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Dritte Unterredung
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welche die mit dem Abte Paphnutius ist, über die drei Entsagungen.
1. Lob des Paphnutius.
In jenem Reigen der Heiligen, die wie helle Sterne in der Nacht dieser Welt glänzten, sahen wir den hl. Paphnutius durch die Klarheit seines Wissens wie ein großes Licht leuchten. Er war nemlich ein Priester unserer Congregation, d. i. jener, die in der scythischen Wüste weilte, und hielt in dieser so bis in sein höchstes Alter aus, daß er nie aus der Zelle, die er in jüngern Jahren bezogen hatte, und die fünf Meilen 80 von der Kirche entfernt war, in die Nachbarschaft ging. So ließ er sich auch trotz der Altersschwäche nicht durch den weiten Weg beirren, am Sabbath 81 oder Sonntag in die Kirche zu kommen; ja es war ihm nicht einmal genug, leer von da zurückzukehren, sondern er lud ein Gefäß mit dem Wasser, das er die ganze Woche hindurch brauchte, auf seine Schultern und trug es zur Zelle. Obwohl er das neunzigste Jahr überschritten hatte, duldete er doch nie, daß es ihm von Jüngern gebracht wurde. Dieser nun hatte sich von Jugend auf der Einübung des Klosterlebens mit solchem Eifer hingegeben, daß er schon nach kurzer Zeit ebenso reich war an dem Kleinod der Unterwürfigkeit wie an Kenntniß aller Tugenden. Durch Übung der Demuth und des Gehorsams tödtete er nämlich allen Eigenwillen ab, — und nachdem er so alle Laster getilgt und alle Tugenden vollkommen erreicht hatte, welche die Einrichtung der Klöster oder die Lehre der ältesten Väter als Grund legte, eilte er im Drang nach höherm Fortschritt in die Einsamkeit der Wüste, um dem Herrn, dem er unter den Schaaren der Brüder weilend untrennbar anzuhangen dürstete, dort um so leichter sich zu einen, wo ihn kein menschlicher Umgang mehr abzog. Auch dort übertraf er wieder die Tugend der übrigen Einsiedler mit solchem Eifer, daß er im Verlangen und Suchen nach jener beständigen und göttlichen Beschauung den Anblick Aller mied, in die ödesten und unzugänglichen Stellen der Wüste eindrang und sich lange dort verbarg, so daß er von den Anachoreten selbst nur schwer und höchst selten getroffen wurde und man glaubte, er habe den Genuß und die Wonne eines täglichen Umganges mit den Engeln. So gaben sie ihm denn wegen seiner Einsamkeit auch den Beinamen Bubalus (Waldstier, Büffel).
2. Von der Rede dieses Vaters und unserer Antwort.
Da wir also wünschten, durch seine Belehrung unterrichtet zu werden, und uns manche Gedanken wie mit Stacheln beunruhigten, kamen wir zu seiner Zelle, als schon der Tag sich zum Abend neigte. Er schwieg zuerst ein wenig stille und begann dann unsern Vorsatz zu preisen, daß wir das Vaterland verlassen, so viele Provinzen aus Liebe zum Herrn durchzogen hätten und so sehr bestrebt seien die Armuth und Öde der Wildniß zu ertragen und die Strenge ihres Lebens nachzuahmen, welche kaum sie selbst aushalten könnten, die sie doch in dieser Dürftigkeit und Armseligkeit geboren und erzogen seien. Da antworteten wir, wir seien deßhalb zu ihm als dem Lehrer und Meister gekommen, damit wir einigermaßen durch die Unterweisung und Vollkommenheit eines so großen Mannes gefördert werden könnten, da wir durch unzählige Zeugnisse erfahren hätten, daß ihm Beides innewohne; nicht aber seien wir gekommen, um von ihm durch Lobsprüche betrübt zu werden, deren Grund in uns nicht vorhanden sei; oder um auch durch seine Reden entzündet zu werden zu jener Überhebung des Gemüthes, von der wir auch in unsern Zellen zuweilen auf Eingebung des Feindes gereizt würden. Deßhalb baten wir, er möge uns vielmehr das einflößen, wodurch wir zerknirscht und gedemüthigt würden, nicht aber, was uns veranlassen könnte, uns selbst zu schmeicheln oder übermüthig zu werden.
3. Lehre des Abtes Paphnutius über die drei Arten der Berufungen und die drei Entsagungen.
Dann sprach der gottselige Paphnutius: Es gibt drei Ordnungen der Berufungen, und wir müssen auch drei Entsagungen kennen, die dem Mönche in jeder dieser Ordnungen nöthig sind. Zuerst nun müssen wir die Ursache der besagten drei Stufen der Berufung genau untersuchen, und wenn wir erkannt haben, daß wir zum ersten Grade der Gottesverehrung erwählt sind, so müssen wir nach dessen Höhe auch unsern Wandel entsprechend einrichten. Denn es wird Nichts nützen, hoch angefangen zu haben, wenn wir nicht für ein zum Anfang passendes Ende sorgen. Wenn wir aber auch einsehen, daß wir für die letzte Reihe dem Weltleben entzogen worden sind, so laßt uns doch, je weniger vorzüglich der erste Zug zur Religion, auf den wir uns stützen, zu sein scheint, um so eifriger dafür sorgen, daß wir uns zu einem bessern Ende durch geistiges Feuer anfachen. — Auch eine zweite Ursache, nemlich die der dreifachen Entsagung, müssen wir auf alle Weise kennen lernen, weil wir die Vollkommenheit durchaus nicht werden erreichen können, wenn wir sie entweder nicht kennen oder nach der Erkenntniß sie nicht im Werke zu bethätigen suchen.
