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Cefalù, Herbst anno 1202

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Wer gab dir, Minne, die Gewalt,

daß du so ganz allmächtig bist?

Du siegtest über jung und alt,

Und gegen dich hilft keine List.

Walther von der Vogelweide

Ahmeds Frau Liliane warf die Haustür zu. „Es ist schon wieder passiert!“

„Was?“, fragte ihr Mann.

„Sie haben die Hauswand mit Schafmist beworfen.“

„Die Dummheit der Menschen kennt keine Grenzen.“ In seiner Miene spiegelte sich Ratlosigkeit.

Luna erhob sich vom Tisch, an dem sie bis eben gemeinsam gegessen hatten. „Ich habe eure Gastfreundschaft lange genug strapaziert. Sie werden Ruhe geben, wenn ich weg bin.“

„Nein!“, rief Julio. „Dann haben sie gewonnen.“

Er war der Einzige, der protestierte, alle anderen blickten betreten zu Boden. Die vergangenen Sommermonate waren schwierig gewesen. Nachdem der schielende Junge mit einer Beule am Kopf nach Hause gekommen war, kamen Gerüchte in Umlauf. Es hieß, sie habe ihn nach seinem Sturz zum Leben erweckt. Urheber waren mit Sicherheit seine Kumpane, die voreilig davongelaufen waren und in der Stadt erzählten, der Schielende sei tot, erschlagen vom Sohn des Gewürzhändlers. Doch dann tauchte der Totgesagte auf dem Marktplatz auf. Umringt von interessiertem Publikum, glaubte er bald selbst, dass Luna ihn ins Leben zurückgeholt habe.

Zunächst belebten die Geschichten das Geschäft des Gewürzhändlers, viele Leute kamen, um Luna zu sehen und vor der Tür zu tuscheln. „Habt ihr das Haar gesehen?“

„Weiß wie die Seide aus Messina.“

„Und ihre Augen, sie haben überhaupt keine richtige Farbe.“

Einige fragten sie um medizinischen Rat und Ahmed erweiterte sein Angebot um etliche Heilkräuter, wie Anis und Lavendel, die am La Rocca wuchsen. Anfangs sammelte Luna die Pflanzen selbst, doch mit der Zeit verfolgten sie immer mehr Kinder, wenn sie sich vor der Tür blicken ließ. Bald übernahm sie das Kochen und blieb im Haus, während Julio mit seiner Großmutter Kräuter sammelte.

Eines Tages brachten sie ein kleines Mädchen mit hohem Fieber zu ihr. Luna vermutete ein Lungenfieber und verordnete Arumwurzel und Anis. Das Kind erholte sich bald und die Gerüchteküche brodelte umso schlimmer. War die Frau mit dem Falken eine Hexe oder ein Engel oder was sonst?

Luna konnte nicht mehr zum Markt gehen, ohne dass die Leute hinter ihrem Rücken tuschelten, sie berühren wollten oder sich bekreuzigten und vor ihr ausspuckten. Dann blieben im Gewürzladen die ersten Stammkunden aus, Wochen später gab es Tage, an denen niemand in den Laden kam.

Luna holte tief Luft. „Ich wollte über Winter bleiben. Jetzt ist fast ein ganzes Jahr daraus geworden.“

Sie benötigte nicht viel Zeit, ihre wenigen Dinge zusammenzupacken. Am nächsten Morgen stand die Familie des Gewürzhändlers bereit, um Lebewohl zu sagen. Luna umarmte sie der Reihe nach. „Habt Dank für alles.“

„Ich begleite dich zum Stadtrand“, sagte Ahmed, dessen Empfindungen zwischen Bedauern und Erleichterung schwankten. Die Dunkelheit kroch aus den leeren Straßen und zog sich nach Westen übers Meer zurück. Sie verabschiedeten sich am Fuße des La Rocca. Bella hob den Schnabel in den Wind, eine willkommene Abwechslung nach den Wintertagen im stickigen Haus.

Der Gewürzhändler sah der jungen Frau nach, bis sie hinter dem Felsen verschwunden war. „Allah sei mit dir“, murmelte er.

Am späten Nachmittag des gleichen Tages galoppierte ein junger Mann im Lederharnisch vor das Westtor der Stadt. „Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?“, fragte der Wächter, der ihm entgegentrat.

