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KAPITEL 2 »Ich will drei Kinder – zwei, und eins zum Ersatz.«

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Wie sich herausstellt, ist Anne kein Anfängereltern-Baby, sondern eine starke kleine Persönlichkeit mit ihren ganz eigenen Vorstellungen von Tag- und Nachtrhythmen. Wieder einmal werde ich von der Realität überrascht. Genauso schwer, wie ein Baby zu bekommen, ist es offensichtlich auch, eines zu haben. Ich bin zu einhundert Prozent für Anne zuständig, Rolf glaubt fest an das Deine-Aufgabe–meine Aufgabe-Prinzip, und weil das Babyfon mich für die nächsten drei Jahre im Durchschnitt jede Nacht vier- bis fünfmal ins Kinderzimmer taumeln lässt, zieht er für eine Weile ins Arbeitszimmer, um die Nächte durchschlafen zu können.

Dennoch verlangt er weiterhin volle Aufmerksamkeit für sich.

Als er eines Tages eine Motorfräse ausleiht, um den Garten umzugraben, weil er das Gras neu säen möchte, liegt Anne auf dem Sofa und macht ein Mittagsschläfchen. Es ist Sommer, ich habe ihre Beinchen bloß mit der Sofadecke aus Plüschfell zugedeckt. Die Fräse ist laut, doch ich höre trotzdem, wie Anne nach einer Weile zu weinen beginnt.

Ich will gerade zu ihr hineingehen, da hält Rolf mich auf und besteht darauf, dass ich ihm weiter bei seiner Heldenarbeit zusehe. Um meine Flucht zu verhindern, stellt er mir hundert unnötige Fragen zur Form meines Gemüsebeets, obwohl wir alles vorher ausführlich besprochen haben, die Umrisse mit einem Spaten gezogen sind und ich einen Plan gezeichnet habe. Die Fräse läuft tosend im Leerlauf, ich bin ungehalten und nervös.

»Sie schreit doch bloß, alles okay«, sagt er und redet weiter. Da hört Anne plötzlich auf. »Guck, wieder eingeschlafen«, meint Rolf, doch ich habe ein komisches Gefühl, denn Anne ist noch nie wieder eingeschlafen, wenn sie gerade erst kreischend aufgewacht ist. Sie ist auch kein Kind, das sich in den Schlaf weint. Wenn Anne brüllt, dann brüllt sie. Also renne ich einfach los und lasse ihn mitten im Satz stehen. Ich muss außen rumlaufen, und als ich ankomme, ist es totenstill im Wohnzimmer. Durch Annes Gestrampel beim Schreien hat sich die Decke Zentimeter für Zentimeter aufwärtsgeschoben, ist bis über ihren Kopf gewandert und hat das Baby vollständig mit dem schweren Stoff bedeckt. Ich höre mich wimmern, neinneinnein!, und kurz bevor ich die Decke von ihrem Körperchen ziehe, habe ich diese alles verschluckende, grauenhafte Millisekunde tiefe, kalte, bodenlose Angst vor dem, was ich gleich entdecken könnte. Ich reiße die Kleine an mich, sie ist dunkelrot im Gesicht und japst nach Luft. Sie ist fürchterlich heiß und erschöpft, ich habe sie gerade noch rechtzeitig gefunden.

Dass Rolf mich so nah wie möglich an seiner Seite haben möchte, zieht sich durch unsere ganze Beziehung. Ich bewundere ihn ehrlich dafür, dass er praktisch alles bauen, reparieren und konstruieren kann, was man sich nur wünscht. Aber es macht mir Bauchschmerzen, bei diesen Tätigkeiten anhimmelnd neben ihm stehen zu müssen. Er lässt mich einfach nicht weg, ich stehe dabei und benicke jeden Hammerschlag, jedes Loch. Ich möchte nichts über Typenbezeichnungen von Schrauben lernen, habe keine Lust, mich mit Bits, Gewinden oder Lochbohrungen zu befassen. Ich assistiere, fixiere, reiche an, die Werkzeuge mit dem Griff zuerst, wie eine gute Zahnarzthelferin. Wenn ich ihn um etwas bitte, sagt er, ich solle schon mal das Werkzeug holen und das Material zusammensuchen. Denn den OP vorzubereiten, bevor der Herr Doktor Spritze und Bohrer erhebt, ist das Mindeste, was er erwartet, und es nervt mich.

