, aber längst nicht alle. Palermo war ein brodelnder Kessel verschiedener Volksgruppen, Sarazenen, französische Adlige und Normannen, deutsche Ritter und einheimische Sizilianer. Die vier Erzbischöfe, die unter Walter von Pagliaras Vorsitz vom Papst eingesetzt worden waren, um bis zur Volljährigkeit des kleinen Königs über das Reich zu herrschen, sahen sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber: Sie mussten das Chaos regieren.

Die breite Straße der Kaufleute ging allmählich in das bescheidenere Viertel der Handwerker über. Kleinere Häuser, wenn auch sauber verputzt und mit ordentlich gestrichenen Haustüren, standen dichter und beugten sich über den Weg, als gelte es, einander die Stirn zu bieten. Luna bog in eine schmale Nebengasse ein, nach wenigen Schritten betrat sie ein geducktes einstöckiges Haus mit zwei kleinen Fenstern ohne Verglasung. Sie schob die Haustür mit der Schulter auf und die Lederscharniere knarrten leise, ein Laut, der ihr inzwischen vertraut war. Genau wie die brüchige Stimme, die aus dem dämmrigen Raum hinter dem schmalen Flur kam. „Luna? Endlich!“

„Ja. Es war viel los auf dem Basar. Stell dir vor, einer der Händler bot die Unze Weihrauch für dreißig Denar an. Er sagt, es käme aus einem Land hinter dem Morgenland.“

Aus einem Sessel in der Ecke neben dem Fenster, in dem Geranien üppig blühten, hob sich ein runzliges Gesicht. „Du klingst so fröhlich! Was ist passiert?“

Luna lachte und drückte der Frau den frischen Weihrauch in die Hand. „Ich habe jemanden getroffen. Einen jungen Mann, den ich von früher kenne.“

Die Alte befühlte mit ihren dunkel gefleckten Händen den Weihrauch. Sie schnüffelte daran und gluckste zufrieden.

„Florent war Wilhelms Lehrmeister im Schwertkampf. Manchmal musste ich gegen Wilhelm kämpfen.“ Sie nahm Lorna den Weihrauch ab und hängte ihn in der Ecke des Raumes an einen Haken. „Er soll den jungen König unterrichten. Das bedeutet, er wird in der Stadt bleiben. Morgen treffen wir uns am Hafen.“

Die Alte lachte trocken auf. „Da wird er Spaß haben.“

Luna sah sie verdutzt an. „Im Hafen?“

„Nein, mit dem kleinen König. An dem haben sich schon andere ihre Zähne ausgebissen.“ Sie kicherte schadenfroh.

„Woher weißt du das?“, fragte Luna.

„Jeder weiß das. Er terrorisiert die ganze Stadt mit seinen Dummheiten. Und niemand kann ihn bestrafen, denn er ist der König.“

„Wie alt mag er sein?“ Luna legte den Kopf in den Nacken und rechnete nach. An jenem Weihnachtsfest hatten sie hier in Palermo Heinrichs Krönung zum König von Sizilien gefeiert. Nur einen Tag danach wurde in Jesi sein Sohn geboren. Damals glaubte Heinrich, er habe das Glück für immer gepachtet. „Es ist sechs Jahre her. Was kann ein Junge von sechs Jahren schon anrichten?“

Lorna neigte den Kopf. Ihre blinden Augen rollten in den Höhlen hin und her. „Er zündet leerstehende Häuser an, angeblich, um zu sehen, wie sich das Feuer ausbreitet. Im Februar ist in der Gerbergasse eine ganze Häuserzeile abgebrannt. Nur mit Mühe konnten sich die Bewohner retten. Er fängt streunende Hunde ein und sperrt sie in einen Zwinger, um zu beobachten, wie sie sich zerfleischen. Er tötet Katzen und nimmt sie aus wie Hasen, um ihre Innereien zu erkunden. Er hat keine Achtung vor dem Leben.“

Luna bekam große Augen. Ein Sechsjähriger? Doch die Alte war noch nicht fertig. Obwohl sie nie aus dem Haus ging, wurde sie von Kunden und Nachbarinnen zuverlässig mit Neuigkeiten versorgt. „Erst heute früh verwüstete er den oberen Markt mit einer Bande von Straßenjungen. Einer lenkt die Händler ab, indem er alles umreißt, was ihm in den Weg kommt, die anderen klauen in der Zeit die Stände leer ...“

„Warte mal ...“, unterbrach sie Luna. Sie lachte ungläubig. „Federico? Er ist der König?“

„Ja, schon seit drei Jahren. Niemand kümmert sich um ihn, seit seine Mutter starb.“

Luna setzte sich auf einen Hocker. „Wir hatten den kleinen Übeltäter vorhin in unserer Gewalt.“

„Du und dieser Schwertkämpfer?“

„Ja, wir ahnten doch nicht, dass er der König ist.“ Luna sprang auf. „Ich muss Florent warnen. Federico wird eine Mordswut auf ihn haben. Das ist kein guter Start für einen Lehrmeister.“ Sie hielt inne und ließ sich wieder auf den Hocker fallen. „Es ist längst zu spät.“

„Er wird ihm schon nicht den Kopf abreißen.“ Lorna wedelte mit der Hand. „Jetzt ist es Zeit, an die Arbeit zu gehen. Ich habe drei Aufträge für Tinkturen und einen für eine Salbe gegen schrundige Haut. Die sollen noch heute geliefert werden. Und der Schuster braucht Theriak für seinen Sohn.“ Sie hob die Nase und schnüffelte. „Der frische Piment scheint hervorragend zu sein.“

„Ja, nicht wahr?“ Luna wandte sich dem Wandregal zu, wo sich Dutzende von Behältern und Flaschen aus dickwandigem Glas aneinanderreihten, alle mit beschrifteten Zetteln versehen. Unter dem hinteren Fenster stand ein stabiler Tisch mit Waage, Mörser und Stößel sowie verschieden großen Messlöffeln. Da die Geranien nicht genug Licht in den Raum ließen, zündete sie eine Öllampe an, bevor sie an die Arbeit ging.

Florent lief seit einer halben Stunde vor dem Kabinett des Erzbischofs auf und ab. Ein Schreiber trat zum wiederholten Male zur Tür heraus, eilte über den Flur davon, mal eine Treppe hinauf, mal eine hinunter. Kam er zurück, verschwand er schnell wie eine Maus, die eine Katze hinter sich weiß, und mied Florents Blick. Gerade als der sich vornahm, ihm beim nächsten Mal den Weg zu verstellen, um zu fragen, ob man ihn vergessen hätte, öffnete sich die hohe, reich verzierte Tür, und ein anderer Mann mit tintenverschmierten Fingern bat ihn herein.

Der Erzbischof thronte hinter einem pompösen Tisch mit Schnitzereien, die beim genaueren Hinsehen furchteinflößende Kreaturen mit spitzen Zähnen und ebenso spitzen Ohren darstellten. Sein gewaltiger Bauch drückte sich gegen die Tischplatte, sodass er das Schriftstück vor ihm nur mühsam erreichen konnte. Das Kinn lag auf zwei Fettwülsten gebettet. Florent war in der Tür stehen geblieben und ertappte sich bei der Überlegung, ob man einen Mann hängen könnte, dessen Hals dicker war als der Kopf.

Walter von Pagliara schnaufte einmal über das Papier, das daraufhin von dem Schreiber mit den Tintenfingern weggezogen und mit Sand bestreut wurde. Dann hob er seinen Blick und fixierte Florent, der dabei das Gefühl hatte, zu schrumpfen wie Fleisch in heißem Fett.

„Und wer seid Ihr?“, fragte er mürrisch.

„Florent von Accera, Euer Gnaden. Mein Vater empfahl mich als Lehrmeister für den Schwertkampf.“ Er schob sich eine lästige Locke aus dem Gesicht.

„Accera, soso.“ Der Mann wedelte mit einer Hand. „Tretet näher.“ Er musterte ihn. Sein Kinn wackelte wie Gallert, als er nickte. „Groß, kräftig. Euer Vater hat nicht zu viel versprochen. Ihr verfügt über gewisse Erfahrungen in der Ausbildung von Knaben, wie ich hörte.“

„Ich war der Lehrmeister von Wilhelm von Lecce, Euer Gnaden. Ich brachte ihm das Reiten und den Schwertkampf bei, außerdem die Regeln ...“

„Ja, ja. Das genügt.“ Der Erzbischof winkte ab. Florent begriff, dass er Wilhelms Namen besser nicht erwähnte. Dabei hatte der junge Prinz mehr Anspruch auf den Thron in diesem Reich gehabt, als alle zusammen, die heute regierten.

„Euer Sold beträgt achthundert Silbergrosso im Jahr. Außerdem erhaltet Ihr Speisung und Unterkunft im Palazzo. Wegen der Unterrichtszeiten müsst Ihr Euch mit dem König absprechen und mit Magister Wilhelm Franciscus. Den findet Ihr in der Bibliothek. Wann könnt Ihr anfangen?“

„Jederzeit. Wenn der König Zeit hat, jetzt gleich.“

Der Erzbischof sah ihn an, als hätte er nach der Formel für die Unsterblichkeit gefragt. „Jetzt?“ Er gab ein Prusten von sich, das sein Kinn erzittern ließ. „Am besten, Ihr versucht, ihn morgen nach dem Frühstück zu erwischen. Aber Ihr müsst schnell sein.“

Florent verbarg seine Verwunderung und verbeugte sich. „Kommt in den nächsten Tagen vorbei, dann könnt Ihr eine Abschrift von Eurem Vertrag abholen“, sagte der Schreiber, bevor er die Tür hinter ihm schloss.

Zwei Mägde wiesen ihm den Weg zur Schreibstube des Quartiermeisters. Der brachte ihn zu einem schlichten, sauberen Raum an der Galerie zum Innenhof, mit Tisch und Hocker und einem einigermaßen breiten Bett.

„Wenn Ihr Euch mit den Mägden gut steht, putzen sie für Euch und kümmern sich um Eure Kleidung. Essen gibt es unten im Hof, immer dem Geruch nach. Die Küche ist gar nicht schlecht, Ihr werdet sehen. Falls Ihr sonst noch was braucht ...“

„Mein Brauner steht unten in der Stadt in einem Mietstall.“

„Ihr könnt ihn in den Stallungen des Königs unterbringen. Soll ich ihn holen lassen?“

„Nein, ich habe noch Gepäck dort, ich gehe selbst.“

Der Mann war schon fast zur Tür hinaus, da fiel Florent etwas ein: „Wo kann ich den jungen König um diese Zeit finden?“

Der Quartiermeister sah ihn mit einem ähnlichen Blick an wie der Erzbischof. „Geht hinunter in die Stadt und lauscht. Dort wo der größte Tumult ist, dort ist der junge König.“

Verwundert sah er die Tür ins Schloss fallen. In die Stadt würde er heute nicht mehr gehen. Der Duft von gebratenem Lamm stieg aus dem Küchentrakt empor. Sein neuer Schützling konnte warten.

Florent erwachte von den üblichen Morgengeräuschen eines Palastes. Mägde riefen sich mit verschlafenen Stimmen Anweisungen zu, Türen knarrten und schlugen, die Holzsohlen der Knechte polterten über den Hof. Geschirr klapperte, Eimer schepperten. Vom Dach gurrten die Tauben. Er hatte gut geschlafen und ging hinaus auf die Galerie, um einen Blick über die Brüstung zu werfen. Der Duft frisch gebackenen Brotes stieg in seine Nase und ließ seinen Magen freudig knurren. Im Innenhof war die lange Tafel, an der er am Vorabend bereits gegessen hatte, erneut für eine ordentliche Mahlzeit vorbereitet. Hungern würde er hier jedenfalls nicht. Voller Tatendrang schlüpfte er in sein Hemd. Heute musste er unbedingt sein Schwert holen, das er mit Pferd und Gepäck bei dem Wirt in der Stadt zurückgelassen hatte. Aber zuerst galt es, den jungen König zu finden. Er fuhr sich durchs Haar und wusch sich über der Schüssel in der Ecke.

Als er den Hof betrat, nahmen die ersten Stallknechte Platz, um zu frühstücken. Er wollte sie fragen, wo er sein Pferd unterbringen konnte. Doch bevor er dazu kam, lief ihm ein vertrautes Gesicht über den Weg. Helles, ungekämmtes Haar, trotzig hervorgeschobene Lippen unter einer Nase voller Sommersprossen, zerrissener Hemdsärmel. Ohne lange zu überlegen, griff er nach seinem Arm.

„He, Bürschchen! Kennen wir uns nicht?“, fragte er.

Der Junge sah ihn entrüstet an. „Was fällt Euch ein?“

„Federico, nicht wahr? Wer ist für dich verantwortlich? Wir sollten mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden.“ Die erstaunten Blicke der Stallknechte nahm er nicht wahr, auch nicht die Mägde, die ihre Arbeit vergaßen und die Szene beobachteten.

„Lasst mich sofort los!“ Der Junge zerrte an seinem Hemd, um sich zu befreien, doch Florents Griff war fest.

Der Quartiermeister trat an ihn heran und raunte ihm zu: „Das ist der junge Herr, nach dem Ihr mich gestern gefragt habt!“

Florent zuckte zurück, als glühe frisch geschmiedetes Eisen in seiner Hand. Täte sich jetzt ein Loch im Boden auf, er wäre mit Freuden hineingesprungen. Die Knechte an der Tafel grinsten. Wie hatte er nur so dumm sein können. Federico war nicht gerade ein häufiger Name auf Sizilien.

„Was ist?“, fragte der Junge herausfordernd. Sein Selbstbewusstsein war schon in der Stadt erstaunlich groß gewesen, wo er wie ein Hase gejagt worden war. Hier im Palazzo schien es unermesslich zu sein.

Florent überlegte fieberhaft, wie er sein Gesicht wahren konnte. „Lasst uns beim Essen darüber reden. Kommt!“ Er fasste den Jungen weitaus behutsamer als zuvor am Arm und schob ihn in Richtung Tisch.

„Warum sollte ich mit Euch essen wollen?“

„Weil ich Euch gestern vor dem Beil des Metzgers bewahrt habe.“

Achselzuckend nahm Federico neben ihm Platz. Das Grinsen in den Mienen der Knechte verblasste.

„Ihr hättet mir gestern sagen können, wer Ihr seid!“, begann Florent vorwurfsvoll und griff nach einem knusprig gebackenen Weizenfladen.

Federico trank in aller Ruhe einen Becher Milch, während er einen seiner trotzigen Blicke über den Gefäßrand schickte. Als er absetzte, blieb ein weißer Rand an seiner Oberlippe. „Warum? Alle in der Stadt kennen mich.“

„Ich kannte Euch nicht.“

„Na und?“

„Findet Ihr es angemessen, als Majestät über den Markt zu rennen und Eure eigenen Untertanen zu bestehlen?“

Federico starrte in seinen Becher und zuckte mit den Schultern. „Warum interessiert es Euch, was ich tue?“

„Ich bin seit gestern Euer Lehrmeister. Ich unterrichte Euch im Schwertkampf, im Bogenschießen und bringe Euch das Reiten bei.“ Florent brach ab, als er die Augen des Jungen aufleuchten sah. Er hatte mit weiterem Widerstand gerechnet, stattdessen sprang Federico begeistert auf, nicht ohne dabei den Milchkrug umzureißen.