4. Erklärung der drei Berufungen.
Damit wir also diese drei Weisen der Berufung in besonderer Unterscheidung auseinandersetzen, so ist die erste von Gott, die zweite von Menschen, die dritte stammt aus der Nothwendigkeit. Aus Gott ist sie, so oft eine gewisse Inspiration (Eingebung) in unser Herz gesenkt wird, die uns zuweilen sogar aus dem Schlafe zu dem Verlangen des ewigen Lebens und Heiles erweckt und uns mit gar heilsamer Erschütterung ermahnt, Gott zu folgen und seinen Geboten anzuhängen. So lesen wir in den hl. Schriften, daß Abraham durch das Wort des Herrn von seinem Geburtslande, von den Banden der ganzen Verwandtschaft und dem Hause seines Vaters hinweggerufen worden sei, da der Herr sprach: 82 „Geh’ heraus aus deinem Lande und deiner ganzen Verwandtschaft und dem Hause deines Vaters!“ Auf diese Weise ist, wie wir wissen, auch der heilige Antonius gerufen worden, der den Anlaß zu seiner Bekehrung von Gott allein erhielt. Er kam nemlich in eine Kirche und hörte dort das Wort des Herrn im Evangelium: 83 „Wer nicht haßt Vater und Mutter, Kinder und Gattin, seine Felder und noch dazu sein Leben, der kann mein Jünger nicht sein;“ und: 84 „Wenn du vollkommen sein willst, geh’ und verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und dann komm und folge mir nach!“ Dieß Gebot des Herrn nahm er als eigens an ihn gerichtet mit der größten Erschütterung des Herzens auf, und sogleich Allem entsagend folgte er Christo, durch keine menschliche Ermahnung oder Lehre aufgefordert. — Die zweite Weise der Berufung ist die, von der wir sagten, daß sie durch Menschen geschehe, wenn wir durch das Beispiel oder die Ermahnungen der Heiligen angetrieben und zu dem Verlangen des Heiles entflammt werden. Dadurch halten auch wir uns durch die Gnade Gottes für gerufen, da wir durch die Ermahnungen und Tugenden des genannten Mannes angeregt uns diesem Streben und Berufe hingaben. Auch lesen wir in der hl. Schrift, daß dieser Ordnung gemäß die Söhne Israels durch Moses aus der Bedrängniß Ägyptens befreit worden seien. Die dritte Weise der Berufung ist die, welche in der Noth erfolgt. Da sind wir von den Reichthümern oder Lüsten dieser Welt gefesselt; aber plötzlich brechen Prüfungen herein, indem uns entweder Todesgefahr droht oder Verlust der Güter und Ächtung uns trifft oder auch der Tod unserer Lieben uns verwundet. Jetzt treibt es uns an, wenigstens in der Zwangslage, zu Gott zu eilen, dem wir in glücklichern Verhältnissen zu folgen verschmähten. Diese Berufungstrübsal finden wir auch in der heiligen Schrift sehr oft, wenn wir lesen, daß die Söhne Israels nach Verdienst ihrer Sünden von Gott ihren Feinden überlassen worden seien, durch deren Herrschaft und wilde Grausamkeit sie sich dann bekehrten und wieder zu Gott riefen; und es sandte ihnen Gott als Retter den Aod, den Sohn Gera, den Sohn Jemini, der beide Hände gebrauchen konnte wie die Rechte. 85 Und wieder heißt es: „Sie riefen zum Herrn, der ihnen einen Retter erweckte zur Befreiung, den Othaniel, den Sohn des Cenez, den jüngern Bruder des Caleb.“ Auch im Psalme heißt es von Solchen: 86 „Als er sie tödtete, da suchten sie ihn und kehrten zurück; und früh Morgens kamen sie zu ihm und erinnerten sich, daß Gott ihr Helfer ist und der erhabene Gott ihr Erretter.“ Und wieder: 87 „Und sie schrieen zu Gott, als sie bedrängt wurden, und von ihren Nöthen befreite er sie.“
5. Daß die erste Berufung dem Trägen nicht nütze und die zweite dem Eifrigen nicht schade.
Obwohl nun unter diesen drei Weisen die beiden ersten sich auf einen bessern Anfang zu gründen scheinen, so finden wir doch zuweilen auch in der dritten Reihe, welche die unterste und laueste scheint, vollkommene Männer von größtem Geisteseifer, denen ähnlich, die aus der höchsten Veranlassung den Dienst Gottes ergriffen und ihr übriges Leben in lobenswerthem Eifer des Geistes zubrachten; wieder aber finden wir auf jener höhern Stufe sehr Viele, die lau wurden und in ein tadelnswerthes Ende zurückfielen. Wie es also Jenen nicht schadete, daß sie nicht durch freie Wahl, sondern durch den Drang der Noth sich bekehrten, zumal ihnen ja die Güte des Herrn den Anlaß zur Zerknirschung verschaffte: ebenso nützte es auch Diesen durchaus Nichts, einen höhern Anfang der Bekehrung gehabt zu haben, weil sie nicht bestrebt waren, das übrige Leben mit einem entsprechenden Ende zu schließen. So fehlte dem Abte Moses, der an dem Orte dieser Wüste wohnte, den man Calamus heißt, Nichts zum Verdienste der vollkommenen Glückseligkeit, weil er nur aus Furcht vor dem Tode, der ihm wegen eines Verbrechens des Mordes zugedacht war, zum Kloster kam; denn er ergriff die erzwungene Bekehrung dann so, daß er sie mit bereitwilliger Seelenkraft zu einer freiwilligen machte und zu den höchsten Gipfeln der Vollkommenheit gelangte; auf der andern Seite aber hat es sehr Vielen, die ich nicht namentlich zu erwähnen brauche, Nichts genützt, den Dienst Gottes nach einer höhern Weise angefangen zu haben, weil sie nachher durch Trägheit und Härte des Herzens in schädliche Lauigkeit und in den tiefen Abgrund des Todes fielen. Das sehen wir auch unwidersprechlich in der Berufung der Apostel ausgedrückt. Denn was nützte es dem Judas, daß er die höchste Würde des Apostolates nach derselben Weise, in welcher Petrus und die Übrigen gerufen wurden, freiwillig annahm, da er den herrlichen Beginn seiner Berufung zu dem unseligen Ende der Gier und Habsucht brachte und als grausamer Mörder bis zum Verrathe des Herrn herabstürzte? Oder was schadete es dem Paulus, daß er plötzlich geblendet auf den Weg des Heiles gleichsam mit Gewalt gezogen wurde, da er nachher dem Herrn mit solcher Glut des Herzens folgte und den erzwungenen Anfang in freiwilliger Verehrung fortführend sein durch solche Tugenden ruhmvolles Leben mit einem unvergleichlichen Ende beschloß? Alles kommt mithin auf das Ende an, und bei diesem kann Einer, der sich Anfangs der höchsten Bekehrung weihte, durch Nachläßigkeit als tiefer stehend erfunden werden, während der durch Noth zum Mönchsberufe Gezogene durch Gottesfurcht und Eifer vollkommen werden kann.