Nach einer Weile kauft Rolf zwei Gartenliegen, auf denen er gern das Wochenende verbringt. Er stellt sie ganz eng aneinander und möchte, dass ich mich neben ihn lege, um ihm beim Ausruhen Gesellschaft zu leisten. Mich macht diese Zwangserholung nervös, dieses bewegungslose Rumgeliege, denn Lesen kann ich auch nicht, Anne hat ja keinen Ausschalter. Aus diesem Grund wurschtele ich mich lieber durch die Rabatten, endlich einmal, ohne ganz allein ein Kleinkind beaufsichtigen oder beschäftigen zu müssen. Doch Rolf kann es nicht ausstehen, dass ich mich anders erholen möchte als er. Wenn ich gärtnere, kann er nicht in Ruhe ein Nickerchen machen, die Kleine möchte dann seine Aufmerksamkeit, das ist natürlich schrecklich anstrengend. Immer wieder klopft er herausfordernd auf die Liege neben sich, gehorsam lege ich mich wieder hin und bekomme Bauchschmerzen vor Groll, während ich ihm beim Schlafen zusehe und Anne bespiele.

Rasch erlahmt das väterliche Interesse an seiner Tochter – in gleichem Maße wie das eheliche Interesse an mir. Abends ist er für Zärtlichkeiten zu erschöpft, und auch sonst stimmt immer etwas nicht. Nach dem Essen kann er nicht, weil er zu satt ist; vor dem Essen geht es nicht, weil er dann zu hungrig ist. Er kann nicht, wenn er am nächsten Tag früh raus muss und schon gar nicht auf Kommando oder wenn das Kind bald wach werden wird … Wenn er mal möchte, dann schlafe ich meist schon tief, entsprechend lange brauche ich, um in Stimmung zu kommen. Ich vermute, dass er vorher Pornos guckt, in seinem Regal im Arbeitszimmer finde ich einen Stapel DVDs, die ihm ein Arbeitskollege geliehen hat.

»Das ist normal bei Männern«, sagt er, und ich möchte mich nicht weiter damit beschäftigen.

Danach kann ich oft stundenlang nicht einschlafen, ich bin hellwach und höre Rolf beim Schnarchen zu. Außerdem macht er mir immer häufiger den Vorwurf, er müsse in sexueller Hinsicht einfach zu viel leisten, ich hingegen wäre nur passiv, hätte den Anspruch, mich verwöhnen zu lassen. Diese Diskussion haben wir während des Studiums schon einmal geführt. Wochenlang habe ich mich damals damit herumgequält, was an meiner Art, mit einem Mann zu schlafen, nicht in Ordnung sein könne – mein Exfreund hat sich in dieser Beziehung nie beschwert, obwohl ich zu seiner Zeit noch völlig unerfahren war. Dass ich, aus dem Tiefschlaf geweckt, nur zu mittelmäßiger Performance fähig bin, interessiert Rolf nicht. Der Grund, dass er seine Erektion nur noch für kurze Zeit halten kann, liegt ganz eindeutig bei mir.

Mein Selbstbewusstsein ist in dieser Zeit gerade noch ausreichend groß, für die Oxytozin-Ausschüttung sorgt der Körperkontakt mit Anne, meine Auslastung mit Hund, Garten, Haus und Nebenjobs ist am Limit, sodass ich diese Probleme zunächst verdränge. Nachts gebe ich Daten ein und verwalte meine Webseite, während Anne quietschvergnügt auf ihrer Krabbeldecke liegt und sich über zwei Dinge freut: dass ihre Mutter endlich eingesehen hat, dass vier Uhr morgens absolut keine geeignete Babyschlafenszeit ist und dass sie sie jetzt auch noch mit mir gemeinsam verbringen darf.