„Endlich! Das habe ich mir schon lange gewünscht! Und immer sagte der Dick... der Bischof, dafür sei kein Geld da.“ Er setzte sich und stellte den Krug wieder an seinen Platz. Eine ältere Magd mit ausladenden Hüften und einem runden Gesicht wischte die Milchpfütze auf und zog ihn zärtlich am Ohr. „Aufpassen, Rico, sage ich dir das nicht immer wieder?“

Florent freute sich. Ein begeisterter Schüler versprach einfachen Broterwerb. „Wann können wir anfangen, was meint Ihr?“

„Sofort!“

Die Magd, die im Weggehen begriffen war, blieb stehen. „Oh nein, mein Lieber. Zuerst wird mit Magister Franciscus geredet. Er muss seine Zustimmung geben!“

„Latein ist morgen genauso langweilig wie heute.“ Der gut bekannte trotzige Ton war im Gespräch mit der Frau mit Zuneigung unterlegt.

Florent begann zu ahnen, dass die Prioritäten bei der Erziehung des jungen Königs alles andere als normal verteilt waren. Die ältere Magd schien Einfluss auf ihn zu haben. Der Magister dagegen erweckte wenig Begeisterung und der Erzbischof hatte seine Chancen längst verspielt.

„Wo finden wir Euren Magister? Wir sollten gemeinsam mit ihm reden.“

„In der Bibliothek.“ Die Magd wies auf eine Reihe spitzbogiger Fenster im ersten Obergeschoss. „Dort verbringt er den ganzen Tag. Rico soll sich jeden Morgen nach dem Frühstück dort einfinden.“ Sie seufzte und rubbelte dem Jungen durchs Haar. „Leider vergisst er das immer wieder. Und der Magister ist nicht böse drum.“

„Er ist froh, wenn er in Ruhe seine Bücher studieren kann“, ergänzte Federico.

„Und du gönnst ihm seine Ruhe?“, fragte Florent schmunzelnd.

„Manchmal“, entgegnete der Junge ernsthaft. „Ich hasse es, deutsche Bücher zu lesen oder lateinische Wörter herzubeten. Aber Naturlehre verpasse ich nie. Ich will alles wissen über die Tiere, wie sie funktionieren und wie ich sie erziehen kann. Und warum die Pflanzen wachsen, wie man Gold herstellen kann und warum aus manchen Bergen Feuer kommt.“

„Wenn du Latein kannst, dann brauchst du den Magister nicht mehr, dann liest du die Bücher selbst, in denen das alles steht.“

„Wozu diese Mühe, wenn ich nur den Magister fragen muss?“ Seine kindliche Logik war schwer zu widerlegen.

Florent seufzte und die Magd warf ihm einen schadenfrohen Blick zu.

Auf dem Weg in die Bibliothek erklärte der junge König großspurig: „Reiten müsst Ihr mir nicht beibringen, es gibt hier im Palast nur vier ordentliche Pferde, die habe ich alle schon geritten. Außer der lahmen Stute vom Quartiermeister.“

„Könnt Ihr während des Reitens das Schwert führen? Mit der anderen Hand ein Schild halten? Und zwar so, dass Pferd und Reiter geschützt sind?“

„Das würdet Ihr mir beibringen?“

„Unter anderem.“

Federico übersprang zwei Stufen und Florent verbuchte im Stillen erneut einen Punkt für sich.

Die Tür zur Bibliothek war mit kunstfertig geschnitzten orientalischen Ornamenten versehen. Florent hob die Hand, um zu klopfen, doch Federico riss die Tür auf und rief: „Magister?“

Wohl oder übel folgte er dem Jungen in ein Labyrinth aus Regalen, in denen sich Pergamentrollen und lose Papierblätter stapelten, direkt neben Büchern in kostbaren Ledereinbänden. Die stickige Luft roch nach Staub und altem Holz und irgendetwas Süßlichem. Doch plötzlich wehte ein frischer Luftzug durch die Regalreihen und ließ Blätter rascheln wie ein Windstoß im Herbst.

„Federico, du sollst die Tür schließen, wie oft habe ich dir das gesagt?“ Eine mürrische Stimme drang hinter einem der Regale hervor.

„Ich war nicht der Letzte!“, rief der Junge fröhlich.

Florent blieb stehen, als er begriff, dass er der Übeltäter gewesen war und in der Pflicht stand, zurückzugehen. Er schloss die schwere Tür mit einiger Mühe, der Riegel befand sich in Höhe seiner Schultern und das Meisterwerk schmiedeeiserner Kunst brauchte dringend Öl. Wie hatte der Junge dieses Monstrum nur so schnell geöffnet? Auf halbem Weg durch das Labyrinth hörte er den König eifrig reden und er versuchte, sich an der Stimme zu orientieren, um ihn zu finden.

„Seid versichert, Magister, ich werde es nachholen. Jedes einzelne Wort.“

„Und was ist mit der Arithmetik? Wie soll eine Majestät ihrem Schatzmeister auf die Finger klopfen, wenn sie nicht weiß, wie man zwei und zwei zusammenrechnet?“ Die mürrische Stimme klang jetzt milder als vorhin.

„Aber die Majestät muss reiten können, Magister. Und vom Pferd aus kämpfen. Sonst zählt der Feind die Kasse nach, wenn er sie erobert.“

Florent hatte die beiden Debattierenden erreicht, eine letzte Biegung um ein dunkles Holzregal und er stand vor einem Tisch, der die Last auseinandergerollter Schriften und aufgeschlagener Büchern nur deshalb trug, weil er aus massiven, mindestens einen Spann dicken Holzplatten zusammengefügt worden war. Dahinter saß ein kleiner Mann mit einem weißen Spitzbart und dem Aussehen eines Wiesels. Seine Augen waren dunkel und bewegten sich schnell, im Nu hatten sie Florent über einen Stapel Bücher hinweg entdeckt und fixiert.

„Ist er das?“, fragte er den Jungen, der neben ihm stand.

„Ja.“ Federico erinnerte sich offensichtlich an den erfolgreichen Teil seiner Erziehung und sprang hinter dem Tisch hervor. Mit einer eleganten Armbewegung wies er auf Florent. „Ich stelle vor: den Reit- und Schwertkampfmeister Florent ...“ Er brach ab und wandte den Kopf: „Eure Herkunft?“

Florent lächelte und verbeugte sich. „Florent von Accera.“

„Accera? Die verstorbene Königin trug diesen Namen, bevor sie ...“

„Sie war eine Base meines Vaters.“

Der Alte nickte versonnen. „Ich bin Magister Wilhelm Franciscus, wie Ihr gewiss schon von unserem jungen Freund hier erfahren habt. Wie ich höre, gedenkt Ihr, mir ernsthafte Konkurrenz zu machen mit Euren Künsten. Wie ungerecht es doch zugeht in der Welt. Was kann ich mit meinen trockenen Vokabeln und der komplizierten Wissenschaft ausrichten gegen Bewegung und Kampfkunst? Noch dazu bei einem Jungen wie ihm.“ Er hob die schmalen Schultern und lächelte versöhnlich.

„Und doch ist beides unermesslich wichtig für einen künftigen König“, sagte Florent.

Der gelehrte Mann neigte dankbar den Kopf. „Ich sehe, wir werden uns einigen. Es heißt, Abwechslung zwischen den Ertüchtigungen des Körpers und des Geistes bringe bessere Erfolge. Deshalb schlage ich vor, wir tauschen im Laufe des Tages.“ Federico verdrehte die Augen und schnaubte. Doch der Magister ließ sich nicht beeindrucken. „Ich beginne morgens mit Deutsch, dem Lateinischen und mit der Arithmetik. Da ist der Geist frisch und ausgeruht. Dann übernehmt Ihr und bringt seinen Körper in Bewegung, womit auch immer. Nach der heißen Stunde am Mittag nehmen wir die Naturlehre und das Schreiben und Lesen in Angriff.“

„Ich werde ein Dutzend Schreiber haben, wenn ich erst regiere“, nörgelte Federico.

Der Alte reckte das Kinn vor, sodass der Spitzbart auf den Jungen zeigte. „Und sie alle müssen von dir kontrolliert werden. Niemals werden sie Respekt vor dir haben, wenn sie wissen, dass du nicht überprüfen kannst, was sie aufs Pergament bringen.“

Federico verdrehte die Augen, wahrscheinlich hatte er dieses Argument schon ein dutzendmal gehört. „Und jetzt?“, fragte er mit hoffnungsvollem Blick auf seinen Schwertmeister. „Kann ich mit ihm gehen?“

Florent räusperte sich. „Das ist keine gute Idee, Majestät. Ich muss zuerst mein Pferd aus der Herberge holen. Und mein Schwert. Danach können wir gern anfangen. Bis dahin kämpft mit dem Lateinischen, es ist Euch ein würdiger Gegner.“ Er klopfte Federico ermunternd auf die Schulter. Der schob seine Unterlippe vor, doch Florent wusste inzwischen, dass es nicht mehr als eine dumme Angewohnheit war.

Luna war zu früh am Hafen. Die Mittagshitze setzte ihr zu, selbst vom Meer kam kein kühlender Luftzug. Als Florent endlich eintraf, führte er einen braunen Destrier am Zügel, ein Streitross, das mit zwei großen Reisesäcken bepackt war und durstig den Kopf hängen ließ.

„Dort drüben gibt es Wasser“, sagte Luna statt einer Begrüßung und zeigte auf den langen Trog, wo die Hafenarbeiter ihre Lasttiere tränkten.

Florent nickte. Er sah, wie sie in der Sonne litt und erinnerte sich plötzlich, dass sie mit ihrer hellen Haut schon immer den Schatten hatte suchen müssen. „Wir hätten uns besser am Abend getroffen.“

„Aber Neugier ist schlimmer als Hitze“, sagte sie und lachte. „Bis heute Abend hätte ich es kaum ausgehalten.“ Sie kühlte ihre Hände in dem Wasser, das Florent mit einem Handschwengel nach oben pumpte und in den Trog laufen ließ. Sein Pferd trank gierig.

„Neugier?“

„Ich will wissen, wie es dir mit Federico ergangen ist.“ Sie hob den Schleier und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht.

Er horchte auf. „Woher weißt du?“, fragte er.

„Dass er der König ist?“ Sie kicherte. „Tante Lorna sagte etwas von einem zerstörten Markt und anderen schlimmen Sachen, die der junge König anstellt. Wie hat er es aufgenommen, dass du sein Lehrmeister bist?“

Sie setzten sich in den Schatten einer Pinie, der Hengst knabberte lustlos an dem trockenen, staubigen Gras.

„Er ist nicht so schlimm wie sein Ruf, nur ein einsamer kleiner Junge, dem keine Grenzen gesetzt werden.“

„Wer kümmert sich um ihn?“

Florent hob die Schultern. „Der dicke Erzbischof jedenfalls nicht. Eine ältere Magd bemuttert ihn und sein Magister, der ihm die Wissenschaften beibringt, hat auch etwas Einfluss.“

„Armer Kerl“, sagte Luna leise. „Hier unten in der Stadt ist er nicht gern gesehen.“

Florent wurde nachdenklich. „Seine Mutter hat nach dem Tod seines Vaters eine wahre Hetzjagd auf die Adligen veranstaltet, die zu Heinrichs Lebzeiten aus dem Norden kamen und sich in Sizilien breitmachten. Sie schürte damit den Hass auf alles Deutsche. Und er sieht nun wirklich nordisch aus.“

„Deswegen klang das aleman gestern so boshaft. Was hat sie sich nur dabei gedacht? War sie nicht selbst Normannin?“

„Sie hatte nicht mit ihrem frühen Tod gerechnet. Mit etwas mehr Zeit wäre ihr Plan aufgegangen. Sie handelte beim Papst das Wohlwollen für ihren Sohn aus, indem sie auf die nördlichen Gebiete des alten deutsch-römischen Reiches verzichtete. Ihr war klar, dass man mit einem Kind als König niemals ein so großes Gebiet unter Kontrolle halten konnte.“

„Daran scheiterte schon ihr Gemahl Heinrich“, warf Luna ein.

„Sie sagte sich wahrscheinlich, lieber den Spatzen in Hand als die Taube auf dem Dach. Mit dem päpstlichen Segen bereitete sie ihrem Sohn das Königreich Sizilien als Nest für eine lange und zufriedene Regierungszeit.“

„Und dann starb sie und ließ den Jungen allein zurück.“ Luna fächelte sich mit einer Hand Luft zu.

„Zuvor setzte sie Papst Innozenz als Vormund ein. Sie schien ihm zu vertrauen.“ Florent sah sie von der Seite an. Ihre schneeweiße Haut schimmerte durch den Schleier. Er stieß einen kurzen Pfiff aus. Der Destrier, der sich beim Grasen ein Stück entfernt hatte, hob den Kopf und trabte heran. „Ich bringe dich nach Hause. Du musst in den Schatten.“

„Gut erzogen!“, lobte Luna den Hengst. „Wenn du den jungen König erst mal so weit hast ...“

Florent lachte. „Das war eigentlich nicht mein Ziel, aber jetzt, wo du es sagst, finde ich den Gedanken gar nicht schlecht.“ Er wickelte sich die Zügel um die Hand und sie gingen in der drückenden Hitze über das Hafengelände in Richtung Basar. „Erzähl mir von dieser Tante, bei der du lebst!“

„Eine alte Kräuterhexe, wie sie selbst sagt. Die Leute des Viertels bestellen bei ihr Salben, Theriak, Kräutertee und alle möglichen Heilmittel. Sie ist blind und kann kaum noch arbeiten. Aber sie hat all das Wissen in ihrem Kopf. Sie war dankbar, als ich an ihre Tür klopfte und meine Hilfe anbot.“

„Woher kanntest du sie?“

Luna schüttelte den Kopf. „Ich kannte sie nicht. Als ich Edessa verließ, nannte mir mein Vater eine Reihe von Namen; Freunde und Bekannte in verschiedenen Städten, die mir helfen würden. In Palermo war es die Kräuterhändlerin Lorna. Ich wollte ein paar Tage bleiben und dann weiter in den Norden gehen. Ich sehne mich nach den kühlen Tagen, den Reif auf den Gräsern und den ruhigen Wintertagen voller Schnee. Ich bin kein Kind der Sonne.“

„Warum bist du geblieben?“

Sie hob die Hände. „Lorna ist alt. Erst gestern sagte sie, Gott der Herr hätte mich zu ihr gesandt. Ich kann sie nicht allein lassen.“

Sie waren am Eingang der schmalen Gasse angekommen. „Möchtest du sie kennenlernen?“, fragte Luna, um den Abschied ein wenig hinauszuzögern.

„Ein anderes Mal. Ich muss pünktlich zur ersten Unterweisung sein. Mal sehen, wie Federico auf meine Pfiffe reagiert“, sagte er und grinste. Der Braune scharrte ungeduldig mit dem Vorderhuf auf den heißen Pflastersteinen.