6. Darlegung der drei Entsagungen.
Nun müssen wir von den Entsagungen reden, deren Dreizahl uns die Lehre der Väter und das Ansehen der hl. Schriften beweist, und die wir mit allem Eifer üben müssen. Die erste ist jene, in welcher wir dem Leibe nach alle Reichthümer und Güter der Welt mit Verachtung hingeben; die zweite, in der wir die frühern Sitten und Laster und Neigungen des Gemüthes und des Fleisches von uns werfen; die dritte, in welcher wir unsern Geist von allem Gegenwärtigen und Sichtbaren abrufen und nur das Zukünftige betrachten, nur das Unsichtbare verlangen. Diese drei zugleich zu vollziehen hat Gott“, wie wir lesen, auch dem Abraham befohlen, da er zu ihm sprach: „Geh’ heraus aus deinem Lande, von deiner Verwandtschaft und dem Hause deines Vaters!“ Zuerst sagte er: von deinem Lande, d. i. von den Gütern dieser Welt und den irdischen Reichthümern; zweitens: von deiner Verwandtschaft, d. i. von dem frühern Wandel, den Sitten und Lastern, die uns von Geburt aus anhängen und wie durch Verschwägerung und Blut uns verwandt sind; drittens: vom Hause deines Vaters, d. i. von allem Andenken an diese Welt, die dem Blicke der Augen begegnet. Denn von den zwei Vätern, d. i. demjenigen, den wir verlassen müssen, und dem, welchen wir suchen müssen, singt so David im Namen Gottes: 88 „Höre, o Tochter, und sieh’, neige dein Ohr und vergiß dein Volk und das Haus deines Vaters!“ Der also sagt: „Höre, o Tochter,“ ist doch wohl Vater, und doch bezeugt er, daß Derjenige, dessen Haus und Volk er zu vergessen mahnt, der Vater seiner Tochter sei. So geschieht es, wenn wir mit Christo dem abgestorben sind, woraus diese Welt besteht, und nach dem Apostel nicht mehr das betrachten, was man sieht, sondern was man nicht sieht; denn das Sichtbare ist zeitlich, aber das Unsichtbare ewig. Indem wir also mit unserm Herzen herausgehen aus diesem zeitlichen und sichtbaren Hause, richten wir unsere Augen und unsern Geist auf jenes, in welchem wir beständig bleiben werden. Das erfüllen wir dann, wenn wir im Fleische wandelnd Gott nicht nach der Art des Fleisches zu dienen anfangen, jenes Wort des Apostels durch That und Kraft verkündend: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel.“ Diesen drei Entsagungen sind so recht die drei Bücher Salomons angepaßt. Denn die Sprüchwörter entsprechen der ersten, da durch sie die Begierden nach fleischlichen Dingen und die irdischen Laster beschnitten werden. Der zweiten Entsagung entspricht der Prediger, wo Alles, was unter der Sonne geschieht, als Eitelkeit hingestellt wird; der dritten das hohe Lied, in welchem der Geist über alles Sichtbare emporsteigend schon durch die Betrachtung der himmlischen Dinge dem Worte Gottes sich eint.
