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Cefalù, November anno 1201

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Ach, erlebt‘ ich’s einmal noch!

Daß wir die Rosen miteinander brächen!

Ach, erlebt‘ ich’s noch zum Heil uns beiden!

Daß wir freundlich wie zwei Liebste sprächen!

Nichts vermöchte uns dann mehr zu scheiden.

Küßte sie mich dann zu guter Stunde

mit dem roten Munde,

braucht‘ an Glück ich nie mehr Not zu leiden.

Walther von der Vogelweide

Nach drei Tagesmärschen hatte Luna ein Drittel der Strecke zwischen Palermo und Messina zurückgelegt und erreichte gegen Abend die Küstenstadt Cefalù. Von weitem sah sie von der Via Valeria aus Häuser, die wie Bauklötze auf dem weitläufigen Hang gestreut lagen, der sich oberhalb des Strandes an einen Berg schmiegte. Seit Tagen hatte sich dieser Berg am Horizont abgezeichnet, man konnte meinen, hinter ihm sei die Welt zu Ende. Wie eine riesige Glucke hockte er über Cefalù und schützte es vor Ostwinden. Am Strand lagen einzelne Fischerboote. Zwischen aufgespannten Netzen schleppten Frauen Fischkörbe und tobten spielende Kinder. Die blassroten, gelben und weißen Fassaden der Häuser oberhalb des Meeres leuchteten selbst im trüben Novemberlicht sommerlich.

Doch Luna gönnte sich nicht die Muße, den Anblick der Stadt zu bewundern. Sie lief aufs Geratewohl ins Zentrum, denn dort vermutete sie den Markt und die Wohnungen der Händler. Vor einbrechender Dunkelheit wollte sie einen Gewürzhändler aufsuchen, den Lorna ihr empfohlen hatte. Die Gasse der Spezereihändler war leicht zu finden, ein aromatischer und würziger Geruch lag in der Luft, der sich von dem einsetzenden Nieselregen nicht verdrängen ließ.

Sie sprach einen Jungen an, der fasziniert den Falken anstarrte: „Kannst du mir sagen, wo der Gewürzhändler Ahmed wohnt?“

„Das dritte Haus auf dieser Seite. Das mit dem hohen Giebel.“ Der Junge deutete hinter sich, ohne Bella aus den Augen zu lassen.

Sie klopfte an der Tür, durch die lautes und vielstimmiges Geschrei drang, für einen sizilianischen Haushalt nichts Ungewöhnliches.

Ein dunkler Lockenkopf öffnete, der knapp bis an den Türriegel reichte. „Ja?“

„Ich möchte zu Ahmed.“

Wortlos trat er einen Schritt beiseite. Sie kam in den Hausflur, indem es nach Piment und einer kräftigen Fischsuppe roch.

„Julio, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst den Tisch decken? Wo steckt diese kleine Rotznase nur wieder? Julio!“

„Hier, Großmama. Wir haben einen Gast.“

Der Junge flitzte an ihr vorbei und verschwand in einem großen Raum, der sich als Küche und Esszimmer herausstellte. Auf dem Fußboden krabbelten zwei Kleinkinder, eine junge Frau schnitt mit flinken Fingern Gemüse. Rechter Hand stand eine kleine, rundliche Frau am Herd und rührte in einem dampfenden Kessel. Ein grauer Zopf war an ihrem Hinterkopf zu einer Art Schnecke gedreht, darüber saß der Knoten eines bunten Kopftuches. Sie wandte sich um und musterte Luna erstaunt.

„Ein Gast?“ Ihr Gesicht war rotbraun von der Hitze, voll feiner Runzeln und dominiert von zwei rabenschwarzen Augen. Bevor Luna etwas sagen konnte, herrschte die Frau den Jungen an: „Worauf wartest du? Hole deinen Vater aus dem Lager!“

Ahmed erwies sich als großer, schlanker Mann, der seine Mutter um zwei Köpfe überragte und einen safrangelben Turban trug.

Sie stellte sich vor. „Es wäre sehr freundlich, wenn ich ein paar Tage bleiben könnte, um Kraft zu schöpfen. Ich würde Euch bei der Arbeit helfen.“

Ahmed brummte zustimmend. Während sein Sohn mit lautem Geklapper Tonteller auf dem Tisch verteilte, zeigte er ihr seinen Laden. Dazu gingen sie über den Hof in ein Nebengebäude, das auch von der Straße aus zu erreichen war. Ein heller und geräumiger Raum voller Düfte und verwirrender Gerüche. Bella drehte den Kopf nervös hin und her.