„Ich würde gern den Garten hinter dem Palast wiedersehen“, sagte Luna.

Florent, der schon seit einiger Zeit überlegt hatte, wie er die nächste Verabredung arrangieren konnte, sah erfreut auf. „Das kann ich organisieren. Wie wäre es gleich heute nach dem Abendessen?“

„Das wäre schön. Auch in Edessa gab es prächtige Gärten, aber keiner war so wie der im Palazzo Reale.“

„Ich hole dich ab.“

„Das ist nicht nötig“, wehrte sie ab. „Ich muss am Abend Arzneien austragen, mein Weg endet beim Palazzo. Dann treffen wir uns am Hauptportal.“

Wie eine reife Apfelsine hing die Sonne zwischen den Turmspitzen des Palazzos, als Luna den Weg zum Haupttor erklomm. Ihr Gesicht glühte unter dem Schleier. Sie hatte sich beim Ausliefern der Salben und Tinkturen ungewöhnlich beeilen müssen. Ausgerechnet heute war sie viel zu spät fertig geworden. Nun befürchtete sie, Florent habe das Warten aufgegeben. Ihr Herz klopfte stürmisch, zum einen wegen des schnellen Schrittes, andererseits – ja, sie war aufgeregt. Sie redete sich ein, es sei die Aussicht auf den Spaziergang durch die Gärten und die damit verbundenen Erinnerungen.

Kopfschüttelnd dachte sie an ihre Arbeit am Nachmittag zurück. Bei der Zubereitung des Theriak verwechselte sie Kurkuma mit zerstoßenem Pfeffer und verdarb somit die gesamte Mischung. Dann fiel ihr der Mörser aus der Hand und sie verschüttete grünes Meersalz auf dem Tisch. Während des Aufwischens kippte der kleine Flaschenkürbis um, den sie zum Abmessen von Flüssigkeiten benutzte. Kostbarer dunkler Honig tränkte die Tischplatte. Lorna hatte die Nase nach oben gereckt und missbilligend mit der Zunge geschnalzt.

Die Wachen sahen ihr mäßig interessiert entgegen. Als sie zu einer Erklärung ansetzen wollte, wurde die Schlupfpforte im großen Portal aufgerissen und Florent steckte seinen Kopf heraus.

„Das ist sie!“, sagte er und nickte einem der Wachposten zu.

„Wir haben sie schon erkannt“, knurrte der und trat beiseite, um Luna durchzulassen.

„So haarklein, wie Ihr sie beschrieben habt, ist keine Verwechslung möglich“, sagte der andere und grinste.

„Was hast du ihnen erzählt?“, fragte Luna betreten, als sie den dunklen Gang unter der Mauer passierten.

„Na ja“, Florent wand sich ein wenig. „Eine junge Frau mit Schleier und sarazenischer Kleidung und ...“

„... heiß und wunderschön wie die Morgensonne, das hat er gesagt!“, rief der Wachmann hinter ihnen und sein lautes Lachen hallte durch den Gang.

Florent wurde rot und beschleunigte die Schritte.

„Wie war dein Unterricht?“, fragte sie hastig, um die Verlegenheit zu überspielen.

„Oh, Federico wird ein guter Kämpfer. Ein wenig ungestüm, aber er ist tapfer und er nimmt meinen Rat mitunter sogar an.“

Sie betraten den Innenhof, der von den fünfstöckigen Gebäuden des Palastes umgeben und von dort über Balustraden einsehbar war. Mägde verteilten irdenes Geschirr auf der langen Tafel in der Mitte des schattigen Hofes, Küchenjungen schleppten Platten mit würzig duftenden Käselaiben und Körbe mit kleinen Weißbroten herbei.

„Kommt nicht zu spät, Meister Florent“, rief eine von ihnen. Sie war jung und streifte die verschleierte Frau an seiner Seite mit einem unfreundlichen Blick. „Das Beste ist immer zuerst weg!“ Die anderen Mägde lachten.

„Ich gebe mir Mühe!“, antwortete er über die Schulter hinweg und beschleunigte seine Schritte.

Luna erkannte den Weg, der Durchgang zwischen Küche und Wäscherei führte zunächst zum Wirtschaftsgarten, in dem Gemüse und Beeren wuchsen. Er roch nach frisch gewässerter Erde und lag verlassen in der Abendsonne. Dahinter begann das Paradies. Jedenfalls war das vor Jahren so gewesen. Jetzt stockte ihr Schritt und sie starrte ungläubig auf die wild wuchernden Weinranken, die die herrlichen Laubengänge von damals fast völlig versperrten.

„Was ist denn hier passiert?“, rief sie.

„Dieser Teil des Gartens wird offensichtlich nicht mehr gepflegt“, meinte Florent. „Aber es gibt einen Pfad, schau nur!“ Er deutete auf einen schmalen Durchlass zwischen dem Weinlaub, der einen Eingang ins Dickicht bildete. „Komm.“ Er fasste wie selbstverständlich nach ihrer Hand und zog sie in das dichte Grün hinein.

Dieser Teil des Gartens war kaum wiederzuerkennen. Ranken griffen wie dünne Finger nach ihrem Schleier, Brennnesseln und Disteln brannten sich durch den feinen Stoff ihrer Hose. Nach wenigen Schritten tauchten längst vergessen geglaubte Bilder in ihrem Kopf auf.

Kichernde Mädchenstimmen, wie Vogelgezwitscher zwischen den Weinblättern, verlieren sich in schattigen Gängen und kehren zurück, umkreisen die plätschernden Brunnen und steinernen Bänke. Weiße Kleider aus Florentiner Spitze, silbriges Grün, das von tausend kleinen Sonnen erhellt wird. Blätter rascheln unter Kinderfüßen. Helle Kinderstimmen – sieh nur – eine gelbe Schnecke, ein violetter Schmetterling. Wilhelm – auf seinen spitzen Knien die Schriftrolle mit den deutschen Wörtern. Sein Gesicht, so konzentriert, seine Hand, so warm ...

Florents Hand zog sie durch das Geflecht aus Winden, Brennnesseln und Weinranken. Als sie über eine dicke Wurzel strauchelte und er mit der anderen Hand zugriff, um sie zu stützen, blieben sie stehen. Ihr Schleier war zerrissen und sie nahm ihn ab. Er sog heftig die Luft ein, als sein Blick auf ihr Haar fiel. Er hatte vergessen, wie hell es war. Jetzt erinnerte er sich an die Gerüchte, damals im Gefolge des Kaisers. Dieses Mädchen, das den Namen der Mondkönigin trug und niemals in die Sonne durfte. Ein Feenkind, sagten die einen. Von bösen Geistern besessen, die anderen. Das Kind, an dem der Kaiser einen Narren gefressen hatte.

Es war still im Halbdunkel der grünen Blätter, nur die Insekten summten ihr Lied. Er blickte auf sie herab, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ihre hellen Augen ließen ihn nicht los. „Luna“, sagte er leise, „so schön wie das Mondlicht.“

Sie lächelte verlegen. Seine dunklen Augen und die Locken, die ihm ins Gesicht fielen, wenn er den Kopf nach vorn neigte, die leicht gebogene Nase, die ihm etwas Verwegenes gab, all das gefiel ihr. Ihr Herz klopfte heftig, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie knetete den Schleier mit ihren Händen, bis er danach griff und sie festhielt. Er beugte sich herab, sie roch Olivenöl und Zitronen, sah tausend kleine Sonnen im Weinlaub über seiner Schulter.

Aus dem Dickicht hinter ihm drang ein hoher, spitzer Schrei. Sie fuhren auseinander.

„Was war das?“, flüsterte sie.

„Es hörte sich an wie ein Vogel.“ Er nahm ihre Hand und zog sie vorsichtig weiter.

„Früher gab es hier Pfauen, erinnerst du dich?“

„Ihr Gekreische ging mir auf die Nerven.“

Erneut ertönte der Ruf. Sie lauschten. Es klang hell und aufgeregt. Aiij-aiij-aiij-aark.

„Das ist kein Pfau“, sagte er und zog sie weiter. „Das ist ein Falke.“

„Wahrscheinlich hat er sich in dieses Dickicht verirrt und findet nicht wieder heraus.“ Sie vermutete, dass sie sich auf dem ehemaligen Hauptweg befanden, von dem in regelmäßigen Abständen schmalere Pfade zu Nischen, Lauben oder Wasserspielen geführt hatten. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Die Holzgerüste, die vor Jahren die Weinranken gestützt hatten, lagen zerbrochen unter den wuchernden Pflanzen und bildeten gefährliche Stolperfallen. Doch es gab noch immer den Trampelpfad, Gestrüpp und Ranken waren dort niedergetreten und welk. Dieser Spur folgte Florent.

Nach einigen Schritten knickte der Pfad nach rechts ab und führte in einen der alten Seitengänge. Je weiter sie vorwärtskamen, umso besser wurde der Weg. Jemand hatte das Gras abgeschnitten, Disteln und Brennnesseln beseitigt. Die Weinranken fielen wie Vorhänge von dem hier noch erstaunlich intakten Holzgerüst herab. Aus dem grünen Zwielicht schälte sich der Umriss eines Springbrunnens. Luna hielt freudig überrascht die Luft an, als sie den Brunnen mit der Nymphe erkannte, an dem sie oft gesessen hatte.

„Du musst keine Angst haben, alles wird gut. Bald darfst du fliegen und jagen, soviel du willst.“ Es war eine kindliche Stimme. Sie sahen Federico am Rande des Steinbeckens hocken. Er wandte ihnen den Rücken zu und redete auf etwas ein, das von seinem schmalen Körper verdeckt wurde. Florent brach einen Zweig von einem Zitronenbaum ab, der am Rande der ehemaligen Laube stand.

Es knackte, der Junge erstarrte und drehte sich langsam um. Als er sie erblickte, verfinsterte sich seine Miene. „Was tut Ihr hier?“, fragte er mit gedämpfter Stimme.

„Genau das wollte ich Euch fragen!“, sagte Florent und trat ein paar Schritte auf ihn zu.

Hinter Federico flatterte etwas. „Kommt nicht näher!“, zischte er. „Ihr verschreckt sie!“

„Ein Falke?“, fragte Florent und klang ehrlich erstaunt. „Gestohlen?“

„Pah! Nicht alles muss ich ergaunern.“ Der Junge setzte seine trotzige Miene auf.

„Für ihn wolltet Ihr das Rindfleisch?“, fragte Luna.

Federico starrte sie an. „Eure Haare!“

Luna sah auf den zerknüllten Schleier in ihrer Hand. Alle Menschen reagierten so, wenn sie zum ersten Mal ihre schneeweißen Haare zu Gesicht bekamen. Die Kopfbedeckung war nicht nur Schutz vor der Sonne, sie war auch ein nützliches Schild gegen die Blicke der Menschen. Sie hob die Schultern und hoffte, dass es gleichmütig aussah. „Sie sind weiß“, sagte sie. „So wie Eure blond sind.“

„Seid Ihr eine Fee?“

„Vielleicht.“

Diese Erklärung schien ihn zufriedenzustellen. Er zeigte hinter sich. „Rindfleisch frisst sie am liebsten. Oder Taubenfleisch.“ Er wandte sich ab, um den Vogel zu beruhigen, der wieder sein ängstliches aiij-aiij-aark ausstieß. „Es ist gut, meine Schöne. Dir passiert nichts, keine Sorge.“

Florent machte einen weiteren Schritt nach vorn. „Darf ich sie sehen?“

„Nein! Sie hat Angst vor Menschen, die sie nicht kennt. Kommt nicht näher!“

„Habt Ihr keine Haube für sie?“

„Doch. Aber sie ist zu groß. Sie reißt sie mit den Krallen herunter.“

Florent ließ nicht locker. „Setzt sie ihr auf und haltet sie fest. Dann kann ich sie mir ansehen.“

„Versteht Ihr etwas von Falken?“, fragte Federico.

„Mein Vater besitzt etliche hervorragende Jagdfalken, sogar einen Habicht. Ich verbrachte als Junge viel Zeit bei unserem Falkner.“

„Hat Euer Vater auch einen Gerfalken?“ Federicos Misstrauen schmolz.

„Einen schwarzen. Der erwischt jede Ente.“

Der Junge strahlte. „Wartet.“ Er wühlte in einer Kiste zu seinen Füßen und brachte eine kleine Lederhaube zutage. Wieder hörten sie Rascheln und Flügelschlagen und Florent runzelte die Stirn.

„Das klingt nicht gut“, flüsterte Florent. „Er wird ihn verderben.“

„Ihr könnt kommen. Aber seid leise.“ Federico drehte sich nicht um, er war bemüht, die Haube auf dem Kopf des Vogels zu halten. Über seine Hand verliefen blutige Kratzer.

Luna trat hinter Florent an den Brunnen und erblickte den Greifvogel, der auf dem schmutzigen Brunnenrand saß. Er war beinahe so groß wie ein Huhn, aber wesentlich schlanker. Die grauen Federn auf dem Rücken und an den Flügeln waren mit schwarzen Flecken gesprenkelt. Die Haube auf dem Kopf verdeckte seine Augen, ließ aber Schnabel und Nasenlöcher frei. Er stellte das Gefieder im Nacken auf und schob die Brust mit den helleren flaumigen Federn vor. In seiner Hilflosigkeit versucht er, aggressiv zu wirken. Sie musste sich beherrschen, um die Haube nicht herunterzureißen und dem Tier seine Würde zurückzugeben.

„Ein kräftiges junges Weibchen“, flüsterte Florent. „Sie ist gut genährt, aber ihre Flügelfedern sind teilweise abgebrochen. Sie hat versucht, zu fliehen, nicht wahr?“

Der Junge nickte bekümmert. „Immer wieder. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Florent sah sich um. „Es ist zu hell hier. Sie wird von dem Sonnenlicht über dem Blätterdach angezogen. Bis sie Euch vertraut, braucht sie eine Hütte oder einen Raum, in dem sie kein Licht sieht, wenn sie allein ist.“

Er betrachtete die Lederkappe genauer. Sie war aus weichem Leder, vielleicht Ziege, und kunstfertig vernäht. „Die ist für einen ausgewachsenen Falken gemacht. Wir werden ihr die Lider vernähen, dann braucht sie die Kappe nicht mehr.“

Federico riss die Augen auf. „Du meinst aufbräuen? Das kannst du? Bringst du es mir bei?“

Florent zögerte verdutzt, weil der Junge plötzlich das vertrauliche Du benutzte.

Federico verstand es falsch. „Wenn ich erst selbst regiere, bezahle ich dich! Das schwöre ich. Dann verfüge ich über das Geld des Königreiches, auf dem der fette Erzbischof sitzt wie eine Kröte.“ Er war laut geworden und der Falke begann, nervös auf dem Brunnenrand zu springen.

„Gibt es einen Tischler im Palast?“, fragte Florent.