7. Wie die Vollkommenheit der einzelnen Entsagungen anzustreben sei.
Es wird uns also nicht viel nützen, die erste Entsagung mit der größten Opferwilligkeit des Glaubens auf uns genommen zu haben, wenn wir die zweite nicht mit demselben Streben und dem gleichen Eifer durchsetzen. Und so werden wir, wenn wir auch diese erlangt haben, zu jener dritten kommen können, in der wir alle Blicke des Geistes zum Himmlischen wenden, nachdem wir ausgezogen sind aus dem Hause unsers frühern Vaters, der uns ja, wie wir wissen, nur Vater war vom Anfange unserer Geburt nach dem alten Menschen und dem vorigen Wandel, da wir von Natur aus Söhne des Zornes waren wie auch die Übrigen. 89 Von diesem Vater wird auch zu Jerusalem, das seinen Wahren Vater, Gott, verachtet hatte, gesagt: 90 „Dein Vater ist der Amorrhäer und deine Mutter eine Cethäerin.“ Und im Evangelium: 91 „Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt nach dem Begehren eures Vaters thun.“ Wenn wir Diesen verlassen haben und vom Sichtbaren zum Unsichtbaren aufgestiegen sind, dann werden wir mit dem Apostel sagen können: 92 „Wir wissen, daß, wenn dieß unser irdisches Wohnhaus abgebrochen wird, wir eine Wohnung aus Gott haben werden, ein Haus nicht mit Händen gemacht, sondern ewig im Himmel.“ Und ebenso, was wir kurz vor erwähnt haben: 93 „Unser Bürgerrecht ist im Himmel, von wo wir auch als Retter erwarten unsern Herrn Jesus Christus, welcher umbilden wird den Leib unserer Niedrigkeit zur gleichen Gestalt mit dem Leibe seiner Herrlichkeit.“ Oder jenes Wort des hl. David: 94 „Ich bin ein Fremdling und Pilger auf Erden, wie alle meine Väter.“ Laßt uns also nach dem Worte des Herrn so werden wie Jene, von welchen der Herr im Evangelium zu seinem Vater spricht: 95 „Sie sind nicht von dieser Welt, wie auch ich nicht von dieser Welt bin;“ und wieder zu den Aposteln selbst: „Wenn ihr von dieser Welt wäret, so würde die Welt jedenfalls lieben, was ihr gehört; weil ihr aber nicht von dieser Welt seid, sondern ich euch von dieser Welt erwählt habe, deßhalb haßt euch die Welt.“ Wir werden also die wahre Vollkommenheit dieser dritten Entsagung dann in Wahrheit besitzen, wenn unser Geist durch seine ansteckende Verbindung mit Fleischesfett herabgestimmt, sondern durch die erfahrenste Bearbeitung geläutert ist von jedem Affekt und irdischer Beschaffenheit und nun durch unaufhörliche Betrachtung der göttlichen Schriften und geistige Beschauungen zum Unsichtbaren so emporgestiegen ist, daß er auf das Himmlische und Unkörperliche gerichtet die Hülle des gebrechlichen Fleisches und des ihm anhaftenden Körpers gar nicht mehr merkt. Dann soll er auch in solche Entzückungen hingerissen werden, daß er nicht nur seine Stimmen mehr mit dem leiblichen Ohre vernimmt, und nicht durch den Anblick der vorübergehenden Menschen eingenommen wird, sondern daß er nicht einmal die dastehenden mächtigen Bäume und die größten sich darbietenden Gegenstände mit leiblichem Auge sieht. Die Glaubwürdigkeit und Kraft dieses Zustandes wird nur der fassen, der das Gesagte durch Erfahrung kennen gelernt hat, dessen Herzensaugen nemlich der Herr so von allem Gegenwärtigen abgezogen hat, daß er es nicht nur für vorübergehend, sondern für gleichsam nicht daseiend hält und es für leeren Rauch ansieht, der in Nichts sich auflöst. Wandelnd mit Gott wie Henoch und über menschliches Thun und Treiben erhaben findet man ihn nicht mehr in der Eitelkeit dieser Zeit. Daß Dieß an Jenem (Henoch) auch körperlich geschah, lesen wir so in der Genesis erzählt: 96 „Und es wandelte Henoch mit Gott, und man fand ihn nicht mehr, weil ihn Gott hinweggenommen hatte.“ Auch der Apostel sagt: 97 „Im Glauben wurde Henoch hinweggenommen, damit er den Tod nicht sehe.“ Von diesem Tode sagt der Herr im Evangelium: 98 „Wer da lebt und an mich glaubt, der wird ewig nicht sterben.“ Deßhalb müssen wir drängen, wenn wir die wahre Vollkommenheit erreichen wollen, damit, wie wir dem Leibe nach Eltern, Vaterland, Reichthum und Luft verlassen haben, wir Dieß alles auch dem Herzen nach darangeben und durch keine Begierde mehr zu dem, was wir verließen, zurückkehren. So heißt es von Jenen, welche von Moses aus Ägypten geführt worden, obwohl sie dem Körper nach nicht zurückkehrten, sie seien im Herzen dorthin zurückgegangen, da sie nämlich Gott verließen, der sie mit solcher Wundermacht herausgeführt hatte, und die zuvor verachteten Götzen Ägyptens verehrten, wie die Schrift erzählt: 99 „Und sie kehrten im Herzen nach Ägypten zurück, da sie zu Aaron sprachen: Mach uns Götter, die vor uns herziehen.“ — Wir wollen nicht in gleicher Weise verdammt werden wie Diese, die bei ihrem Aufenthalte in der Wüste, nachdem sie das himmlische Manna gegessen, doch wieder nach den von gemeiner Nützlichkeit und sogar von Lastern übelriechenden Speisen verlangten. Wir wollen nicht ihnen gleich zu murren scheinen: „Gut ging’s uns in Ägypten, wo wir bei Fleischtöpfen saßen und Zwiebel und Knoblauch hatten und Gurken und Melonen.“ 100 Obwohl nun dieser vorbildliche Zustand jenes Volkes vorübergegangen ist, so sehen wir ihn doch jetzt noch täglich in unserm Kreise und Berufe erfüllt. Denn Jeder, der nach seiner Weltentsagung wieder zu den alten Bestrebungen zurückkehrt und sich wieder von den vorigen Begierden locken läßt, sagt in That und Gedanken ganz Dasselbe wie Jene: Gut ging mir’s in Ägypten. Ich fürchte, daß deren eine so große Menge gefunden werden könnte, als damals unter Moses Abgefallene waren. Obwohl man nemlich beim Auszug aus Ägypten sechsmalhunderttausend Bewaffnete zählte, betraten doch von allen nur zwei das Land der Verheissung. Wir müssen also darnach jagen, daß wir von den Wenigen und gar Seltenen die Beispiele der Tugend nehmen, weil dem besagten Vorbild entsprechend auch im Evangelium Viele zwar berufen, Wenige aber auserwählt genannt werden. 