Rolf ist den ganzen Tag außer Haus, und ich versuche, im Dorf Anschluss zu finden. Doch es gibt keinen Krabbeltreff oder sonstige Babykurse, bei denen ich andere Mütter kennenlernen könnte. Deswegen hänge ich in dem kleinen Supermarkt kurzerhand eine »Freundin-gesucht!«-Anzeige ans Schwarze Brett und bin gespannt, wer sich für einen Spaziergang mit Kinderwagen und Hund meldet.

Als Rolf davon erfährt, reagiert er mit blankem Entsetzen und gerät völlig außer sich. Sein Ausbruch kommt aus heiterem Himmel, und ich kann nicht nachvollziehen, was in ihn gefahren ist. Ganz besonders deswegen nicht, weil er es ist, der sich beschwert, dass ich zu wenig Sozialkontakte habe. Es ist das erste Mal, dass ich ihn derart ausflippen sehe. Rolf verbietet mir, auf diese Art und Weise jemanden kennenzulernen, zu groß erscheint ihm die peinliche Schmach, würde man bei SanDent von der Aktion erfahren.

Ich verstehe ihn nicht, gebe die Sache um des lieben Friedens willen jedoch auf und spreche irgendwann eine Frau über den Gartenzaun an. Ich habe ihre Kinder schon öfter dort spielen sehen, und so finde ich den Anschluss, den ich gesucht habe. Ein paar Jahre später lerne ich beim Spazierengehen meine Herzensfreundin kennen, die mir bis heute zur Seite steht.

Ich fühle mich wohl in unserem Haus, obwohl es in regelmäßigen Abständen Ärger mit dem Vermieter gibt, der unsere Nerven blankliegen lässt. Immer wieder droht er mit Eigenbedarfskündigungen, die Sorge davor wird mein permanenter Begleiter. Ich komme mit dieser Bedrohung schlecht klar, weil ich ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit habe und ein Zuhause brauche, um meine Rolle weiterhin zuverlässig ausfüllen zu können.

Und das wird von mir auch erwartet.

Denn Rolf kommt zunehmend schlechter mit der immer gleichen Routine und den Anforderungen des Alltags zurecht, der Belastung durch einen Säugling, seinen beruflichen Pflichten. Deswegen delegiert er alle lästigen Aufgaben an mich.

Wenn ich morgens hinunterkomme, liegt bereits ein DIN-A4-Zettel bereit, auf dem Rolf akribisch meine Arbeiten für den Tag notiert hat. Ich muss frühmorgens bei Discountern spezielle Angebote ergattern, Besorgungen erledigen, Umtausche, Reparaturen und Überweisungen tätigen, seine Videos zurückgeben, Pakete und Post verschicken und abholen und vielerlei andere Kleinigkeiten mehr, die ich, weil sie überhandnehmen, immer schwerer in meinen Alltag integrieren kann, zu oft muss ich dazu mit dem Kind in die Stadt fahren oder habe andere Umstände. Sind die Aufträge abends nicht erledigt, reagiert Rolf ungehalten und enttäuscht über meine Unfähigkeit, wenigstens diese paar Gefälligkeiten für ihn zu erledigen, während er schließlich den ganzen Tag sehr viel schwerer beschäftigt ist als ich. Ich widerspreche ihm nicht, er arbeitet wirklich lang und scheint zudem recht erfolgreich zu sein. Rolf erzählt gern, wie beliebt, geschätzt und kompetent er ist und wie wahrscheinlich es ist, dass er sehr bald in eine Führungsposition befördert wird. Dagegen müssen sich meine Tage für ihn wie die reinste Erholung ausnehmen, auch wenn ich alle paar Stunden ein Kind an der Brust habe, den Garten anlege, tonnenweise Kies auf Hof und Terrasse verteile, Kinderarzttermine wahrnehme und stundenlang den Kinderwagen durch die Felder schiebe, damit der Hund rauskommt …

Aber ich beschwere mich nicht, ich hinterfrage nichts, ich merke nicht mal, wie er bezüglich seiner Wünsche und Forderungen stetig die Dosis erhöht, auch wenn meine Eltern immer deutlicher ihr Missfallen zum Ausdruck bringen, weil sie das genaue Gegenteil empfinden: Jo kümmert sich um alles, während Rolf ›nur‹ arbeiten geht.