„Wie geht es Lorna?“, fragte Ahmed gespannt.

„Sie steht kaum noch aus dem Sessel auf. Ich hoffe, Emilio kümmert sich gut um das Geschäft.“

„Sie muss über achtzig sein, ich kannte sie bereits, als ich noch ein Kind war.“

Die junge Frau steckte den Kopf zur Ladentür hinein, sie trug zwei kleine Mädchen, auf jedem Arm eines. Die beiden waren offensichtlich Zwillinge. „Das Essen steht auf dem Tisch.“ Die Mädchen kreischten und streckten die Hände nach dem Falken aus, Bella schlug panisch mit den Flügeln und wollte abspringen.

Ahmed hob beide Hände. „Ich schlage vor, ich zeige dir das Zimmer, wo du wohnen kannst. Wenn du so weit bist, kommst du zum Essen herunter.“

Der Raum im Obergeschoss lag direkt unter den Lehmziegeln, es gab ein einfaches Lager mit einem Strohsack und einem dreibeinigen Tisch an der Wand. Luna erblickte einen Stuhl mit Lehne, auf der Bella sitzen konnte. Sie befestigte die Langfessel an dem Holz und gab dem aufgeregten Falken den Rest der Atzung aus ihrer Tasche. Ahmed brachte ihr eine Schüssel mit Wasser.

„Ein altes Tuch wäre gut oder Stroh, damit der Schmelz nicht auf den Fußboden fällt.“

Ahmed nickte. „Ich kümmere mich darum.“

Sie wusch sich den Straßenstaub von Gesicht und Händen und betrat schließlich die Küche. Die Fischsuppe war vorzüglich und Luna fühlte sich zunehmend wohler in der fröhlich schwatzenden Runde. So fiel ihr die Antwort nicht schwer, als Ahmed sie fragte, ob sie nicht länger bleiben wolle. „Ich kann eine helfende Hand wirklich gut gebrauchen. Erst letzte Woche musste ich den Gehilfen verjagen, weil er ein notorischer Faulpelz war.“

Draußen regnete es, die Suppe wärmte den Magen und Julio blickte sie mit großen bittenden Augen an. „Ich besorge Futter für deinen Falken!“, sagte er.

Damit war es beschlossen. Nach einer Woche war sie in Cefalù bekannt als die weiße Frau mit dem Falken. Ahmed bestand darauf, dass Bella tagsüber in seinem Laden auf einem Reck saß, das er extra für sie errichtet hatte.

„So hast du sie ständig bei dir“, sagte er.

Luna vermutete, dass seine Hoffnung auf neugierige Kunden dabei eine nicht geringe Rolle spielte. Tagsüber wog sie auf einer klapprigen alten Waage Anis ab, zählte Lorbeerblätter auf den Ladentisch, zerrieb auf Wunsch Muskatnüsse oder schaufelte grünes Meersalz in dreieckige Tüten. Die Arbeit unterschied sich kaum von jener bei Lorna, nur dass die Kunden hier zu ihr kamen und die Gewürze gleich mitnahmen. Sie war ständig von Kindern umringt. Manchmal wunderte sie sich, dass es bereits abends war, wo sie doch das Gefühl hatte, gerade erst aufgestanden zu sein. Wenn sie dann jedoch im Bett lag und Bellas Federn raschelten in der Dunkelheit, dann tauchte Florents Gesicht vor ihrem Geiste auf, sie glaubte, seine Stimme zu hören und den Druck seiner warmen Hände zu spüren. Ob er noch immer im Verlies saß? Ob sie ihm hätte helfen können, wenn sie geblieben wäre? Sie überlegte oft, eine Nachricht an Lorna zu senden, doch dann verwarf sie den Gedanken, denn weder Lorna noch Emilio konnten lesen. Einer durchziehenden Gauklerfamilie hatte sie einen Gruß aufgetragen, mit dem Hinweis, es gehe ihr gut. Aber sie glaubte nicht, dass die Leute sich die Mühe machen würden, Lorna aufzusuchen, obwohl sie ihnen ein Säckchen Meersalz als Lohn gegeben hatte.

Es war ein Samstag Anfang Dezember, als die Großmutter feststellte, dass sie gern mal wieder Kaninchen essen wollte.