101 Es wird uns also die körperliche Entsagung und die gleichsam örtliche Auswanderung aus Ägypten Nichts nützen, wenn wir die Entsagung des Herzens, welche höher und nützlicher ist, nicht gleichfalls zu behaupten vermochten. Denn von dieser genannten körperlichen Entsagung spricht so der Apostel: 102 „Wenn ich all’ mein Vermögen austheile zur Speisung der Armen und meinen Leib zum Verbrennen hingebe, aber die Liebe nicht habe, so nützt es mir Nichts.“ Das hätte der hl. Apostel nie gesagt, wenn er nicht im Geiste vorausgesehen hätte, daß Einige nach Vertheilung ihres ganzen Vermögens zur Ernährung der Armen doch zur evangelischen Vollkommenheit und zu dem steilen Gipfel der Liebe nicht gelangen könnten, weil sie nemlich die alten Laster und die Zuchtlosigkeit der Sitten, sei es unter der Herrschaft des Stolzes oder der Ungeduld, in ihren Herzen zurückbehalten und sich durchaus nicht davon zu reinigen suchen, so daß sie zu der Liebe Gottes, die niemals fällt, keineswegs gelangen. Solche stehen nun natürlich schon zu tief für diesen zweiten Grad der Entsagung und werden also viel weniger jenen dritten, der ohne Zweifel höher ist, erfassen. Erwäget aber auch das sorgfältiger im Geiste, daß er nicht einfach gesagt hat: „wenn ich mein Vermögen ausgetheilt habe;“ denn es könnte sonst scheinen, er habe vielleicht von einem Solchen geredet, der nicht einmal das evangelische Gebot erfülle und, wie einige Laue thun, überhaupt Etwas für sich zurückbehalten habe. Nein, er sagt: „wenn ich all’ mein Vermögen zur Speisung der Armen ausgetheilt habe,“ d. h. obwohl ich vollkommen diesen irdischen Reichthümern entsagt habe. Und dieser Entsagung fügt er noch etwas Größeres bei: „Und wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingegeben habe, die Liebe aber nicht besitze, so bin ich Nichts“; als hätte er mit andern Worten gesagt: „Wenn ich zur Speisung der Armen all mein Vermögen austheile, nach jenem evangelischen Gebote, welches sagt: „Wenn du vollkommen sein willst, so geh’, verkaufe Alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir;“ wenn ich also so entsagen würde, daß ich durchaus Nichts für mich zurückbehielte, und wenn ich dieser Austheilung das Märtyrerthum und die Verbrennung meines Leibes beifügen würde, so daß ich also meinen Leib für Christus hingeben würde, und ich wäre doch noch ungeduldig oder zornsüchtig oder neidisch und hochmüthig und rachsüchtig, oder ich würde suchen, was mein ist, und denken, was böse ist, oder ich würde nicht Alles, was man mir anthun kann, geduldig und gerne ertragen: so wird mich die Entsagung und Verbrennung des äußern Menschen Nichts nützen, wenn der innere sich noch in den alten Lastern wälzt. So hätte ich wohl im Eifer der ersten Bekehrung einfach die Güter dieser Welt verachtet, die ihrem Wesen nach weder gut noch böse, sondern gleichgiltig und, aber ich hätte nicht dafür gesorgt, die schädlichen Vermögen des lasterhaften Herzens ebenso wegzuwerfen und die göttliche Liebe zu erlangen, die geduldig, gütig, nicht eifersüchtig ist, sich nicht aufbläht, nicht aufgeregt wird, nicht verkehrt handelt, nicht das Ihre sucht und nicht Böses denkt, die Alles erträgt, Alles aushält und endlich ihren eifrigen Sucher nicht fallen läßt in der gefährlichen Lage der Sünde.
8. Von den eigenthümlichen Schätzen, in welchen die Schönheit oder die Häßlichkeit der Seele besteht.
Wir müssen uns also anhaltend bemühen, daß auch unser innerer Mensch den Vorrath an Lastern, den er in seinem frühern Wandel aufgehäuft hat, ganz abwerfe und so auseinanderreisse, was uns an Leib und Seele beständig anhängt und so recht unser Eigenthum ist, ja, was uns, wenn wir es nicht in diesem Leibesleben abthun und wegreissen, auch nach dem Tode noch stets begleiten wird. Denn wie die Tugenden, welche wir in dieser Lebenszeit erworben haben, oder gerade die Liebe, die ihre Quelle ist, wie sie ihren Liebhaber auch nach dem Ende dieses Lebens schön und herrlich machen: so senden die Laster den Geist gleichsam mit häßlichen Farben geschwärzt und befleckt in jenen ewigen Aufenthalt. Denn die Schönheit oder Häßlichkeit der Seele wird durch die Beschaffenheit der Tugenden oder Laster erzeugt. Eine gewisse von diesen angenommene Farbe macht jene entweder glänzend und schön, daß sie vom Propheten hören darf: „Es wird der König nach deiner Schönheit verlangen;“ oder aber schwarz, übelriechend, ungestalt, so daß sie selbst den Pesthauch ihres Geruches eingesteht und sagt: 103 „Faul sind geworden meine Wunden und vereitert ob meiner Thorheit.“ Der Herr selbst sagt zu ihr: „Warum ist nicht verbunden die Wunde der Tochter meines Volkes?“ 104 Also das sind unsere eigensten Reichthümer, die der Seele stets verbleiben, und die uns kein König und kein Feind geben oder nehmen kann! Das ist unser wirklicher Besitz, den nicht einmal der Tod von der Seele wird scheiden können, und durch dessen Hingabe wir zur Vollkommenheit gelangen können, wie uns sein Festhalten der Strafe des ewigen Todes überliefert.