„Ja, Antonio. Warum?“

„Ich hoffe, Ihr steht mit ihm nicht auf Kriegsfuß? Er könnte ein Falkenhaus bauen, so wie es sein muss. Verschließbare Holzladen nach drei Seiten und oben ein abnehmbares Dach. Innen drin ein ordentliches Reck, auf dem sie sitzen kann. Platz genug für Euch, wenn Ihr sie füttert und ein kleines Bassin am Boden, in dem sie baden kann.“

Federico sah so glücklich aus, wie ein Sechsjähriger nur aussehen konnte. Zum ersten Mal wirkte er auf Luna wie ein Kind und nicht wie ein frühreifer Knabe. Er sprang auf und fiel Florent um den Hals. „Dich schickt meine Mutter, direkt aus dem Himmel!“

Florent räusperte sich und tauschte über die schmalen Schultern des Jungen hinweg einen schnellen Blick mit Luna. „Nun ja ...“

Federico trat einen Schritt zurück und nickte eifrig. „Bevor sie starb, sagte sie, ich solle nie daran zweifeln, dass sie über mich wacht. Und wenn ich Hilfe brauche, dann schickt sie mir welche.“ Er drehte sich zu Luna um. „Und du bist die Fee, die ihn hergebracht hat.“

Bevor Luna antworten konnte, redete Florent hastig drauflos: „Ich schlage Folgendes vor: Wir gehen morgen früh vor Sonnenaufgang her und vernähen deiner kleinen Freundin die Lider. Dann kann sie hierbleiben, bis der Tischler die Hütte fertig hat.“ Nun war auch er zum Du übergegangen, ohne es zu merken.

Luna wollte etwas einwenden, doch Federico war schneller: „Und du zeigst mir, wie ich ihr das Geschüh anbringe und die Langfessel? Und wenn sie das erste Mal fliegt, wie locke ich sie zu mir zurück? Einen Handschuh brauche ich auch, der hier ist viel zu groß.“ Er kramte wieder in der Kiste zu seinen Füßen und hielt einen derben abgewetzten Lederhandschuh in die Luft. Offensichtlich hatte er ein Sammelsurium unbrauchbarer Dinge für seinen Falken zusammengetragen.

„Langsam mit den jungen Pferden, amico mio.“ Florent hob die Hand. „Der Erzbischof bezahlt mich für den Unterricht im Schwertkampf und im Reiten. Von Falknerei war nicht die Rede.“ Er wurde lauter, weil Federico ihm ins Wort fallen wollte. „Das schließt nicht aus, dass wir zwei in unserer freien Zeit den Falken betreuen. Aber alles andere darf nicht darunter leiden, ist das klar?“

Hinter ihnen schwirrten plötzlich Flügel, der Vogel hatte sich die Haube vom Kopf gezogen und versuchte panisch, abzuheben. Federn stieben auf, Federico schrie etwas und Florent sprang auf, was den Falken noch mehr erschreckte. Unbeholfen flatterte er auf Luna zu, doch entweder war er zu schwer oder seine abgebrochenen Flugfedern verhinderten, ihn höher in die Luft zu tragen.

Luna breitete instinktiv ihren Schleier aus, warf ihn über den Vogel und fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel. Dabei drückte sie mit beiden Händen die Flügel an seinen Körper und hielt ihn fest.

Wind braust und drückt unter die Schwingen, die kalte Luft riecht frisch, wie Wasser in einem Bergbach. Ajji-ajji-ark... Weit unten die Beute, fokussiert, ahnungslos. Rasend schnell kommt die Erde näher, Pupillen fixieren den Fang, alles andere verschwimmt und verschwindet im freien Fall.

Federico sah mit offenem Mund, wie sich der Falke beruhigte, sogar die Augen schloss. Luna schien weit weg zu sein, sie taumelte leicht. Florent griff nach ihrem Arm, gemeinsam trugen sie den Falken zum Brunnenrand, der weiß gesprenkelt von getrocknetem Vogelkot war. Er ließ sich absetzen und sah sich zufrieden um.

„Lass das verbinden, wenn du in den Palazzo zurückgehst, hörst du?“ Luna deutete auf Federicos Hand. „Sie sollen Kräuter auflegen, solche Kratzer entzünden sich leicht.“

Der Junge nickte mit großen Augen.

Später begleitete Florent Luna nach Hause. Sie waren kaum zum Tor hinaus, da stellte sie die Frage, die sie die ganze Zeit beschäftigte: „Du willst dem Vogel die Lider vernähen?“

Er nickte und nahm ihren Arm, denn sie wirkte noch immer etwas unsicher auf den Beinen. „Es ist notwendig. Dann versucht sie nicht, zu fliehen und wird schneller zahm.“

„Aber das ist grausam!“

„Nicht, wenn es richtig gemacht wird. Wir nehmen ihr damit die Angst. Schließt du nicht selbst manchmal die Augen, wenn du dich fürchtest?“ Er zog sie ein wenig dichter an sich und sie ließ es zu.

„Warum setzt du ihr nicht einfach die Haube auf?“

„Sie passt nicht. Sie wird sie immer wieder abreißen.“

„Wie lange bleibt sie blind?“

„Bis sie sich an Federico gewöhnt hat. Dann wird der Faden entfernt. Es wird ihr nicht wehtun, vertrau mir.“ Er blieb stehen. „Woher wusstest du, wie man sie richtig hält?“

Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte im Gefolge von Kaiser Heinrich häufig Falken und andere Greifvögel bei der Jagd beobachtet. Sie fand es erstaunlich, wie viel Vertrauen die Tiere ihrem Falkner entgegenbrachten. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, wie die Vögel abgerichtet oder gehalten wurden. Vorhin hatte sie instinktiv reagiert, in der Hoffnung, dem Tier nicht zu schaden. „Wird sie wieder fliegen können?“

„Flugfedern wachsen sehr langsam nach. Man könnte sie schiften, also fremde Federn ansetzen. Aber in der Zeit, in der sie sich an Federico gewöhnt, darf sie ohnehin nicht fliegen.“ Sie gingen in Richtung Basar, der um diese Zeit menschenleer war. „Hast du Nadel und Faden in deiner Arzneisammlung?“

„Natürlich“, sagte sie erstaunt. Dann begriff sie. „Du meinst, für den Falken?“

„Ja. Wenn wir morgen früh nähen wollen, kann ich vorher nicht zum Markt gehen. Ich will aber nicht länger warten, weil sie sich sonst völlig die Flügel verdirbt.“

„Eigentlich sollte ich dir nicht dabei helfen.“ Luna seufzte. „Komm mit und schau selbst, was am besten geeignet ist.“

An Lornas Haus angekommen, schlichen sie hinein. Die Tür knarrte und die Geranien verbreiteten einen strengen Duft. Aus der Kammer hörten sie Schnarchgeräusche. Luna zog ihn in die Ecke mit dem Arzneiregal, wo sie eine Öllampe entzündete. Sie legte ihm eine Reihe von Nadeln vor. „Kupfer? Horn ist nicht geeignet, zu dick.“

Er nickte und wies auf eine dünne Kupfernadel.

In einer hölzernen Kiste bewahrte sie ihren Vorrat an Garn auf, das zum Verschließen von Wunden geeignet war. „Das hier ist Hanf.“

„Hast du was Dünneres?“

„Schafsdarm? Oder Seide? Sie ist sehr stabil.“

Er entschied sich für Seide. „Was bekommst du dafür?“

„Ist ein Geschenk. Versprich mir, dem Falken nicht wehzutun.“

Sie standen sich gegenüber und wussten nicht so recht, wohin mit ihren Blicken. Die Flamme der Öllampe knisterte.

Als Luna später mit offenen Augen zur Decke starrte, glaubte sie, nie wieder schlafen zu können. Er hatte sie zum Abschied geküsst, sacht auf die Lippen, und sie fühlte sich, als würde sie schweben. Sie lächelte vor sich hin und fasste einen Entschluss. Sie würde nicht in den eisigen Norden ziehen, in die Berge, wo sie als Kind mit ihrer Mutter gelebt hatte. Sie würde in Palermo bleiben. Schleier zum Schutz vor der heißen Sonne besaß sie genug. Kaiser Heinrich hatte sie ihr einst geschenkt und sie würden reichen bis an ihr Lebensende.

Noch vor dem Morgengrauen war Florent auf den Beinen. Er wusch sich mit dem Wasser aus der Schüssel in der Ecke seines Zimmers. Eine Magd stellte täglich einen Krug mit frischem Wasser daneben. Er wusste, es war immer dieselbe Magd, eine kleine, zierliche mit schwarzen Augen. Sie warf ihm beim Essen fragende Blicke zu. Irgendwann musste er ihr erklären, dass sie sich umsonst Hoffnungen machte. Danach würde er wahrscheinlich selbst zum Brunnen gehen müssen. Er seufzte und fuhr sich mit der Hand ein paar Mal durch die Haare. Dann suchte er das Päckchen heraus, das Luna ihm am Abend gegeben hatte. Die Nadel war sorgfältig in ein kleines Stück Stoff gesteckt, der Faden darum gewickelt. Er wühlte in der Kiste in der Ecke, in der seine Kleidung lag. Eine alte Tunika, die er sonst beim Schwertkampf trug und die schon einige Flicken zierten, zog er hervor, klemmte sie unter den Arm und schlich durch das noch schlafende Haus hinaus zum Garten. Am Eingang zum grünen Dickicht wartete Federico. Er hielt eine blakende Öllampe und zappelte vor Ungeduld. Die linke Hand zierte ein makellos gewickelter Verband. Der Trampelpfad schien im Licht der schwankenden Lampe beweglich wie ein Schiff auf hoher See. Florent fluchte, wenn er mit dem Fuß in einer Ranke hängen blieb oder über eine Wurzel stolperte. Der Junge, der den Weg genau kannte, blieb ab und zu stehen und leuchte ihm, was ihn eher blendete und nicht besonders hilfreich war.

„Geh langsamer!“, sagte er. „Wenn ich mir den Kopf aufschlage oder die Hand breche, kannst du das Unternehmen vergessen.“

Endlich kamen sie am Springbrunnen an. Der Falke tänzelte nervös und blinzelte in das Licht der Öllampe, blieb aber sitzen und sperrte den Schnabel weit auf.

„Sie hat Hunger“, erklärte Federico. „Soll ich sie erst füttern?“

„Nein, Futter gibt es hinterher, als Belohnung.“ Florent griff nach seinem alten Hemd. „Normalerweise gibt es dafür speziell angefertigte Säcke, aber das Hemd tut es auch.“ Ein leises Bedauern lag in seiner Stimme, denn er liebte dieses Hemd und er fürchtete, dass es danach unbrauchbar war.

Der Junge stellte die Lampe ab, kramte mit einer Hand in seiner Kiste und förderte einen Leinensack zutage. „Meinst du so etwas?“

Florent pfiff leise. „Mir scheint, das ist eine Wunderkiste. Woher hast du nur all diese Dinge?“

„Luigi hat sie mir geschenkt. Er war Falkner hier im Palast, bevor der Erzbischof kam. Der hat ihn nach Hause geschickt und die Falken verkauft. Unnützes Zeug und Geldverschwendung, hat er gesagt.“

„Und sie ...“ Florent deutete mit einer Kopfbewegung auf den Gerfalken. „... wurde nicht verkauft?“

„Nein. Niemand wollte sie, weil sie nicht abgetragen war. Außerdem sah sie schon damals so zerrupft und kränklich aus. Luigi meinte, ich soll sie ein bisschen aufpäppeln und dann freilassen.“

„Und warum hörst du nicht auf Luigi?“

„Sie freilassen?“ Federicos Augen blitzten zornig auf. „Sie ist mein einziger Freund und ich lasse sie nicht im Stich.“

Florent antwortete nicht. Er legte sein Hemd beiseite und betrachtete den Leinensack. Er war an zwei Seiten offen, konnte aber jeweils mit einem Band zugezogen werden. Ein richtiger Falkensack, er hatte sogar die perfekte Größe. Das grobe Leinen war stabil genug, den Krallen des Vogels standzuhalten. An der schmaleren Seite wurde der Kopf des Tieres durchgesteckt.

„Hier müssen wir vorsichtig zubinden, damit deine Schöne Luft kriegt“, erklärte er. „Wenn sie im Sack ist, wirst du ihn halten. Das ist nicht einfach, deshalb hör genau zu. Wenn du etwas falsch machst, kann es passieren, dass ich ihr Auge verletze und sie blind wird.“

Federico nickte mit eingezogener Unterlippe.

„Du musst sie mit beiden Händen festhalten, sodass sie gar nicht erst versucht, sich zu befreien. Drück sie sanft gegen deine Brust, benutze deine Unterarme.“

Der Falke beobachtete sie mit schief gelegtem Kopf. Seine Pupillen waren groß und schwarz.

„Wenn du zu fest drückst“, mahnte Florent, „wird sie ersticken.“

Federico verdrehte die Augen. „Das ist klar.“

Sein Lehrer zog im Licht der Öllampe die Seide durch das Nadelöhr. „Etwa so lang, siehst du? Besser etwas länger, wenn der Faden zu kurz ist, quälst du das Tier unnötig, dann musst du von vorn beginnen.“

Ohne weitere Vorrede griff er mit einer Hand nach dem Falken, schob das Tier in den Sack und gab ihn Federico. „Halt ihn ins Licht, damit ich gut sehe.“

Florents Hand zitterte ein wenig, als er zur Nadel griff. Er hoffte, dass der Junge es nicht sah. Die Lider eines Falken hatte er selbst erst ein einziges Mal vernäht, aber oft zugesehen. Doch Unsicherheit war ein schlechter Gehilfe bei einem solchen Eingriff. Er wusste, dass er dem Tier kaum Schmerzen bereiten würde, wenn er keine Fehler machte, atmete tief ein und hielt dann die Luft an. Behutsam stach er mit der Nadel von innen heraus in das Unterlid des Falken. „Genau in der Mitte, nicht zu weit oben, dann reißt der Faden aus, auch nicht zu weit unten. Halt den Kopf leicht zwischen deinen Fingerspitzen.“ Er zog die Seide beherzt durch das obere Lid und legte ihn über den Kopf des Falken, wo er die beiden Enden zusammenzog, sodass die Lider des Tieres sich über dem Augapfel schlossen. „Hier bindest du die Enden zusammen und steckst den Knoten unter den Kopffedern fest. Streich sie darüber, dann kann sie sich den Faden nicht herunterkratzen.“

Federico sah fasziniert zu und Florent vermutete, dass er am liebsten selbst ausprobieren würde, was er gerade gesehen hatte. „Wenn du nicht sorgfältig arbeitest, ist das Tier für immer verdorben. Aufbräuen darf man nur ein einziges Mal, weil das Lid sonst reißt und das Tier sein Auge nicht mehr richtig schließen kann, verstehst du?“ Er streichelte dem Falken beruhigend über den Rücken. „Vergiss niemals, dass ein Vogel ein Geschöpf Gottes ist. Er soll für dich jagen, und er verdient dafür deinen ganzen Respekt.“

Der Junge nickte, doch er war mit seinen Gedanken längst woanders. Sein Blick schweifte zur Kiste. „Ich habe Glöckchen. Wollen wir die anbringen?“

„Denk nach, ob das sinnvoll wäre.“

„Du meinst, solange sie nicht fliegt, braucht sie keine Glöckchen?“

„Genau. Außerdem wollen wir sie jetzt ausruhen lassen. Jetzt kann sie geatzt werden, hast du Fleisch?“

„Ja, die Köchin hat mir ein Täubchen gegeben.“

Sie zogen den Leinensack vom Körper des Vogels und setzten ihn auf den Brunnenrand. Gierig schlang er die schmalen Streifen Taubenfleisch hinunter, die Federico mit dem Messer abtrennte. Immer wieder riss er den Schnabel auf, bis sein Kropf deutlich sichtbar hervortrat.