Julio rief begeistert: „Bella wird sie für uns jagen!“

Luna hob die Augenbrauen. „Sie hat noch nie gejagt. Ich weiß nicht ...“

„Sie wird wissen, was zu tun ist“, sagte Ahmed nach kurzem Überlegen. „Geht zum La Rocca. Dort gibt es jede Menge Kaninchen.“

Der gewaltige, alleinstehende Felsen trennte die Stadt vom Inselinneren und lag in einem dichten grünen Gürtel von mannshohen Feigenkakteen. Er glich einem Stein, den ein Riese beim Spielen am Strand verloren hatte. Luna betrachtete skeptisch die senkrecht aufragenden Felswände, die mit Festungsmauern gekrönt waren. Seit Julios Vorschlag war nicht mal eine Stunde vergangen.

„Keine Sorge“, sagte Julio. „Es gibt einen Weg hinauf.“

Dieser Weg war steil und steinig, mit dem Falken auf der Hand ließ es sich mühsam klettern. Endlich hatten sie die Mauern erreicht, Teile einer aufgegebenen Festung. Dahinter stieg der Berg sanfter an, er war übersät von kleinen Büschen und mit struppigem Gras bewachsen. Dazwischen sah sie jede Menge dunkle Löcher: Kaninchenbauten. Nach einer halben Stunde waren sie auf dem Plateau angelangt, das größtenteils von einer Festungsruine eingenommen wurde. Dicke Mauern mit Zinnen zogen sich rund um den Bergsporn. Sie waren teilweise mit Gras und kleinen Bäumen bewachsen, trotzdem blieb kein Zweifel daran, dass die Festung einmal wehrhaft gewesen war. Von hier aus gab es einen guten Überblick über das Gelände, ideal für die Falkenjagd.

Julio brannte vor Ungeduld. „Nimm ihr die Haube ab!“

Luna war als Kind einige Male bei einer Beizjagd dabei gewesen. Der Kaiser hatte sie vom Pferd aus zusehen lassen. Sie erinnerte sich an die beruhigende Sprache der Falkner und an die vorsichtigen Handgriffe, mit denen sie die Vögel vorbereiteten. Sie löste langsam die Verschnürung der Haube. Bella blinzelte und reckte den Hals. Was sie sah, interessierte sie sofort, sie begann, mit ihren gelben Krallen den Lederhandschuh zu kneten.

Luna gab Julio die Haube und entknotete den kurzen Lederriemen am Geschüh des Vogels. Bella drehte den Kopf ruckartig in alle Richtungen, ihre tiefschwarzen Augen fixierten das Grasgelände unterhalb der Mauern. Und dann ging alles rasend schnell. Lautlos breitete sie die Schwingen aus, drückte sich von Lunas Hand ab und stieg in die Luft. Julio wollte vor Begeisterung schreien, besann sich aber rechtzeitig und schlug die Hand vor den Mund.

„Pass auf, wo sie landet!“, sagte Luna.

Im leicht torkelnden Sturzflug fiel der Falke plötzlich vom Himmel und landete im trockenen Gras, ein Kaninchen hoppelte davon.

„Das war nichts!“, rief Julio und rannte los.

Als Luna die beiden außer Atem erreichte, hatte Julio das Falkenweibchen auf dem Arm. „Ihr Herz schlägt ganz schnell, fühl mal!“

„Sie ist aufgeregt“, sagte Luna. „Hier, nimm den Handschuh, sie kratzt dir den Arm blutig.“

Sie stiegen noch einmal hinauf und suchten sich ein Areal auf der anderen Seite des Plateaus, wo die Kaninchen noch ahnungslos waren. Und hier hatte Bella ihren ersten Jagderfolg, sie schlug ein halbwüchsiges Junges und Julio jubelte, als er ihr das Tier abnahm, um es zu töten. Luna belohnte den Falken mit einem Stück Fleisch aus ihrer Tasche.

Auf dem Rückweg erlegte Julio noch ein Kaninchen mit dem Bogen. „Jetzt wird Großmama zufrieden sein“, sagte er stolz.

Am Fuße des Berges stießen sie auf eine Gruppe Halbwüchsiger, die mit Pfeilen auf einen Baumstamm schossen. Julio verlangsamte seinen Schritt.