9. Von der dreifachen Art der Reichthümer.
Auf dreifache Weise werden in der hl. Schrift die Reichthümer unterschieden, nemlich in böse, gute und mittlere (gleichgiltige). Böse sind die, von welchen es heißt: 105 „Die Reichen hatten Mangel und hungerten;“ und: 106 „Weh’ euch, ihr Reichen, weil ihr euren Trost empfangen habt!“ Diese Reichthümer von sich geworfen zu haben, ist also sehr große Vollkommenheit. Der Gegensatz hievon sind jene Armen, welche im Evangelium durch das Wort des Herrn gelobt werden: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Und im Psalm: 107 „Jener Arme rief, und der Herr erhörte ihn.“ Und wieder: 108 „Der Arme und Dürftige wird deinen Namen loben.“ Es gibt auch gute Reichthümer, die zu erwerben viel Tugend und Verdienst ist, und wegen deren Besitz der Gerechte von David gepriesen wird mit den Worten: 109 „Das Geschlecht der Gerechten wird gepriesen, Ehre und Reichthum ist in seinem Hause, und seine Gerechtigkeit währt immerdar.“ Und wieder: 110 „Die Erlösung der Seele eines Mannes ist sein Reichthum.“ Wegen dieser Reichthümer heißt es in der Apokalypse von dem, der sie nicht hat und also in schuldbarer Weise arm und entblößt ist: „Ich werde beginnen, dich auszuspeien aus meinem Munde, weil du sagst, ich bin reich und überreich und bedarf Niemandes, und du weißt nicht, daß du elend und erbärmlich, arm und blind und bloß bist. Ich rathe dir, von mir Gold zu kaufen, im Feuer erprobtes, damit du reich werdest und mit weissen Kleidern dich kleidest und nicht offenbar werde die Schande deiner Blöße.“ 111 Es gibt aber auch mittlere, d. h. die entweder gut sein können oder böse; denn sie werden durch die freie Wahl oder die Beschaffenheit der Gebrauchenden auf die eine oder andere Seite gestellt. Von diesen sagt der Apostel: 112 „Den Reichen dieser Welt befiehl, nicht hochfahrend zu denken und ihre Hoffnung nicht zu setzen auf den unsichern Reichthum, sondern auf Gott, der uns im Überflusse Alles zum Genusse darreicht; sie sollen Gutes thun, gern geben, mittheilen und sich einen Schatz anlegen als guten Grund für die Zukunft, damit sie das wahre Leben erlangen.“ Jener Reiche des Evangeliums aber, der seine Güter zurückhielt und durchaus nicht den Dürftigen damit half, so daß von seinen Brosamen der arme vor der Thüre liegende Lazarus sich zu sättigen wünschte, wurde dafür zu dem unerträglichen Feuer der Hölle und zu ewiger Glut verurtheilt.
10. Es könne Keiner durch die erste Stufe der Entsagung vollkommen sein.
Wenn wir nun diese sichtbaren Reichthümer der Welt verlassen, so werfen wir nicht unsere, sondern fremde Güter weg, obwohl wir uns rühmen, sie durch unsere Mühe erworben oder als Erbschaft von den Eltern überkommen zu haben. Denn Nichts ist, wie ich sagte, unser Eigenthum, als was wir im Herzen besitzen, und was der Seele anhängt, so, daß es von Niemand ganz kann weggenommen werden. Über diese sichtbaren Reichthümer aber sagt Christus mit schwerem Tadel zu denen, die sie als Eigenthum behalten und den Dürftigen nicht mittheilen wollen: 113 „Wenn ihr im fremden Gut nicht treu gewesen seid, wer wird euch geben, was euer ist?“ Es zeigt also nicht bloß die tägliche Erfahrung unwiderleglich, daß diese Reichthümer fremde seien, sondern auch der Ausspruch des Herrn hat sie so benannt und bezeichnet. Von den sichtbaren und erbärmlichen Reichthümern sagt auch Petrus zum Herrn: 114 „Sieh’, wir haben Alles verlassen und sind dir nachgefolgt, was werden wir also bekommen?“ Und doch weiß man, daß Diese Nichts als werthlose zerrissene Netze verlassen haben. Wenn also dies „Alles“ nicht von der Lossagung von den Lastern, die wahrhaft groß und sehr hochstehend ist, verstanden werden muß, so werden wir kaum finden, was denn die Apostel so Kostbares verlassen haben, und was der Herr für einen Grund hatte, ihnen eine solche Glorie der Seligkeit zu verleihen, daß sie von ihm hören durften: 115 „Bei der Wiedergestaltung, wenn der Sohn des Menschen auf dem Throne seiner Majestät sitzt, werdet auch ihr auf zwölf Thronen sitzen und richten die zwölf Stämme Israels.“ Wenn also Die, welche diesen irdischen und sichtbaren Gütern vollständig entsagen, doch aus gewissen Gründen zu jener apostolischen Liebe nicht gelangen können und jene höhere und nur sehr Wenigen zugängliche dritte Stufe der Entsagung nicht mit ungehinderter Kraft besteigen können, was werden Jene von sich urtheilen müssen, die nicht einmal die erste, so leichte, vollkommen sich eigen machen, sondern den alten Schmutz ihres Geldes mit der alten Treulosigkeit zurückbehalten und glauben, sie dürften sich schon mit dem bloßen Namen eines Mönches rühmen? — Also die erste Entsagung, von der wir gesprochen, erstreckt sich auf fremdes Eigenthum und reicht mithin für sich allein nicht aus, dem Entsagenden die Vollkommenheit zu verleihen, wenn er nicht zu der zweiten kommt, die wahrhaft ein Opfer unsers Eigenthums ist. Haben wir diese durch Ausrottung aller Laster erlangt, so werden wir auch den Gipfel der dritten Entsagung ersteigen, durch die wir nicht nur Alles, was auf dieser Welt geschieht, oder was im Einzelbesitz der Menschen ist, sondern auch die ganze Fülle aller Elemente, die für so großartig gehalten wird, als eitel und bald vergebend unter uns lassen und mit Geist und Herz verachten, indem wir nach dem Apostel nicht auf das Sichtbare, sondern nur auf das Unsichtbare schauen; denn was man sieht, ist zeitlich, was man aber nicht sieht, ewig. So mögen wir endlich verdienen, jenes Letzte zu hören, was dem Abraham gesagt wurde: „Und komm in das Land, das ich dir zeigen werde.