„Das genügt“, sagte Federico. „Wenn sie zu viel frisst, würgt sie es wieder heraus.“

Florent nickte zufrieden. „Beim nächsten Mal zeige ich dir, wie man sie an den Arm gewöhnt und die Krallen schneidet.“ Dann wies er auf den Brunnen. „Und du wirst jetzt putzen, es kann nicht sein, dass sie in ihrem eigenen Dreck sitzt.“

„Aber heute ...“

„Kein Aber! Sauberkeit ist wichtig, wenn sie erst Ungeziefer im Gefieder hat, hast du noch mehr Arbeit.“ Er wandte sich zum Gehen. Die Morgendämmerung war inzwischen so weit fortgeschritten, dass er den Weg zurück ohne Öllampe finden würde. „Wir sehen uns beim Frühstück.“

Der Herbstwind in den Bergen über Palermo war mild, nicht so feuchtkalt und ungemütlich wie nördlich der Alpen. Der Himmel versteckte sich hinter mausgrauen Wolken. Luna genoss das Wetter, das ihr nach der Hitze des Sommers endlich Erleichterung brachte. Hier draußen konnte sie sogar den Schleier abnehmen. Florent ritt voran und führte sie auf einen kahlen Hügel, von dem sie eine herrliche Sicht über Palermo und das Meer haben würden. Federico, der neben ihr ritt, saß kerzengerade auf einem falben Renner. Mit der rechten Hand hielt er die Zügel, auf dem linken Arm trug er den Falken. Zum ersten Mal ritten sie mit dem Vogel aus und der Junge platzte fast vor Stolz. Luna vermutete, dass die Muskeln in seinem Unterarm bereits rebellierten, denn die Haltung, in der er ihn vom Körper weg hielt, sah denkbar unbequem aus.

Der Vogel saß ruhig auf dem Handschuh, die gelben Krallen fest ans Leder geklammert. Ein kurzer Lederriemen verband sein Geschüh mit dem Handgelenk, doch er würde nicht abspringen, wenn nichts Unvorhergesehenes geschah. Noch immer aufgebräut, lebte er in Dunkelheit und was er nicht sah, beunruhigte ihn nicht. Nur manchmal, wenn ein Vogel aufflatterte oder ein aufgescheuchtes Kaninchen davonrannte, stellte sich sein Nackengefieder auf und er drehte den Kopf in alle Richtungen.

Sie waren auf dem Hügel angekommen, die Pferde schnauften und reckten die Köpfe nach dem Gras, das hier oben frisch und grün aussah. Florent half dem Jungen aus dem Sattel.

„Wie geht es deinem Arm?“, fragte er. „Halt ihn näher am Körper, dann ist es nicht so anstrengend.“

„Sie ist nicht schwer“, sagte Federico großspurig.

Florent sah sich nach einem Platz zum Ausruhen um. „Sie hat viel gelernt in der letzten Woche, du übrigens auch. Ihr könnt beide stolz sein.“

Lunas Zelter gehörte der Frau des Quartiermeisters, eine friedliche Stute, die jetzt dankbar zu grasen begann. Am Rande der Hügelgruppe wuchs eine weit ausladende Pinie, unter der Florent den Proviantkorb abstellte.

„Kommt zu Tisch!“, rief er und breitete eine Decke aus. „Wohl dem, der gute Beziehungen zur Küche hat.“

Federico grinste. „Du nicht mehr!“

Florent warf einen schnellen Blick zu Luna herüber. Gestern hatte er der kleinen Schwarzäugigen deutlich gesagt, dass sein Herz vergeben sei. Sie heulte sich daraufhin in der Küche bei den anderen Mägden aus, sodass jeder im Palazzo Bescheid wusste. Wahrscheinlich würde es nicht bei einem leeren Wasserkrug bleiben, er musste sich gewiss auf weitere Unbequemlichkeiten einstellen.

Der Junge winkte ab. „Sie tröstet sich mit dem neuen Stallknecht. Heute früh, als ich die Pferde satteln ließ, kam sie aus der Futterkammer.“

„So?“, sagte Florent pikiert. „Das ging aber schnell.“

„Was denn?“, fragte Luna, während sie sich neugierig über die Leckereien beugte. Die dicke Küchenmagd hatte sie für ihren Liebling eingepackt.

„Florent findet, dass wir beide viel gelernt haben in der letzten Woche.“ Der Junge hob den Arm und der Falke plusterte sich auf, als hätte er das Lob verstanden.

Luna nickte. „Das stimmt. Sie ist ausgeglichener, sie hat sich an dich gewöhnt. Und die Händler in der Stadt hatten eine ruhige Woche. Ich habe gehört, sie wollen den Falken zum Vogel des Jahres erklären.“

Der Junge blickte auf und entdeckte den Schalk in ihren Augen. Er lachte leise und holte ein totes Küken aus seiner Tasche, das der Vogel sofort mit seinem scharfen gelben Schnabel zu rupfen begann.

„Es wird Zeit, dass sie einen Namen bekommt“, sagte Florent und schenkte dunklen Wein in zwei Tonbecher aus. „Hast du darüber schon nachgedacht?“

Federico zögerte. „Ich hätte sie gern nach meiner Mutter benannt, aber ich fürchte, das ist zu lang.“

„Du hast Recht, der Name darf höchstens zwei Silben haben.“ Florent schnupperte an dem Wein. Er duftete nach Zimt und roten Beeren. „Wer möchte Rindfleisch?“

„Aiij-aiij“, machte der Falke und schlug mit den Flügeln. Federico erschrak und zog am Riemen, was den Vogel zum Hüpfen brachte.

Luna lachte. „Rindfleisch ist ihr lieber, das muss sie nicht rupfen.“

„Bleib ruhig“, mahnte Florent den aufgeregten Jungen. „Sie darf auf keinen Fall abspringen, solange sie nichts sieht.“

„Wie lange muss sie denn noch im Dunkeln sitzen?“, fragte Luna mit Unbehagen in der Stimme. „Sie hätte doch mehr Freude an unserem Ausflug, wenn sie etwas sehen könnte.“

Er musterte das Tier nachdenklich, das von Luna mit einem dünnen Streifen Rindfleisch verwöhnt wurde. „Wir könnten es probieren, was meinst du, Federico?“

„Jetzt?“

„Ja. Ziehe den Faden hinter den Federn hervor und lass ihn langsam nach vorn gleiten.“

Der Junge fasste vorsichtig zwischen die Kopffedern des Vogels. Als der Faden sich lockerte, öffneten sich die Lider, und der Falke duckte sich erschrocken. „Alles in Ordnung, Bella. Keine Sorge, ich bin bei dir“, flüsterte Federico und strich ihr über den Rücken.

„Hast du die neue Haube dabei?“, fragte Florent.

„In der Satteltasche.“

„Dann lösen wir jetzt den Faden und setzen ihr für den Heimweg die Haube auf.“ Er ging zu den Pferden.

Luna lächelte erleichtert. Endlich endete diese grausame Prozedur, die sie wahrscheinlich mehr geschmerzt hatte als den Falken. „Bella ist ein guter Name“, sagte sie.

Federico nickte. „Kurz und deutlich.“

Mit besorgter Miene kam Florent zurück. „Reiter! Etwa fünfzig Bewaffnete, sie sind kurz vor den Stadttoren von Palermo. Wir müssen zurück.“ Vorsichtig zog er dem Vogel den Seidenfaden vom Kopf und setzte ihm die Lederhaube auf. Sie war aus weichem Ziegenleder gearbeitet, mit nach außen gestülpten Nähten, er hatte sie von einem arabischen Händler gekauft. Die Sarazenen stellten die besten burquʿ her.

Vom Rande des Hügels aus konnten sie zwar die Reiter gut sehen, aber das Wappen nicht erkennen. Am östlichen Tor hielten die Männer kurz, wurden aber dann zügig eingelassen.

Sie ritten im scharfen Galopp und benutzten das gleiche Tor, um in die Stadt zurückzukehren.

„Welches Wappen führten die Männer, die eben kamen?“, fragte Florent den Torwächter.

„Ihr Anführer nannte sich Markgraf von Ancona.“

„Sein Anliegen?“

Der Torwächter musterte Florent empört, wahrscheinlich wollte er zurück zu seinem Bierkrug, der im Fenster des Torhauses stand. Doch dann fiel sein Blick auf Federico und er verneigte sich kurz. „Dringende Nachrichten für den Erzbischof.“

„Mit fünfzig bewaffneten Begleitern habt Ihr ihn einfach in die Stadt gelassen?“ Federico funkelte den Mann vom Sattel herab an.

Der Wächter wand sich und suchte nach Ausflüchten. „Was sollte ich tun? Im schlimmsten Fall hätte er mich niedergestochen und das Tor selbst geöffnet. Allein kann ich nichts ausrichten. Seit Monaten bitten wir um mehr Wächter an den Toren.“

Luna dagegen dachte angestrengt nach. Markgraf von Ancona. Irgendetwas ließ ihr Unterbewusstsein Alarm schlagen. Ihre Stute schüttelte heftig den Kopf, als ihr eine Biene um die Ohren summte. Sie klopfte ihr beruhigend den Hals. Und da plötzlich fiel es ihr ein. „Annweiler! Markward von Annweiler! Er bekam von Heinrich die Gebiete um Ancona zugesprochen und nennt sich hier im Süden Markgraf von Ancona.“

Florents Brauner tänzelte und drehte sich im Kreis. „Kaiser Heinrichs engster Vertrauter? Was kann er wollen?“

„Mich!“, sagte Federico lakonisch. „Meine Mutter hat immer gesagt: Hüte dich vor Markward von Annweiler. Er ist ein Wolf im Schafspelz.“

Der Wächter war so weiß wie die gekalkte Wand in der Kammer hinter ihm. „Soll ich Verstärkung anfordern? Die Nachtwache könnte …“

„Dazu ist es zu spät.“ Florent überlegte fieberhaft. „Können wir Federico in der Stadt verstecken?“

„Nein.“ Der Junge richtete sich im Sattel auf. „Ich verstecke mich nicht. Ich werde ihn fragen, was er will.“

„Wenn uns dazu Gelegenheit bleibt“, murmelte Florent. Er trieb sein Pferd an. Lunas Herz klopfte laut, jeder Schlag dröhnte in ihren Ohren. Wenn es sich um Markward handelte, durfte sie ihm auf keinen Fall begegnen. Nach Kaiser Heinrichs Tod war sie mit ihren Eltern vor ihm geflohen, denn Markward machte sie für dessen Sterben verantwortlich. Traurigkeit überfiel sie. Ihr neues Leben hier in Palermo war so verlockend erschienen. Doch falls Markward blieb, musste sie die Stadt verlassen.

Florent beugte sich zu Federico. „Kennst du einen Weg in den Palast, der nicht bewacht wird?“

„Klar.“

„Dann werden wir diesen Weg nehmen, Markwards Männer warten mit Sicherheit am Tor. Wenn wir ungesehen hineinkommen, können wir herausfinden, was er will.“

„Es ist aber nur eine Schlupfpforte. Die Pferde müssen wir zurücklassen.“ Federico sah sich nach Luna um. „Könntest du dich um sie kümmern?“

Luna hob die Augenbrauen. „Was soll ich mit ihnen machen?“

„Geh in die Schustergasse und frag dort nach Emilio. Er soll sie zum Palasttor bringen und sagen, er hätte sie vor der Stadt eingefangen. Vielleicht bekommt er eine Belohnung“, sagte Federico und grinste.

Der Junge führte Florent in weitem Bogen um den Palazzo herum. Am Fuße des Wirtschaftstraktes faulten vor der Mauer Küchenabfälle und anderer stinkender Unrat. Sie kletterten durch den schlammigen Graben und stiegen über braune Kohlblätter und abgenagte Knochen. Ein paar fette Ratten ließen sich nicht stören, sie stoben erst davon, als Florent einer von ihnen einen Fußtritt versetzte.

„Bei den Augen Gottes“, stöhnte er, „das ist dein Schleichweg?“

„Wenn er einfacher zu gehen wäre, hätte man ihn schon entdeckt.“

Sie kletterten den steilen Hang hinauf zum Fuße der Palastmauern. Unter einem Vorsprung fand sich eine schmale eiserne Tür, die dazu diente, größere Mengen Abfall, die nicht gleich aus dem Fenster gekippt wurden, hinauszubringen. Florent rüttelte am Riegel, sie war verschlossen. Federico bückte sich nach einem Stein und zog einen kleinen Eisenhaken hervor, mit dem er geschickt das Schloss öffnete. Der schmale finstere Gang hinter der Tür führte zwischen unverputzten Wänden leicht bergan. „Nicht so schnell!“, zischte Florent, der sich an der Mauer entlang tastete. Sie kamen an Vorratskammern vorbei, aus denen es abwechselnd nach Fisch und Schinken und nach Äpfeln duftete. „Ich wette, hierfür hast du auch Schlüssel?“, flüsterte er.

„Nicht nötig“, entgegnete Federico über seine Schulter. „Ich habe gute Beziehungen zur Küche, wie du weißt.“

Florent stolperte über einen Stein und fluchte leise.

„Wir sind gleich am Küchentrakt. Dort ist es hell“, sagte der Junge.

Sie bogen um eine Ecke und standen vor einer Brettertür, durch deren Ritzen Licht schimmerte. Das Klappern von Töpfen, laute Stimmen und das lodernde Brausen von Feuer klangen eindeutig nach großer Küche. „Schau, ob du fremde Männer siehst!“, sagte Florent und deutete auf ein Astloch.

„Ich sehe nur den Koch und seinen Gehilfen.“

„Dann los, wir müssen es riskieren.“

Sie öffneten die Tür und betraten den riesigen Raum, in dem eine große Feuerstätte für enorme Hitze sorgte. Dampf und Rauch zogen unter der geschwärzten Decke entlang zu einem breiten Abzug, der schräg oben im Mauerwerk verschwand. Der Koch stand mit gerunzelter Stirn vor einem mächtigen Kessel, während ein Gehilfe mit einem Löffel darin herumrührte. Zwei Mägde schnitten an einem Tisch Gemüse. Eine von ihnen entdeckte sie und schlug die Hand vor den Mund. Es war die dicke Frau, die sich um Federico kümmerte.

„Wo bist du gewesen?“, rief sie. „Du musst dich verstecken.“ Sie wischte sich die Hände an ihrem Kittel ab und eilte auf sie zu. „Es sind deutsche Ritter gekommen, sie suchen dich überall im Palazzo, selbst den Garten haben sie durchstöbert.“ Sie versuchte, ihn an sich zu drücken, wobei sie den Falken übersah und Federico mit einem gekonnten Manöver zur Seite ausweichen musste.