„Ich bin der Schwertmeister des Königs und suche den Gewürzhändler Ahmed.“

Der Wächter streckte den Rücken durch und legte die Stirn in Falten. Dieser Händler erregte in letzter Zeit viel Aufsehen. Nun kam sogar ein Diener des Königs – waren die Gerüchte bis nach Palermo gelangt? Doch das ging ihn nichts an. Der Mann schien ehrbar, es gab keinen Grund, ihm den Zutritt zur Stadt zu verwehren. Er trat zurück und wies über die Straße. „Gleich gegenüber befinden sich die Ställe, wo Ihr Euren Hengst unterstellen könnt.“ Sein Blick ging bewundernd über die kräftigen Muskeln und das glatte Fell des Braunen, dem man die Strapazen des langen Rittes nicht ansah.

„Ich habe nicht vor, mich von dem Tier zu trennen“, sagte der Reiter eine Spur zu hochnäsig.

Der Wächter sah auf. Sollte er sich in dem Mann getäuscht haben? „Die Gassen der Stadt sind schmal, außerdem werdet Ihr nirgendwo sonst Futter bekommen.“

„Also gut.“ Der Mann saß ab. „Wie weit ist es zu Fuß bis zum Haus des Händlers?“

„Hundert Schritte die Hauptstraße hinunter und dann rechter Hand in die Gewürzgasse hinein. Geht einfach dem Geruch nach, ihr könnt sie nicht verfehlen.“

Vor dem Stall lauerte ein halbwüchsiger Pferdejunge. „Wie lange bleibt Ihr, Herr?“

„Höchstens einen Tag.“

„Zahlen müsst Ihr im Voraus.“ Der Junge nahm die Zügel und hielt dem Hengst die Hand vor die Nüstern, damit er seinen Geruch wahrnehmen konnte. Dann führte er ihn zur Tränke vor dem Stall. „Benötigt Ihr Unterkunft, Herr? Ich zeige Euch eine Herberge.“

„Das ist nicht nötig. Der Gewürzhändler – woran erkenne ich sein Haus?“

„Welcher? Es gibt viele hier.“

„Ahmed.“

Der Junge riss die Augen auf. „Wollt Ihr zu der Hexe?“

„Hexe?“

„Die weiße Frau mit dem Falken. Seid Ihr krank? Ihr habt Pech, sie ist nicht mehr da.“

„Langsam, Junge.“ Florent wedelte genervt mit der Hand. „Sprichst du von einer Frau namens Luna?“

„Keine Ahnung. Die Leute nennen sie strega, weil sie einen Jungen zum Leben erweckt hat, der tot war.“

Bei den Ohren Gottes, das ist sie, dachte Florent. „Sie ist weg?“

„Vielleicht hat sie sich in Luft aufgelöst“, sagte der Junge und grinste.

„Hast du Hafersäcke?“

„Ja, warum?“

„Bring mir einen!“ Florent griff nach den Zügeln. „Den Braunen nehme ich mit.“

„Aber Herr! Ihr kennt die Gassen nicht.“

„Beeil dich, sonst mache ich dir Beine.“

Wenig später führte Florent seinen Hengst um Auslagen und Gewürzstände herum, die Enge und die fremden Gerüche ließen es scheuen. Immer wieder tänzelte es und riss unwillig den Kopf hoch. Florent erntete missbilligende Blicke und zornige Bemerkungen.

„Ruhig, Brauner. Das sind nur Zimtstangen oder Nelken. Keine Gefahr!“

„Das ist grüner Pfeffer, Herr. Passt auf den Schwanz des Gaules auf, der fegt mir den Tisch leer“, schimpfte eine dicke Händlerin, die eilig Deckel auf ihre Gewürzdosen verteilte.

„Hat Euch niemand gesagt, dass Pferde hier nicht hingehören?“, keifte eine ältere Frau.

„Hauptsache, Ihr habt seine Verdauung unter Kontrolle. Der Gestank wäre geschäftsschädigend!“, rief ein kleiner Mann mit einem Turban.

Florent sah sich genervt um. „Wo wohnt Ahmed?“, fragte er laut.