“ Dadurch wird klar gezeigt, daß, wenn Einer nicht die drei obigen Entsagungen mit allem Eifer des Geistes durchgemacht hat, er auch zu diesem Vierten nicht kommen könne, das als Lohn und Preis einem solchen Opferwilligen ertheilt wird, nemlich, daß er für sein Verdienst das Land der Verheissung betreten dürfe, das ihm durchaus nicht mehr die Dornen und Disteln der Laster trägt, da man es ja nach Austreibung aller Leidenschaften durch die Reinheit des Herzens in diesem Leibe besitzt. Aber nicht die Tugend und der Eifer des sich Abmühenden wird ihm dasselbe zeigen, sondern der Herr verspricht, daß er selbst es zeigen wolle, indem er sagt: „Und komm in das Land, das ich dir zeigen werde.“ Dadurch wird offenbar bewiesen, daß, wie der Anfang unseres Heiles durch die Berufung des Herrn geschieht, der da sagt: „Geh’ heraus aus deinem Lande,“ so auch die Vollendung der Vollkommenheit und Reinheit von ebendemselben verliehen werde, da er spricht: „Und komm in das Land. das ich dir zeigen werde,“ d. h. nicht in eines, das du aus dir selbst kennen oder durch deinen Elfer finden könntest, sondern das ich dir zeigen werde, während du selbst es nicht nur nicht wissen, sondern auch nicht suchen würdest. Daraus können wir deutlich erschließen, daß wir durch Eingebung des Herrn gerufen zum Wege des Heiles eilen, aber auch durch seine Belehrung und Erleuchtung geführt zur Vollendung der höchsten Seligkeit gelangen.
11. Frage über die freie Wahlwillkür des Menschen und die Gnade Gottes.
Germanus: Worin besteht aber dann der freie Wille des Menschen, und in wie fern wird unser lobenswerthes Verhalten auch unserer Thätigkeit angerechnet, wenn Gott in uns Alles, was zu unserer Vollkommenheit gehört, sowohl anfängt als vollendet?
12. Antwort über die Austheilung der göttlichen Gnade mit Wahrung der Freiheit des Willens.
Paphnutius: Das hätte euch mit Reckt beunruhigt, wenn in jedem Werke oder jeder Lehre nur der Anfang wäre und das Ende, und nicht auch eine gewisse Mitte dazwischen läge. 116 Wie wir also sehen, daß Gott die Gelegenheit des Heiles auf verschiedene Weise biete, so steht es bei uns, den von Gott gebotenen Gelegenheiten eifrig oder nachlässig zu entsprechen. Denn wie das Anerbieten Sache Gottes war, der berief mit der Ansprache: „Geh’ heraus aus deinem Lande!“ — so war der Gehorsam Sache des ausziehenden Abraham; und wie für das Wirken des Gehorchenden gesagt wurde: „Komm in das Land,“ so ist es die Gnade des befehlenden oder versprechenden Gottes, wenn beigefügt wird: „das ich dir zeigen werde.“ Wir müssen jedoch versichert sein, daß wir trotz unermüdlich angestrengter Übung der Tugend keineswegs durch unsern Fleiß und Eifer zur Vollkommenheit gelangen können, und daß die menschliche Thätigkeit nicht hinreiche, durch das Verdienst der Arbeit zu so hohem Lohne der Seligkeit zu gelangen, wenn wir ihn nicht durch die Beihilfe Gottes erreichen, der, unser Herz zu dem leitet, was uns fördert. Daher müssen wir jeden Augenblick mit David im Gebete sagen: 117 „Mache vollkommen meine Schritte auf deinen Wegen, daß nicht wanken meine Tritte,“ und: 118 „Er stellte auf einen Felsen meine Füße und lenkte meine Schritte;“ damit jener unsichtbare Lenker des menschlichen Geistes unsern freien Willen, der zu sehr zu den Lastern hinneigt, entweder aus Unkenntniß des Guten oder durch den Reiz der Leidenschaften, eher zum Streben nach der Tugend wenden möge. Das lesen wir durch den Propheten in einem Verse ganz deutlich ausgesprochen: 119 „Gedrängt, gestoßen ward ich zum Falle,“ wodurch die Schwäche des freien Willens bezeichnet wird; „und der Herr stützte mich:“ Das zeigt uns wieder die mit jenem immer verbundene Hilfe des Herrn, durch die er, damit wir in der freien Entscheidung nicht ganz fallen, uns gleichsam mit Darreichung seiner Hände hält und stärkt, wenn er sieht, daß wir wanken. Und wieder: 120 „Wenn ich sprach, es wankt mein Fuß“ — nemlich durch das hinfällige Vermögen der Freiheit — „da half mir, o Herr, dein Erbarmen.“ So verbindet er wieder die Hilfe Gottes mit seiner eigenen Schwäche, indem er gesteht, es sei nicht durch seine Thätigkeit, sondern, durch die Barmherzigkeit Gottes geschehen, daß der Fuß seines Glaubens nicht wankte. Ferner sagt er: 121 „Nach der Menge der Schmerzen in meiner Brust“ — die mir wohl aus meiner Freiheit entstanden — „erfreuten deine Tröstungen meine Seele,“ — die nemlich durch deine Einflößung in mein Herz kamen, mir die Betrachtung der künftigen Güter erschloßen (die du denen bereitet hast, welche für dich sich abmühen) und so nicht nur alle Angst meines Herzens hinwegnahmen, sondern auch die höchste Freudigkeit mir brachten. An anderer Stelle heißt es: 122 „Hätte nicht der Herr mir geholfen, so hätte beinahe meine Seele in der Hölle gewohnt.“ Er gesteht also, daß er durch die Verkehrtheit des freien Willens schon in der Hölle wäre, wenn er nicht durch Gottes Hilfe und Schutz gerettet worden wäre. „Denn vom Herrn,“ 123 nicht vom freien Willen „werden die Schritte der Menschen gelenkt;“ und „wenn der Gerechte fällt,“ nur durch seine Freiheit, „so wird er sich nicht zerschmettern.“ Warum? „Weil der Herr seine Hand unterlegt.“ Das heißt doch offenbar sagen: Kein Gerechter ist sich selbst genug zur Erlangung der Gerechtigkeit, wenn nicht die göttliche Güte jeden Augenblick dem Wankenden und Stürzenden ihre Hand als Stütze unterlegt, damit er nicht im Sturze ganz zu Grunde gehe, wenn er durch die Schwäche des freien Willens zu Fall kam.