„Wo sind die Deutschen jetzt?“, fragte Florent.

Inzwischen waren der Koch und sein Gehilfe herbeigeeilt.

„Sie haben sich im ganzen Palast verteilt und stellen alles auf den Kopf. Sie wollen den Jungen“, sagte der Koch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Was ist mit dem Erzbischof?“

„Er bekam einen Herzanfall und ringt mit dem Leben.“

„Wie viele von unseren Wachsoldaten sind im Palast?“, fragte Florent.

Der Koch winkte ab. „An den Toren waren jeweils zwei, die haben sie überwältigt. Auch die sechs Männer der Bereitschaft sind festgesetzt. Und die Stadtwachen kommen nicht mehr herein, weil die Tore geschlossen sind.“

„Wie konnte der Erzbischof nur so nachlässig sein?“ Florent war fassungslos. „Wo ist Graf Gentile, der Befehlshaber der Wache?“

Der Koch hob beide Hände. „Es heißt, er sei nach Messina, um Proviant zu holen.“

„Proviant? Seid Ihr nicht dafür zuständig?“

„Normalerweise schon. Aber er bestieg heute früh ein Schiff, das habe ich selbst gesehen, als ich im Hafen Fisch kaufte.“

„Das stinkt doch gen Himmel.“ Florent sah Federico an.

„Wenn Ihr Hilfe braucht, Majestät, ich bin bereit“, rief der Gehilfe und schwang seinen Holzlöffel.

Der Koch runzelte die Stirn. „Scher dich an den Kessel, Nichtsnutz! Wenn etwas anbrennt, wirst du Hilfe brauchen.“ Der Junge verzog sich eilig.

„Was habt Ihr vor?“, fragte der Koch.

In diesem Moment stürmte ein Küchenjunge herein. „Sie sind in der Bibliothek und bedrängen den Magister! Jemand muss ihm helfen!“

Federico rannte zur Tür, Florent folgte ihm. Der Junge lief quer über den Hof auf die Bibliothek zu. Im Augenwinkel sah Florent zwei bewaffnete Ritter am Eingang zum Haupthaus stehen, doch sie waren in ein Gespräch vertieft und warfen nur einen flüchtigen Blick auf das Kind mit dem Falken. Er dankte Gott, dass der Junge eine schäbige Filzkappe auf dem Kopf trug, die sein blondes Haar verdeckte. Auch sonst sah er nicht wie ein König aus, die Beinkleider schmutzig und der Hemdsärmel zerrissen, im Gesicht und an der freien Hand die blutigen Reste der Falkenatzung.

Die große Tür zur Bibliothek stand offen. Laute Stimmen drangen heraus. „Wenn dir dein Leben lieb ist, rede endlich: Wo ist der Junge?“

Florent hatte in seiner Zeit als Wilhelms Lehrmeister nicht viel mit Markward von Annweiler zu schaffen gehabt, aber dessen Stimme erkannte er sofort. Sie schlichen sich durch das Labyrinth aus Regalen heran.

„Ich weiß es nicht, wie oft soll ich das noch sagen?“ Die Stimme des Magisters zitterte leicht. „Er tut und lässt, was er will.“

„Ihr seid sein Lehrer, Ihr werdet wissen, was er für Vorlieben hat. Wo könnte er um diese Zeit sein?“

„Er liebt seinen Falken. Er könnte auch im Pferdestall sein, wo er ...“

„Papperlapapp! Im Stall ist er nicht. Aber es fehlen drei Pferde. Wohin ist er geritten? Und mit wem?“

„Ich weiß es nicht, so glaubt mir doch!“ Die Stimme des Magisters kippte und war nur ein Fiepen.

Florent registrierte mit Hochachtung, dass der alte Mann selbst in größter Angst nichts verriet, obwohl er genau wusste, mit wem Federico ausgeritten war. Der Junge hatte ihm heute früh berichtet, dass sein Falke zum ersten Mal mit hinausdurfte. In diesem Moment hörten sie einen dumpfen Schlag und einen Schrei.

Federico machte einen Satz nach vorn und sprang aus der Deckung, bevor Florent es verhindern konnte. „Sofort lasst Ihr den Mann in Ruhe! Was seid Ihr für ein erbärmlicher Feigling!“

Seine Stimme zitterte vor Wut und vermittelte doch Autorität, sodass es für einen Augenblick still wurde. Als Florent hinter dem Regal hervortrat, sah er eine Szene, die wie eingefroren schien. Der Magister saß mit weit aufgerissenen Augen in dem Stuhl, der von seinem Peiniger nach hinten gekippt und in dieser misslichen Lage gehalten wurde. Seine kurzen Beine hingen hilflos in der Luft. Der kräftige Mann mit weißem Haupthaar und einem Lederharnisch, der sich über den Magister beugte, wandte sein überraschtes Gesicht Federico zu. Der kleine König stand vor dem Schreibtisch und hielt den Falken wie ein Schutzschild vor sich.

Am Fenster entstand eine Bewegung, Florent drehte den Kopf und entdeckte einen weiteren Ritter, jünger als der Erste und mit unmissverständlicher Geste die Hand am Schwertgriff.

„Sieh an!“, sagte Markward endlich und richtete sich auf. „Wenn das nicht das Subjekt unserer Begierde ist!“

„Wenn Ihr ein Ritter seid, dann helft dem Magister aus seiner Lage!“, befahl Federico, ohne mit der Wimper zu zucken.

Von Annweiler richtete den Stuhl auf und klopfte dem Alten auf die Schulter, ohne ihn weiter zu beachten. Seine Augen waren starr wie die einer Schlange auf den Jungen gerichtet.

„Was wollt Ihr?“, fragte Federico.

„Euch, Majestät!“ Markwards Stimme war voller Triumph. Mit der schon etwas hölzernen Geschmeidigkeit eines alten Fuchses kam er um den Schreibtisch herum und musterte den Jungen. „Die Augen Eures Vaters, darin besteht kein Zweifel. Besonders königlich seht Ihr allerdings nicht aus. Es wird Zeit, dass sich jemand um Euch kümmert.“ Er trat einen kleinen Schritt zurück und deutete eine Verbeugung an. „Markward von Ancona, ich war der getreue Berater Eures Vaters, habe ihm gedient, bis er unglücklicherweise verstarb. Er hätte nicht gewollt, dass Ihr so vernachlässigt aufwachst.“

„Und das wollt Ihr jetzt ändern?“ Wer Federico kannte, hörte den Hohn in seiner Stimme.

„Ihr braucht eine ordentliche Ausbildung, standesgemäße Kleidung ...“, sein Blick wanderte abfällig über die Filzkappe und das zerrissene Hemd, „... und Unterricht im Geschäft des Regierens. Ihr werdet einmal über das gesamte Römische Reich Deutscher Nation herrschen, höchste Zeit, Euch darauf vorzubereiten.“

Jetzt platzte Florent der Kragen. „Was gibt Euch das Recht, hier einzudringen“, fuhr er dazwischen, „und zu glauben, Ihr könntet mir nichts, dir nichts, die Erziehung des Königs von Sizilien übernehmen? Nehmt Eure Männer und verschwindet!“

Markward riss die Augenbrauen hoch. Bisher hatte er den unbewaffneten Florent nur am Rande wahrgenommen. Es folgte ein kurzer Blickwechsel mit seinem Begleiter, dessen Hand am Schwertgriff lag und der sich augenblicklich in Bewegung setzte.

Federico überlegte nicht lange. Er zog seinem Falken die Haube vom Kopf, löste die kurze Fessel vom Handschuh und warf ihn Markward entgegen. Der Vogel, der plötzlich sehen konnte und sich gleich darauf in der Luft befand, kreischte überrascht auf und schlug dem Mann seine messerscharfen Krallen in die Kopfhaut, bevor er sich abstieß und panisch flatternd zwischen den Regalen verschwand.

Florent dachte bedauernd an das Schwert in seiner Kammer, als er den Jungen in Richtung Ausgang schob. „Lauf!“

Markward war hinter dem Schreibtisch in Deckung gegangen und hielt beide Arme über dem Kopf. „Diepold!“, brüllte er.

Florent und Federico rannten durch das Bücherlabyrinth zurück in Richtung Tür, dann die lange Balustrade entlang zur Treppe. Unten im Hof standen einzelne Gruppen von Bediensteten, die ihre Hälse reckten. Die zwei Flüchtenden erregten die Aufmerksamkeit von Markwards Vasallen, die zur Treppe eilten, um sie in Empfang zu nehmen. Einige Knechte stellten sich den Fremden in den Weg, doch die bewaffneten Männer schoben sie rüde beiseite. Florent suchte in Gedanken nach einem Fluchtweg oder Versteck, hinter ihnen polterte Diepold mit gezogenem Schwert die Stufen hinab, unten auf dem Hof sammelte sich ein gutes Dutzend von Markwards Rittern. Hoffnungslos.

„Federico, gib auf!“, rief er.

„Nein!“

Sie hatten inzwischen zwei Drittel der Stufen hinter sich, unten bildeten Markwards Männer eine undurchdringliche Mauer aus Harnischen. Auf einem Absatz des Marmorgeländers stand eine steinerne Vase, die in besseren Zeiten einmal mit Blumen bepflanzt gewesen war. Der Junge riss sie herunter, sie fiel der zurückweichenden Menge vor die Füße. Er nutzte den Augenblick und sprang mit einem behänden Satz seitlich über das Geländer hinweg. Ehe die Ritter sich besonnen, war er unterhalb der Treppe in einem der Zugänge zum Keller verschwunden. Florent sprang einen Augenblick später, doch nun reagierten die Männer. Als er unten aufkam, landete er mitten zwischen ihnen. Er riss dem ersten besten sein Schwert aus der Hand und drehte sich wie ein Kreisel. Doch gegen die Überzahl war er machtlos. Irgendwann packten ihn feste Hände und drückten ihn rücklings zu Boden.

„Wen haben wir denn hier? Seid Ihr der Patenonkel, oder was?“, fragte Diepold, der keuchend die unterste Stufe erreicht hatte. Er setzte Florent die Schwertspitze auf die Brust und brüllte über den Hof: „Wo immer Ihr seid, großer König von Sizilien, kommt heraus, wenn Euch das Leben Eures Begleiters lieb ist! Ich zerlege ihn sonst gleich hier in handliche Stücke.“

„Hör nicht auf ihn!“, rief Florent ebenso laut und flehte in Gedanken, der Bengel möge einmal auf ihn hören.

Markwards Scherge holte aus und trat ihm in die Rippen. Florent keuchte und das umstehende Gesinde murrte entrüstet.

„Was ist?“, schrie Diepold. „Kommt Ihr heraus? Am Boden liegt er bereits, ich muss ihn nur noch zerhacken.“

Florent versuchte, etwas zu rufen, doch der kräftige Tritt hatte ihm die Luft aus der Lunge gepresst. Mühsam rang er nach Atem. Aus dem Augenwinkel sah er die Filzkappe aus dem Kelleraufgang auftauchen. Er schüttelte heftig den Kopf, aber Federico starrte ihn trotzig an und marschierte direkt auf seinen Widersacher zu.

„Wer immer Ihr seid“, sagte er mit zittriger Stimme, aber voller Würde, „fürchtet den Tag, an dem ich volljährig bin und den Thron besteige.“

Diepold sah ihn verdutzt an, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er entschied sich, zu grinsen, aber es sah irgendwie schief aus.

Markward kam die Treppe herab, er blutete aus einer tiefen Wunde auf der Stirn, auf den Kopfhaut zwischen seinen schlohweißen Haaren schimmerte ebenfalls Blut. „An Mut mangelt es Euch nicht, Majestät. Auch das habt Ihr von Eurem Vater. Ich schlage vor, wir setzen unser Gespräch fort, wenn wir uns alle ein wenig beruhigt haben. Bringt sie ins Verlies!“

Ein dunkelhaariger Junge lief durch die Gassen zum Hause des Kräuterweibes Lorna. Er klopfte kurz an ihrer Tür und wurde sofort eingelassen.

„Emilio! Was hast du erfahren?“ Luna zog ihn aus dem dunklen Flur in die etwas lichtere Kammer. Erst jetzt sah sie den behaubten Falken auf seiner Faust. Die glatten Federn auf dem Rücken glänzten, das helle Brustgefieder war herausfordernd aufgeplustert. Sie legte die Stirn in Falten. Wenn Bella nicht bei Federico war, bedeutete das nichts Gutes.

„Rede schon, was ist passiert?“, meldete sich die Stimme der Alten aus der Ecke.

Emilio genoss einen kurzen Moment die Neugier der beiden Frauen. „Als ich die Pferde abgab, sorgte das für gehörige Verwirrung unter den Wachleuten. Es waren Deutsche und sie erkannten die Tiere nicht. Ich wartete eine Weile, bis sie ihren Befehlshaber geholt hatten. Ich wollte schließlich eine Belohnung. Eine Zeit lang befürchtete ich, sie würden mich als Pferdedieb ins Verlies bringen, denn sie warfen mir misstrauische Blicke zu.“

„Emilio!“, mahnte Luna ungeduldig.

„Während ich also am Torhaus wartete, schlich sich ein kleiner Mann heran, der irgendwie kauzig aussah, recht alt und ganz in Schwarz gekleidet. Er sagte, er sei Federicos Lehrer, er hätte gesehen, dass ich sein Pferd zurückbringe und fragte, wer ich sei. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich mich für Federicos besten Freund halte, nickte er zufrieden und hieß mich warten. Das musste ich sowieso, weil der Befehlshaber noch immer nicht erschienen war und die Deutschen kopflos hin und her rannten.“

„Das muss Magister Franciscus gewesen sein“, warf Luna ein.

„Mag sein, jedenfalls kam er nach kurzer Zeit mit dem Falken wieder und befahl mir, ihn zu Euch zu bringen. Ihr wüsstet, mit ihm umzugehen, sagte er.“

Luna lachte verblüfft. „Wieso glaubt er das?“

„Wenn Ihr Hilfe braucht, ich bin gern bereit, ihn zu atzen und spazieren zu tragen.“ Emilio strich Bella übers Gefieder und sein begehrliches Grinsen legte etliche Zahnlücken frei.

„Was ist mit Federico und Florent geschehen?“, fragte Lorna.

„Der Magister sagte, sie seien im Verlies.“

„Gütiger Gott!“ Luna sah ihn panisch an. „Wir müssen etwas tun!“

Emilio hob den Kopf. „Ich gehe zurück in den Palazzo, ich bin oft mit Federico durch den Küchentrakt geschlichen. Ich finde heraus, wie wir ihnen helfen können.“

Luna betrachtete stirnrunzelnd den Falken. „Warum hat er sie nicht im Palast gelassen? Irgendjemand hätte sie gewiss gefüttert.“

„Einer von den Knechten erzählte, der deutsche Befehlshaber sei verletzt, des Königs Falke habe ihn angegriffen.“

Lorna kicherte. „Kluger Vogel.“

Luna musterte das Tier und widerstand dem Drang, ihm die Kappe abzunehmen. „Arme Bella, dann musst du dich also auch vor Annweiler verstecken. Emilio, versuch, im Palast die Falkenkiste mit dem Geschirr aufzutreiben. Ich werde sie brauchen.“

Das Verlies war trocken und, soweit sie beurteilen konnten, auch sauber. Allerdings besaß es kein Fenster. Sie hockten im Dunkeln nebeneinander an der Wand aus grob behauenen Steinen und warteten.