Doch der Management-Job verändert ihn. Rolf treibt seit Jahren keinen Sport mehr und ist längst ins Übergewicht gerutscht, aber seine Uniform aus Businessanzügen, Hemden und Krawatten verleiht ihm eine Aura der Macht und Wichtigkeit. Er reist mit Kollegen und Assistentinnen zu Kongressen, Messen und Veranstaltungen auf der ganzen Welt, hält Vorträge und leitet Symposien. Manchmal habe ich den Eindruck, als seien diese Reisen nur das notwendige Übel, um danach in den Clubs und Bars der Luxushotels bis in die frühen Morgenstunden feiern zu können. Immer wenn Rolf den Eindruck hat, mir zu oft von den Gelagen zu berichten, betont er zum Ausgleich, wie anstrengend es sei, nach den Tagesveranstaltungen bis spät nachts an der Hotelbar zusammensitzen zu müssen, um wichtige Kontakte zu knüpfen. Das sei kein Spaß, sondern harte Arbeit. Doch jeder weiß, dass man nirgendwo so gut Dinge tun kann, von denen zu Hause niemand erfahren soll, wie auf Geschäftsreisen. Aber meine Naivität ist grenzenlos.

Mittlerweile ist Rolf drei von vier Wochenenden unterwegs, und ich bin zu einer verheirateten, alleinerziehenden Mutter geworden. Anne ist anstrengend, fordernd, kein leichtes Kind, und sie sucht sich ihre Krankheitszeiten immer nach der Abwesenheit ihres Vaters aus, sodass ich an allen Fronten zu kämpfen habe, während Rolf an der Copa Cabana, in den USA oder den großen europäischen Metropolen unterwegs ist. Wenn er heimkommt, ist er vom Jetlag erschlagen, ich wasche mich verständnisvoll durch seine Klamottenberge, bemitleide ihn gebührend, lasse ihn ausschlafen, habe Verständnis, wenn er sich einen oder zwei weitere Tage krankmeldet und ermahne die Kleine zur Rücksicht, weil Papa sich erholen muss.

Unerschütterlich stehe ich hinter ihm. Ich denke, dass das von einer Ehefrau erwartet wird, so bin ich erzogen worden. Meine Mutter sprang früher vom Fernsehen auf, wenn sie hörte, dass mein Vater nach Hause kam, und kämmte sich noch rasch die Haare, bevor sie ihn begrüßte. Daran ist sicher nichts verkehrt, es zeigt die Wertschätzung dem anderen gegenüber. Aber sie muss gegenseitig sein.

Doch während ich ihm jede Anerkennung gebe, bekomme ich nichts Vergleichbares von ihm zurück.

Also schöpfe ich die Kraft aus mir selbst, aus der Freude, die es mir macht, Anne aufwachsen zu sehen, und manchmal aus dem Lob seiner Kollegen, für eine Torte, die ich rasch noch nachts gebacken habe, oder ein Tablett voll Schnittchen, das ich frühmorgens zaubere, weil Rolf vergessen hat, dass er für eine Feier etwas mitbringen muss.

»Ich möchte drei Kinder – zwei, und eins zum Ersatz«, drängt Rolf, als sein Cousin, mit dem er seit Kindertagen in ständiger Konkurrenz steht, zum zweiten Mal Vater wird. Wenn seine Eltern uns besuchen, reden sie ununterbrochen von diesen und später den weiteren Kindern, wobei sie gleichzeitig unermüdlich den Erziehungsstil und die Umgangsformen in der Familie kritisieren. Sie brüsten sich damit, die Kleinen unter ihre Fittiche genommen zu haben, loben, preisen und rühmen sie, während Anne keinerlei Beachtung findet. Rolf kränkt dieses Verhalten zutiefst, umso wichtiger ist es, mitzuhalten.

Ich bin entsetzt über diesen Spruch.

Er klingt für mich wie ein böses Omen, doch das kann er nicht verstehen. Annes nächtliche Kapriolen, die ich nicht in den Griff bekomme, lassen bei mir noch keinen neuen Kinderwunsch zu: Ich brauche einen größeren Abstand zwischen den Kindern – zwei, und keines zum Ersatz!

Der Feind an meiner Seite

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