Luna sah ihn fragend an. „Was ist?“

„Denen begegnet man besser nicht außerhalb der Stadt.“ Er sah sich nach einem Umweg um, doch es war zu spät. Einer der Bogenschützen bemerkte sie und vertrat ihnen den Weg. Ihre erstaunten Blicke fixierten Luna und wanderten dann zu dem Falken.

„Darf ich ihn anfassen?“, fragte der größte der Jungen. Er trug ein zerlumptes Beinkleid, sein nackter Oberkörper war sonnenverbrannt. Mehrere Narben leuchteten hell auf der mageren Brust.

„Besser nicht“, sagte Luna. „Lasst uns bitte vorbei.“

„Warum? Der Falke soll uns zeigen, was er so kann.“

„Lasst uns durch!“, fauchte Julio und baute sich vor Luna auf, obwohl er einen Kopf kleiner als der Narbige war.

Die anderen Jungen lachten. Es waren fünf an der Zahl und sie sahen alle nicht vertrauenerweckend aus. Barfuß, zerlumpt und mager gehörten sie mit Sicherheit zu einer der Banden, die Markt und Hafengassen unsicher machten.

Ein anderer Junge mischte sich ein: „Willst deine Freundin beschützen, was? Sie ist zu alt für dich.“ Er schielte so furchtbar, dass niemand erkennen konnte, wen er gerade ansah.

Der Große streckte jetzt die Hand nach Bella aus. „Gib her, ich will ihn mal halten.“

Luna schob ihren Schleier zurück und sah ihn an. „Glaub mir, das ist unmöglich. Sie wird dir Hände und Arme zerkratzen. Sie kennt dich nicht und wird panisch reagieren.“

Der Narbige starrte Luna ins Gesicht und wich zurück. „Was bist du?“, fragte er. „Eine strega?“

Julio erkannte seine Gelegenheit. „Ja, das ist sie, und wenn ihr uns jetzt nicht vorbei lasst, dann wird sie euch alle ...“

„Du kleiner bastardo, schleppst hier eine Hexe an!“, schrie der Schielende und stürzte sich auf Julio. Die beiden fielen und rollten ineinander verkeilt ein Stück den Hang hinab. Die anderen Jungen johlten erfreut. Bella fing an zu tänzeln und drehte den Kopf hin und her, ohne Haube wäre sie längst abgesprungen.

Das Knäuel, das Julio und der Schielende bildeten, blieb ein Stück weiter unten neben einem großen Feldstein liegen.

Julio rappelte sich auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Wo sind die Kaninchen?“, rief er besorgt und krabbelte auf allen vieren den Hang wieder hinauf.

„He, Schielauge, was ist?“, rief der Lange und alle blickten jetzt nach unten. Der Junge lag im Gras und rührte sich nicht.

„Er ist eingeschlafen“, witzelte einer der Jungen, doch niemand lachte. Wie auf Kommando setzten sich alle in Bewegung.

Sie drehten ihn um und Luna beugte sich über ihn. Auf seiner Stirn klaffte eine Platzwunde, die heftig blutete.

„Kleiner, das wirst du bereuen“, sagte der Lange und sah sich nach Julio um.

„Genug jetzt!“, sagte Luna energisch. „Helft mir, ihn aufzusetzen! Gibt es hier irgendwo Wasser?“

„Dort hinten ist eine Quelle, ich hole Wasser“, erbot sich der Große.

Die anderen Jungen starrten Luna unverhohlen an. Sie bereute, den Schleier abgenommen zu haben. „Was ist mit ihm, ist er tot?“

„Er hat sich den Kopf gestoßen, das seht ihr doch. Er kommt wieder auf die Beine.“

Als der Lange mit dem Wasser zurückkam, hatten sich die anderen Bengel aus dem Staub gemacht.

„Tolle Freunde sind das“, sagte Luna vorwurfsvoll.

Der Verletzte stöhnte und öffnete die Augen. „Was ist los?“

„Du bist gestürzt“, erklärte sie. „Tut dir der Kopf weh? Ist dir schwindlig?“

Der Junge setzte sich auf. „Ich glaube nicht.“

„Bring ihn nach Hause“, sagte Luna zu dem Langen.

Julio kam mit den erlegten Kaninchen und seinem Bogen den Hang herab gestolpert. Auf seiner Wange prangte ein breiter Kratzer. „Das ist noch mal gut gegangen“, sagte er, während sie den beiden Jungen nachsahen.

„Hoffentlich!“, entgegnete Luna besorgt.

Falke und Adler

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