„Er lässt uns bald holen“, sagte Federico, als müsse er Florent Mut zusprechen. „Er wird versuchen, mir seine Erziehung anzupreisen.“

Tatsächlich hatte Florent den Zuspruch des Jungen bitter nötig, denn obwohl es ihm als Lehrmeister zugekommen wäre, den König zu trösten, fühlte er sich dazu kaum in der Lage. Die Situation in dem Verlies erinnerte ihn an die Tage, die er mit seinem letzten Schützling hier unten verbringen musste.

Auch Wilhelm glaubte damals fest daran, dass Kaiser Heinrich ihn holen würde, schließlich hatte Wilhelm versprochen, mit ihm das Kreuz zu nehmen und ins Gelobte Land zu ziehen. Und dann war alles anders gekommen. Eine leise Stimme in ihm sagte, dass die Situation nicht die gleiche sei, diesmal habe nur von Annweiler sie ins Verlies werfen lassen und nicht ein rechtmäßiger Kaiser, der seinen ebenso rechtmäßigen Rivalen aus dem Weg räumen wollte.

Die Stimme wurde übertönt von etwas Lauterem, das sich mit aller Macht in seinem Bewusstsein ausbreitete und ihm fast den Verstand raubte: Was, wenn Markward glaubte, er selbst habe ein Anrecht auf diesen Thron? Oder wenn er im Auftrag von Federicos Onkel Philipp von Schwaben handelte, der als König jenseits der Alpen regierte? Philipp musste den Jungen als störenden Rivalen betrachten, schworen die deutschen Fürsten doch einst seinem Vater Heinrich, dass sie Friedrich, wie er im Norden genannt wurde, als legitimen König anerkennen würden.

Er legte den Kopf in beide Hände und schluckte mühsam den Kloß in seiner Kehle hinunter. So viele rechtmäßige Könige, das verstand niemand, der mit gesundem Menschenverstand auf die Welt gekommen war. Und wer sollte ihnen hier heraushelfen? Der Erzbischof kämpfte um sein Leben, Graf Gentile, der Befehlshaber der Wache, hatte sich feige davongemacht. Blieb der Küchenjunge. Er lachte bitter auf.

„Was ist?“, fragte Federico und schob seine Hand herüber. „Warum lachst du?“

„Wenn man nicht weiter weiß und der Verstand zu versagen droht, dann muss man plötzlich lachen.“ Florent sprach leise und atmete flach, seine Rippen schmerzten.

Federico rückte näher an ihn heran. „Machst du dir Sorgen?“

„Du etwa nicht?“

„Hoffentlich hat er Bella nicht töten lassen.“

„Ich wette, sie sitzt in der Bibliothek auf einem Regal und kackt auf die Ledereinbände.“

Federico kicherte und es klang seltsam hohl in dem Kellerraum. „Bestimmt versucht der Magister, ihr Latein beizubringen.“

„Gute Idee, dann kann sie sich auf Latein entschuldigen, bevor sie ein Kaninchen schlägt.“ Jetzt lachten sie beide.

„Wenn er mich fragt“, sagte Federico, „werde ich zustimmen. Unter der Bedingung, dass der Magister und du weiterhin meine Lehrer bleiben dürfen.“

Florent nickte, dann fiel ihm ein, dass der Junge im Dunkeln nicht sehen konnte. „Ich fürchte, du hast keine andere Wahl. Ansonsten wird er uns hier unten verschmoren lassen und die Macht an sich reißen.“

„Wenn ich volljährig bin, werde ich mich rächen, furchtbar rächen. An diesem schrecklichen Diepold und an Markward und an Graf Gentile. Und du wirst mein Kanzler, versprochen.“

Florent traten die Tränen in die Augen, er war einen Moment dankbar für die Dunkelheit. Es waren Tränen der Rührung, aber auch der Wut und der Ohnmacht. Sie schnürten ihm die Kehle zu. Stumm drückte er Federicos Hand.

Eine Ewigkeit später polterten Schritte die Treppe herab, klirrten Schlüssel und quietschten Türen. Einer von Markwards Vasallen leuchtete mit einer Fackel in die enge Kammer und wies auf den Jungen. „Mitkommen!“

Florent wollte ihm folgen, doch der Mann stieß ihn grob zurück und verriegelte die Tür. Er hämmerte mit der Faust an die eisernen Beschläge, bis er vor Schmerzen beinahe ohnmächtig wurde. Dann saß er apathisch auf dem Boden. Die Erinnerung fraß ihn auf, er sah die Bilder von damals – als sie Wilhelm zurückbrachten. Diesen warmherzigen, immer optimistischen Jungen, der ein lebloses Bündel aus blutigem Fleisch gewesen war, als sie ihn zu ihm in die Zelle warfen. Jetzt hatte er erneut versagt.

Später hallten Schritte auf dem Gang, Schritte eines Mannes. Sicher trug er Federico über der Schulter. Oder er brachte ihn gar nicht erst zurück. Wenn Markward die Macht übernehmen wollte, war es für ihn am einfachsten, den Jungen zu töten, daran bestand kein Zweifel. Der Riegel schlug hart gegen die Arretierung, die rostigen Angeln gaben ein gequältes Quietschen von sich.

„Florent von Accera, kommt!“

Seine Rippen schmerzten, als er auf die Beine kam und aus der Tür trat. Das Licht der Fackel blendete ihn, er konnte das Gesicht des Wärters nicht sehen. „Was ist mit dem Jungen?“

„Geht voraus!“ Der Mann deutete in Richtung Ausgang. Er brachte ihn die Treppen hinauf in den Wohnbereich des Palazzos, dorthin, wo der Saal und die Residenzräume des Königs lagen. Wenigstens würden sie ihn hier nicht umbringen, dafür waren die Teppiche zu kostbar. In dem Raum, in dem er seinen Kontrakt als Lehrmeister erhalten hatte, saß von Annweiler hinter dem Schreibtisch des Erzbischofs. Bevor er etwas sagen konnte, kam Federico vom Fenster herangeschossen und fiel ihm um den Hals. Als Florent verhalten stöhnte, besann er sich und nahm Abstand.

„Du bleibst mein Lehrmeister“, raunte er ihm zu, bevor er ihn in Richtung Tisch schob.

Markward musterte ihn wie der Fuchs das Kaninchen und deutete auf den Stuhl vor dem Tisch. Die Wunde auf seiner Stirn war mit einigen Stichen genäht worden. Eine Narbe würde bleiben, der er sich als Ritter nicht unbedingt rühmen konnte. „Der junge König hat sich erheblich für Euch eingesetzt. Es bleibt dabei, dass Ihr ihn im Reiten und im Schwertkampf unterrichtet.“

Florent hatte eine Menge Fragen, aber die würde Markward ihm sowieso nicht beantworten. Also schwieg er.

Von Annweiler schob den schweren Armlehnstuhl zurück und ging zum Fenster. „Nur, dass wir uns richtig verstehen: Ich bin noch immer dem Andenken des Kaisers Heinrich treu und sorge mich um seinen legitimen Nachfolger. Wenn Ihr ehrlich seid, war das, was Friedrich bisher an Erziehung erhielt, seiner nicht würdig.“

Florent stutzte zunächst bei dem ungewohnten deutschen Namen seines Schützlings.

Der deutete sein Schweigen falsch und sprach eindringlicher weiter. „Er liest keine Gesetzestexte, er spricht nur zwei Sprachen.“

„Drei!“, fiel ihm Federico ins Wort. „Beinahe vier. Volgaro, Deutsch und Latein, ein bisschen hebräisch hab ich vom Judenarzt gelernt.“

„Das genügt nicht. Die Gerüchte seiner Verwahrlosung verbreiten sich nicht nur auf der Insel, sie dringen bis aufs Festland vor. Wie soll er sich später Respekt verschaffen, wenn sein Leumund schon jetzt verdorben ist?“

Federico war es nicht gewohnt, dass man über ihn sprach, als wäre er nicht anwesend. Er sah ihn empört an. „Ich weiß schon, wie ich mir Respekt verschaffe!“

„So? Dann sprecht!“, forderte Markward ihn auf.

„Wer meinen Befehlen nicht folgt, den lasse ich ins Verlies werfen, auspeitschen oder henken!“

„Dann begeht Ihr den gleichen Fehler wie alle Herrscher, die nichts taugen: Ihr verwechselt Furcht mit Respekt. Eure Männer werden Euch folgen, weil sie Euch fürchten, aber sie werden hinter Euch kriechen wie geprügelte Hunde mit eingezogenem Schwanz. Und bei der ersten Gelegenheit verpissen sie sich in die Büsche. Wollt Ihr das?“ Er hob die buschigen weißen Augenbrauen und zuckte zusammen, als die die frisch genähte Wunde sich dabei verschob. „Wenn es Euch dagegen gelingt, dass sie Euch mit Achtung und Respekt begegnen, ja sogar mit Liebe, dann geben sie alles für Euch, im Ernstfall selbst ihr Leben.“

Federico schwieg mit vorgeschobener Unterlippe und Florent überlegte, ob Annweiler vielleicht gar kein Problem für den Jungen war, sondern eine positive Wendung des Schicksals. Erleichterung erfasste ihn, doch er nahm sich vor, auf der Hut zu bleiben.

„Hat Graf Gentile sich auch in die Büsche verpisst?“, fragte Federico.

Markward schmunzelte. „Aus meiner Sicht verhielt er sich wie ein guter Stratege. Er erkannte rechtzeitig, auf welche Seite er sich stellen muss und zog die Konsequenzen.“

„Aber welche ist die richtige Seite?“, hakte Federico nach.

Von Annweiler wiegte den Kopf. „Das ist eine der schwierigsten Fragen, die das Leben Euch stellt. Später werdet Ihr bestimmen, welche Seite die richtige ist. Das ist der Sinn der Macht. Aber bis dahin müsst Ihr viel lernen.“

Federico verdrehte die Augen. Diesen Satz kannte er zur Genüge.

Als sie den Raum verließen, fragte Florent: „Was ist mit Bella?“

Federico hob die Schultern. „Von Annweiler behauptet, es nicht zu wissen.“

„Dann suchen wir sie in der Bibliothek.“

Der Magister sprang hinter seinem Schreibtisch hervor, sein Gesicht rot vor Freude. „Federico, ich bin erleichtert, es geht dir gut. Aber Ihr, Florent, Ihr seht ein bisschen angeschlagen aus.“

„Ein treffendes Wort, Magister.“ Florent grinste schief.

Federico legte den Kopf in den Nacken und suchte die Oberkanten der Regale ab.

Franciscus sah ihm irritiert zu, dann begriff er. „Oh, du suchst den Vogel?“ Der Magister tippelte mit seinen kurzen Beinen von Regal zu Regal, um dem Jungen auf den Fersen zu bleiben. Er sah aus wie eine Krähe, die auf dem frisch gepflügten Acker nach Würmern sucht. „Ich hielt es für besser, ihn hier wegzubringen, nachdem er den Markgrafen verletzte. Ich fürchtete, der würde ihm den Hals umdrehen, wenn er seiner habhaft würde. Immerhin blutete er stark und wirkte, nun ja, sehr wütend und ganz bestimmt ...“

„Wo ist sie?“, fiel Federico ihm ins Wort.

„Der Küchenjunge half mir, ihn einzufangen. War nicht einfach, die Regale sind sehr hoch und der Vogel ängstigte sich sehr, und ich bin nicht mehr in der Lage, wie ihr sicher versteht ...“

Federico stampfte mit dem Fuß auf.

Franciscus legte den Finger an die Nase. „Dieser Junge, wie heißt er doch gleich? Der aus der Stadt, mit dem du dich herumtreibst ...“

„Emilio?“

„Der mit den dunklen Locken und den Zahnlücken, er hat den Vogel mitgenommen. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn zu Signorina Luna bringen.“

„Dem Himmel sei Dank!“, sagte Federico voller Inbrunst. Für einen Moment sah es aus, als wolle er den Magister küssen. „Ich werde sie holen, sobald es dunkel wird.“ Längst hatte er vergessen, was der Markgraf nur kurze Zeit zuvor befahl: „Keine Eskapaden mehr in der Stadt! Die Leute müssen Euch und Eure Streiche vergessen, damit sie Euch in Zukunft respektieren. Ihr werdet in den nächsten Wochen den Palazzo nicht verlassen.“

Magister Franciscus klopfte auf seine Schreibtischplatte. „Ich schlage vor, wir zeigen guten Willen und beginnen mit dem Unterricht. Mir scheint, dein Reitlehrer braucht noch ein wenig Schonung.“

Federico nickte gönnerhaft, nichts konnte seine gute Stimmung trüben. Schicksalsergeben setzte er sich auf den bereitstehenden Hocker.

Als Emilio am Abend zuvor niedergeschlagen vor der Tür stand, um zu berichten, dass es kein Hineinkommen in den Palazzo mehr gab, fasste Luna schweren Herzens den Entschluss, die Stadt zu verlassen. Von Annweiler fegte mit hartem Besen, sie sah keine Möglichkeit, den beiden zu helfen.

„Sie haben die Schlupfpforte unter den Vorratskammern zugemauert. Das Tor ist von Deutschen besetzt, da kommt nur herein, wer einen triftigen Grund vorweisen kann“, berichtete Emilio.

Sie erzählte Lorna die Geschichte von Kaiser Heinrichs Tod, an dem sie zwar keine Schuld trug, gegen den sie aber auch nichts unternommen hatte. Dass sie damals Markwards Repressalien entrinnen konnte, lag nur an dem allgemeinen Durcheinander, wie es beim Tod eines Herrschers meist auftritt. Sie nutzten das Chaos, packten im Handumdrehen die Sachen und liefen zum Hafen. Nach wenigen Stunden fanden sie ein Schiff, das die kleine Familie nach Akkon brachte.

Lorna mümmelte nachdenklich. „Es ist besser, wenn du gehst. Ich komme zurecht, Liebes. Emilio wird mir helfen, das hat er versprochen. Er ist froh, wenn er seinem launischen Vater entwischen kann. Nimm die alte Römerstraße nach Messina. Dort setze über aufs Festland und schließ dich einem Händlerzug an. Kräuterfrauen werden gern mitgenommen.“

Luna fühlte sich elend. Sollte sie nicht doch bleiben und Florent helfen? Doch was konnte sie tun? Wenn sie Markward über den Weg liefe, landete sie höchstens im gleichen Verlies. Am Ende schadete sie ihm zusätzlich. Nein, es war besser, er würde nicht mit ihr in Zusammenhang gebracht werden. Sie schüttelte energisch den Kopf und hängte sich ihre Tasche auf den Rücken, drückte Lorna ein letztes Mal, nahm den Falken auf die Faust und trat vor die Tür.