Es wurde still. „Das übernächste Haus“, rief die dicke Händlerin. „Das mit den Mistflecken an der Wand.“

„Wollt Ihr die strega verhaften?“, krächzte die Alte. „Da seid Ihr zu spät!“

Vor Ahmeds Haus gab es keine Auslagen, nur ein bemaltes Holzschild an der Tür verwies auf den Laden. Das Fenster im Erdgeschoss war geöffnet und er steckte den Kopf hinein. Ein erschrockenes Jungengesicht blickte zu ihm auf.

„Bist du Ahmeds Sohn?“, fragte Florent.

Der Junge rannte davon. Kurz darauf kam der Händler selbst, er trug einen gelben Turban über seinem dunklen Gesicht. „Was wünscht Ihr, Herr?“

„Mein Name ist Florent, ich bin der Schwertmeister des Königs und auf der Suche nach Luna.“

Die schwarzen Augen des Händlers blitzten auf. „Kommt herein.“ Er blickte über die Schulter nach hinten. „Julio, kümmere dich um das Pferd.“

Eine halbe Stunde später verließ Florent die Stadt durch das östliche Tor und verschwand bald hinter dem La Rocca.

Lunas Füße brannten, der Falkenarm schmerzte. Höchste Zeit, einen Platz für die Nacht zu finden. Die Sonne saß auf dem Horizont und die Dunkelheit lauerte bereits hinter den Büschen. Sollte sie Bella jagen lassen? Der Falke war aus der Übung, seit sie Ahmeds Haus nicht mehr hatten verlassen können. Aber ihr Proviant reichte höchstens noch zwei, drei Tage. Eine Gruppe Zedern mit dichtem Gras zwischen den Stämmen versprach Schutz für die Nacht.

„Bella, du musst dir dein Abendessen selbst fangen.“ Sie legte ihr Bündel ab und sah sich um. Die Zedern boten Deckung zur Straße hin, eine kleine Lichtung zog sich bis zu einem Zitronenhain, in dem heute sicher niemand mehr arbeitete. Sie trat aus dem Schatten der Bäume heraus und löste den Riemen, der Bellas Geschüh mit dem Handschuh verband. Dann nahm sie dem Falken die Haube ab. Der Vogel schüttelte kurz die Federn auf, breitete die Flügel aus und hob ab. Mit zwiespältigen Gefühlen verfolgte sie den flatternden Aufstieg. Jeder zufällige Beobachter erkannte an dem baumelnden Riemen den zahmen Beizvogel, sie hoffte, dass niemand in der Nähe war, dessen Neugier sie erregen würden. Wenn Bella große Beute schlug, musste sie ihr zu Hilfe eilen. Schon ein kräftiger Hase konnte im verzweifelten Kampf um sein Leben einen Falken ernsthaft verletzen. Mit dem Kopf im Nacken verfolgte sie den Flug des Vogels. Er schraubte sich höher und höher, im Abendlicht der Sonne war er bald nur ein dunkler Punkt am Himmel. Sie schirmte mit einer Hand die Augen ab.

Plötzlich hörte sie Hufschläge auf der Straße, die schnell näher kamen. Sie eilte zu den Zedern zurück und versuchte gleichzeitig, Bella im Blick zu behalten, die jetzt etwas tiefer ihre Bahnen zog. Sie kreiste über einer Gruppe niedriger Büsche. Kaninchen? Vielleicht auch nur Mäuse.

Auf dem Weg erschien ein einzelner Reiter auf einem kräftigen Pferd, das jetzt in langsamen Trab fiel. Luna flehte innerlich, er möge vorbeireiten. Doch vergeblich. Als Bella auf die Büsche hinabstieß, lenkte der Mann im Lederharnisch sein Tier auf die Wiese. Luna trat hinter einen der mächtigen Zedernstämme und versuchte, beide im Auge zu behalten, Reiter und Falken.

Bella war nicht zu sehen. Der Mann dagegen ... Sie blickte genauer hin. Dieser dunkelbraune Destrier und die Gestalt darauf erschienen so vertraut, ihr Herz stolperte und klopfte laut und doch wagte sie nicht, hervor zu treten. Wenn sie sich irrte?

„Luna?“, rief der Mann halblaut, stellte sich in die Steigbügel und sah sich um.