Die Alte hatte ihr etliche Namen genannt von Menschen, die ihr weiterhelfen würden. Zusammen mit der Liste ihres Vaters ergab das eine ausreichende Versicherung entlang ihrer Marschroute. In den morgendlichen Straßen von Palermo zog sich die Dunkelheit gerade zwischen die Häuser zurück und wich einer milchigen Dämmerung. Noch waren nur Wasserträger und Dienstleute unterwegs, die am Stadtrand bei ihren Familien geschlafen hatten und zu ihren Herren eilten. Der Bäcker öffnete die Läden vor seinem Fenster und winkte ihr zu. Die Wachen am Stadttor musterten die Frau mit dem Falken neugierig, ließen sie jedoch ungehindert ziehen. Die Via Valeria führte am Meer entlang in Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen.

Sie hatten am Abend zuvor lange überlegt, ob sie Bella mitnehmen sollte.

Emilio redete ihr zu, obwohl sein Herz an dem Falken hing. „Sie wird Euch eine große Hilfe sein. Tags jagt sie für Euch, nachts bewacht sie Euer Lager.“ Er lief zu Luigi, dem alten Falkner, und kam mit Haube, Geschüh, Langfessel und Handschuh zurück. Geduldig wiederholte er, was der Alte ihm eingeschärft hatte: „Langfessel für die Nacht und zum Halten auf der Faust, wenig Atzung, wenn sie fliegen und jagen soll.“

Jetzt saß Bella mit ihrer neuen Haube auf der Faust und ließ sich den Morgenwind durchs Brustgefieder streichen. Luna schritt zügig voran, gegen Mittag wollte sie in Villabate sein, dem nächstgelegenen Fischerdorf.

Sie rastete auf einem angespülten Baum am Strand, wickelte die Langfessel sorgfältig um einen Ast und nahm Bella vorsichtig die Haube ab. Der Falke zwinkerte einige Male, blieb aber sitzen und blickte sich mit seinen tiefschwarzen Augen interessiert um. Luna ließ ihn vom Handschuh auf den Baumstamm springen, kramte etwas Taubenfleisch aus ihrer Tasche und sah zu, wie Bella das Fleisch zwischen ihren Krallen festhielt und mit dem krummen Schnabel schmale Streifen abzog, die sie dann verschlang. Die Sonne stand auf halber Höhe, der sizilianische Herbst sorgte für lauen Wind und angenehme Temperaturen. Sie setzte sich in den trockenen Sand und lehnte sich an den Baumstamm. Der Strand war menschenleer, weit draußen kreuzten einige Fischerboote. Das Meer rauschte, es roch nach Tang und faulendem Muschelfleisch, Möwen kreischten. Der Falke schnäbelte an seiner Bürzeldrüse und zog dann die Federn auf seinem Rücken einzeln durch den Schnabel, bevor er sie sorgfältig zurücklegte und glattstrich. Ein friedliches Bild, doch der Gedanke an Florent saß wie ein Stachel in ihrem Herzen.

„Achte auf deine Deckung! Du bist tot, wenn du die Seite frei gibst. Wo hast du nur deine Gedanken?“ Florent drückte mit dem Übungsschwert gegen Federicos Rippen.

Der warf wütend sein Schwert ins Gras. „Ich kann es nicht fassen, dass er mich hier einsperrt wie einen Verbrecher! Ich hasse ihn!“

Florent setzte sich auf einen Baumstumpf am Rande der Übungswiese und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit einer Stunde mühte er sich ab und der Junge kämpfte wie ein blutiger Anfänger. Er sah sich vorsichtig um. „Ein Grund mehr, besser zu werden!“, sagte er leise. „Wie willst du dich gegen ihn wehren, wenn du das Schwert nicht führen kannst?“

„Ich kann es!“, fauchte Federico. „Nur heute will ich nicht. Ich überlege, wie ich hier rauskommen kann, um Bella zu holen.“

Florent klopfte neben sich ins Gras. Der Junge musste sich beruhigen, vorher war es sinnlos, weiterzumachen. „Setz dich.“

Widerwillig ließ Federico sich neben ihm nieder und stützte den Kopf in die Hände. „Hast du einen Plan?“, fragte er mit leiser Hoffnung in der Stimme.

„Ich werde Markward fragen, ob ich den Falken holen kann.“

„Wann?“

„Heute Abend. Er will jeden Tag über deine Aktivitäten unterrichtet werden.“

„Pah! Was bildet er sich ein? Ist er etwa meine Mutter?“

„Das nicht, aber er glaubt, so eine Art Vater für dich zu sein.“

„Wohl eher Großvater!“, schnaubte Federico.

„Von mir aus auch das. Aber wenn du ehrlich bist, er schadet dir nicht. Vielleicht war es ein Glücksfall, dass er den Palazzo übernommen hat. Alles läuft wesentlich geordneter, seit er das Heft in der Hand hat.“

Der Junge sprang auf die Füße. „Du nennst es Glück, dass ich nicht mehr in die Stadt darf?“

„Es tut dir gut, wenn du zur Ruhe kommst, dich auf die Dinge konzentrierst, die ...“

Federico stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will nicht zur Ruhe kommen. Meine Freunde fehlen mir, hier habe ich niemanden, außer Felipe, den Sohn des Schmieds. Der verkriecht sich allerdings vor mir.“

„Kein Wunder, du hast ihn das Falkenhaus schrubben lassen, obwohl ich dir gesagt hatte, es sei deine Aufgabe, den Schmelz zu entfernen.“

„Es ist keine Arbeit für einen König, Falkenscheiße wegzumachen!“

Florent seufzte. „Wenn du ein richtiger Falkner sein willst, gehört das dazu. Du siehst am Schmelz, ob dein Falke gesund ist und ob er ausreichend geatzt hat.“

Federicos Blick ging in die Ferne, ein Zeichen, dass er genug hatte von Belehrungen.

„Also gut, Schluss für heute. Der Magister wartet mit der Arithmetik.“ Florent stand auf und sammelte Schilde und Schwerter ein.

„Gehst du heute Abend den Falken holen?“, fragte Federico.

„Wenn der Markgraf es erlaubt.“

„Ich hasse ihn!“ Der Junge stob davon und Florent sah ihm kopfschüttelnd nach. Jetzt, wo der Wind von vorne wehte, lernte er seinen Schützling richtig kennen. Wenn er erst auf dem Thron saß, sollte man ihn nicht zum Feind haben. Er brachte die Übungswaffen in die Kammer zurück und schlenderte zum Tor. Er würde den Markgrafen nicht um Erlaubnis fragen, er war ein freier Mann. Er ginge in die Stadt, wann er wollte. Er musste Luna sehen. Seit gestern waren die Wachen angewiesen, niemanden in den Palazzo zu lassen, der nicht hier zu tun hatte. Sie würde sich Sorgen machen.

Die Wachen am Tor wiesen ihn ab. „Niemand darf den Palazzo verlassen.“

„Warum nicht?“, brachte er hervor.

„Fragt den Markgrafen. Wir führen seinen Befehl aus.“

Jetzt war auch Florent wütend. War er ein Gefangener? Vor Annweilers Schreibstube standen mehrere Bedienstete mit besorgten Gesichtern. Sie murmelten leise untereinander und traten nervös von einem Bein aufs andere. Florent begriff, dass sie mit dem gleichen Anliegen zum Markgrafen vorgelassen werden wollten.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür und einer der Schreiber steckte den Kopf heraus. „Ihr sollt morgen wieder kommen. Eventuell bekommt ihr dann eine Erlaubnis, den Palast zu verlassen. Heute nicht mehr.“ Er trat in Windeseile zurück und schloss die Tür, bevor der Sturm der Entrüstung losbrach.

„Was soll das?“, brüllte ein Mann, den Florent als Stallknecht kannte.

„Meine Mutter ist krank! Ich muss zu ihr“, jammerte eine Magd.

Der Stallknecht hämmerte mit der Faust an die Tür. „Öffnet! Wir haben ein Recht, den Palast zu verlassen, wir sind freie Menschen.“

Das schwere hölzerne Türblatt flog mit solcher Wucht auf, dass es dem Mann am Kopf traf. Er taumelte zurück. Der Markgraf selbst trat heraus. Seine Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt. Die Wunde auf seiner Stirn leuchtete hellrot und gab ihm ein verwegenes Aussehen.

„Freie Menschen, ja?“, brüllte er. „Wer von euch sich frei fühlt, der möge gehen. Ich persönlich schließe ihm das Tor auf. Aber er sollte nicht wagen, noch einmal wieder zu kommen!“ Er sah die Leute an, als wolle er sich jedes Gesicht einzeln einprägen. „Wenn ihr nicht begreift, dass es notwendig ist, den Palast zum Schutze des Königs einige Tage isoliert zu halten, dann habt ihr hier nichts mehr verloren. Also, wer möchte jetzt gehen?“

Es war plötzlich still auf dem Korridor. Alle schauten betreten zu Boden. Auch Florent ertappte sich dabei, obwohl er eben noch sein Recht einfordern wollte. Er zollte dem Markgrafen wohl oder übel Respekt, er verstand sein Handwerk. Einen besseren Vormund konnte Federico nicht finden. Er drehte sich um und ging. Die anderen Bediensteten schlurften in verschiedene Richtungen davon.

Als er zwei Tage später in der kleinen Gasse an Lornas Tür klopfte, öffnete ihm ein schwarz gelockter Junge. Er fragte nach Luna und sah in ein verlegenes Gesicht.

„Kommt herein!“, hörte er die krächzende Stimme der Alten im Hintergrund. Er zog den Kopf ein, um sich nicht am Türstock zu stoßen, und betrat den Raum, in dem es vertraut nach Kräutern und Geranien roch. Was er in den nächsten Minuten zu hören bekam, ließ ihn die Gerüche des Raumes vergessen. Luna war fort, war einfach gegangen. Wie ein Häufchen Unglück saß er auf dem einzigen Hocker in der Kammer. Lorna spürte seine Verzweiflung und rang mit sich. Sie hatte Luna versprechen müssen, ihm nichts von der unheilvollen Verbindung zu Markward zu erzählen, damit er sich nicht unnötig in Gefahr brachte. Doch jetzt entschied sie, dieses Versprechen zu brechen.

Sie schickte den Jungen hinaus und sagte leise: „Es war der Markgraf, der sie veranlasste, zu gehen.“

Florent sah auf. „Von Annweiler? Warum?“

„Sie fürchtet, er trägt ihr eine alte Geschichte nach.“

„Was für eine Geschichte?“

Lorna seufzte. Wo sollte sie beginnen? Es war für sie schon schwer genug zu verstehen gewesen. „Ihr wisst sicher, dass Luna über ... sagen wir, gewisse Fähigkeiten verfügt, Menschen zu heilen?“

Florent verstand nicht, worauf sie hinaus wollte, aber er nickte. „Sie heilt Kranke, ja.“

„Ihre Eltern waren die Leibärzte des Kaisers Heinrich. Luna hatte mit ihrer sonnigen Natur das Herz des Kaisers erobert und der liebte sie abgöttisch.“ Lorna überlegte, ob sie dem jungen Mann von den bösen Gerüchten über diese Liebe erzählen sollte, die damals nicht nur in Palermo im Umlauf waren. Aber sie entschied sich, ihn nicht noch mehr zu belasten. „Als er krank wurde, musste sie an seinem Bett sitzen und ihm die Hand halten. Einige Male gelang ihr so eine Heilung des Sumpffiebers.“

„Man erzählte, sie habe ihn zum Leben erweckt, als er am Fieber gestorben sei“, warf Florent ein, das Einzige, was er von dieser Geschichte wusste.

„Es gab viele Gerüchte. Die wenigsten stimmen wohl.“ Lorna winkte ab. „Nachdem Luna erfuhr, dass Heinrich ihren Freund Wilhelm hatte blenden lassen, wandte sie sich vom Kaiser ab. Als ein neuer Fieberanfall ihn aufs Lager warf, verweigerte sie ihm ihre Hilfe.“

„Ja, und?“

Lornas Augäpfel rollten.

Florent stand auf und rieb sich die Schläfen. „Ihr wollt damit sagen, dass Markward glaubt, sie trage die Schuld am Tode des Kaisers?“

„Das jedenfalls denkt Luna.“

„Aber das ist absurd! Jeder weiß, dass das Sumpffieber tödlich ausgehen kann.“

Lorna beugte sich vor und sagte so leise, dass Florent genau hinhören musste: „Ich weiß nicht genug über Lunas Kräfte, aber sie selbst sagt, sie hätte ihn heilen können, wenn sie es gewollt hätte.“

„Das redet sie sich ein“, vermutete Florent.

Die Alte hob die Schultern. „Wie gesagt, ich weiß zu wenig darüber. Und ich habe Euch schon viel zu viel erzählt.“

„Wohin ist sie gegangen?“

„Sie wollte die Via Valeria entlang nach Messina. Dann weiter in Richtung Norden.“

„Allein? Und Ihr habt sie gehen lassen?“

„Sie ist nicht allein!“ Emilio platzte zur Tür hinein. „Sie hat den Falken dabei.“

Florent stieß ein Keuchen aus, das wie das Lachen eines Irrsinnigen klang. „Der Falke. Na klar. Der ist nicht einmal fertig abgetragen.“

„Luigi sagt, wenn sie Tag und Nacht zusammen sind, gewöhnen sie sich aneinander und Bella kann für Luna jagen.“

„Sag mal, du nichtsnutziger Bengel, hast du etwa die ganze Zeit gelauscht?“, krächzte Lorna.

„Von mir erfährt niemand was, schon gar nicht diese verdammten Deutschen! Mögen sie alle in die Hölle fahren!“

„Emilio!“ Die Alte bekreuzigte sich.

„Ein Tag Vorsprung. Wenn ich die Nacht durchreite, kann ich sie einholen.“ Florent raufte sich die Haare. „Wenn ich mein Pferd aus dem Palazzo herauskriege. Im Moment spielt von Annweiler den Despoten.“

„Ich komme mit Euch!“, rief Emilio begeistert.

Lorna richtete sich in ihrem Sessel auf. „Du bleibst hier und trägst meine Tinkturen aus! Schon vergessen, was du Luna versprochen hast? Zwei Kunden warten heute Abend auf dich.“ Sie hob den Zeigefinger und wies auf Florent. „Wenn Ihr sie zurückholt, wer sorgt dann für ihre Sicherheit? Könnt Ihr sie vor dem Markgrafen beschützen?“

Während Emilio kleinlaut an den Kräutertisch eilte, erinnerte Florent sich nicht weniger kleinlaut an die Aura von Stärke und Macht, die von Annweiler umgab und die er kurz zuvor erst erlebt hatte. Sie hat recht, dachte er. Hier in Palermo ist Luna in Gefahr. Und ich muss auch an Federico denken. Allein ist er dem Markgrafen vollkommen ausgeliefert. Verflucht, was sollte er tun? Wie einfach war die Welt noch vor zwei Tagen gewesen.

Falke und Adler

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