Sie stieß einen Freudenschrei aus, raffte ihren Umhang und rannte los. Florent glitt aus dem Sattel und breitete die Arme aus. „Luna!“

Einen Moment lag sie an seiner Brust, roch die bekannte Mischung aus Leder, Pferd und Florent, dann löste sie sich verlegen. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie und musterte sein Gesicht. Staub saß in den kleinen Falten um die Augen.

„Ich sah den Falken in der Luft und den Geschühriemen an seinem Fang. Wer außer dir sollte um diese Zeit einen Falken aufsteigen lassen?“

„Du liebe Güte, Bella“, erinnerte sie sich. Sie zog ihn über die Wiese. Unter einem Maulbeerstrauch fanden sie den Vogel zufrieden atzend über den Resten einer Maus.

„Mir scheint, ihr beide kommt zurecht?“ Florents Augen leuchteten vor Freude.

Luna grinste. „Normalerweise teilen wir.“

„Wärt ihr trotzdem bereit, mir zurück nach Palermo zu folgen?“

Lunas Miene verdüsterte sich. „Ich sollte dir etwas über Markward von Annweiler erzählen ...“

„Nicht nötig. Lorna erzählte mir von deinen Sorgen. Aber Markward ist krank, er braucht deine Hilfe. Er versprach, dir nichts nachzutragen.“ Mit einem Blick auf den blutroten Horizont fügte er hinzu: „Wir sollten uns eine Herberge suchen.“

„Es ist noch warm in den Nächten.“ Luna wies auf die Zedern. „Wenn du mit einem grünen Dach und einem Grasbett zufrieden bist, dann lass uns hierbleiben.“

Bevor Florent antworten konnte, fiepte Bella durchdringend, sprang schwerfällig auf einen trockenen Ast und von dort auf Lunas Hand.

„Ich glaube, sie ist einverstanden“, sagte er.

Die Nacht fiel wie eine dichtgewebte Decke über die Wiese vor den Zedern. Während einer einfachen Mahlzeit, zu der sie beide ihre Vorräte beisteuerten, erzählten sie abwechselnd von den letzten Monaten.

„Was fehlt Markward?“, fragte Luna.

„Er sagt, es handelt sich um Steine. Er leidet furchtbare Schmerzen.“

Luna verzog das Gesicht. „Wenn wir nach seiner Genesung im Verlies landen, sind wir wenigstens zu zweit.“

„Er wird sein Wort halten. Er ist zwar ein Despot, aber er besitzt Ehrgefühl. Du wirst staunen, wie viel Ordnung er in den Palast gebracht hat. Federico erhält geregelten Unterricht in mehreren Sprachen, in der Kunst der Diplomatie, in Philosophie.“

Luna lachte. „Ich wette, er ist nicht so begeistert wie du?“

„Er ist sehr wissbegierig und Markward bezahlt nur die besten Lehrer. Der Junge bekommt endlich die Zuwendung, die er verdient. Das spürt er wohl auch. Jedenfalls lernt er willig.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Meistens.“

Später lagen sie im Gras auf Satteldecken und blickten zu den Sternen hinauf. Eine letzte Zikade sang ihr Lied in den Sträuchern, der halbe Mond leuchtete durch die Äste, mit denen der Wind spielte. Auf der Wiese graste der Braune.

„So könnte es bleiben, für immer.“ Luna seufzte glücklich. Obwohl sie Markward nicht über den Weg traute, überwog die Freude, mit Florent zusammen sein zu können. Sie wollte es riskieren, mit ihm zurück zu reiten. Diese Entscheidung fiel ihr plötzlich sehr leicht.

Florent drehte sich auf die Seite und betrachtete ihr Gesicht. „Du hast recht, es ist perfekt. Fast.“

„Fast? Ist dir kalt?“

Er lachte leise und schüttelte den Kopf.

„Was fehlt dir dann?“ Sie sah sein Gesicht dicht über sich und atmete den Geruch seiner Haut. Seine Augen glitzerten im Mondlicht.

„Wann genau dachtest du, meine Frau zu werden?“

„Warum nicht heute?“, flüsterte sie und sie staunten beide über ihre Kühnheit.

Falke und Adler

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