13. Daß die Leitung unseres Lebens von Gott sei.
Und in der That haben die hl. Männer niemals die Führung auf dem Wege, auf welchem sie bei ihrem Streben nach Fortschritt und Vollendung in den Tugenden wandelten, ihrem eigenen Thun und Festhalten zugeschrieben, sondern erbaten sie vielmehr vom Herrn und flehten: 124 „Führe mich in deiner Wahrheit und leite vor deinem Angesichte meinen Weg!“ Und: 125 „Thue kund mir den Weg, auf welchem ich wandeln soll.“ Ein Anderer aber verkündet, er habe eben das nicht durch den Glauben, sondern auch durch Erfahrung und gleichsam aus der Natur der Dinge selbst gefunden: 126 „Ich erkenne, o Herr, daß der Weg des Menschen nicht bei ihm steht, und daß es nicht in der Macht des Mannes steht, zu wandeln und seine Schritte zu lenken.“ Und der Herr selbst spricht zu Israel: 127 „Und ich werde ihn aufrichten wie eine grünende Tanne, und durch mich soll Frucht an dir gefunden werden.“
14. Daß die Wissenschaft des Gesetzes durch Belehrung und Erleuchtung Gottes ertheilt wird.
Auch die Wissenschaft des Gesetzes verlangen sie nicht durch die eifrige Lesung zu erhalten, sondern durch die tägliche Belehrung und Erleuchtung Gottes und rufen zu ihm: 128 „Zeige mir, o Herr, deine Wege, und deine Pfade lehre mich!“ Und: 129 „Öffne meine Augen, so will ich die Wunder deines Gesetzes betrachten.“ Ferner: „Lehre mich deinen Willen thun, weil du mein Gott bist.“ Endlich: 130 „Der du lehrest den Menschen Wissenschaft.“
15. Daß die Einsicht, die Gebote Gottes zu erkennen, und die Neigung des guten Willens vom Herrn gegeben werde.
Auch die Einsicht, die Gebote Gottes zu erkennen, die er im Gesetzbuch verzeichnet wußte, verlangt der hl. David vom Herrn zu erhalten, indem er sagt: 131 „Dein Diener bin ich; gib mir Verstand, deine Gebote zu lernen!“ Er besaß doch wohl den ihm schon von Natur verliehenen Verstand, und auch die Kenntniß der Gebote, die im Gesetzbuch geschrieben standen, hatte er in Bereitschaft, und doch bittet er Gott, daß er Dieß noch mehr erfasse, da er wohl weiß, daß ihm durchaus nicht genügen könne, was durch den natürlichen Zustand verliehen ist, wenn nicht sein Sinn durch tägliche Erleuchtung Gottes zum geistigen Verständniß des Gesetzes und zur klarern Erkenntniß der Gebote erhellt worden. Das Gesagte lehrt uns auch noch deutlicher gerade das Gefäß der Auserwählung in der Stelle: 132 „Denn Gott ist es, der in uns das Wollen und Vollbringen bewirkt nach seinem Wohlgefallen.“ Und wieder: 133 „Verstehe, was ich sage, denn der Herr wird dir Verständniß geben.“ Was sagt er hiemit offenbar Anderes, als daß sowohl unser guter Wille als auch die Vollendung des Werkes vom Herrn in uns zu Stande komme? Weiterhin sagt er: 134 „Euch ist es gegeben für Christus, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden.“ Auch hier erklärt er also, daß sowohl der Anfang der Bekehrung und unsers Glaubens als auch die Ertragung der Leiden uns vom Herrn geschenkt werde. In dieser Einsicht betete David gleichfalls, es möge ihm das vom Herrn gegeben werden, und spricht: 135 „Befestige, o Herr, was du in uns gewirkt hast.“ Er zeigt hiemit, daß ihm die durch Gottes Geschenk und Gnade verliehenen Anfänge des Heiles nicht genügen, wenn sie nicht ebenso durch sein Erbarmen in täglicher Hilfe vollendet würden. Denn nicht der freie Wille, sondern Gott löst die Gefesselten: 136 nicht unsere Kraft, sondern Gott richtet auf die Gebeugten: nicht der Eifer in der Lesung, sondern Gott erleuchtet die Blinden, wie es im Griechischen heißt: κύριος σοφοῖ τύφλους, d. h. Gott macht weise die Blinden. Nicht unsere Vorsorge, sondern Gott beschützt die Fremdlinge; nicht unsere Kraft, sondern Gott erleichtert und stützt Alle, die fallen. Das aber sagen wir nicht, um unser Streben und Mühen und Trachten als eiteln und überflüssigen Aufwand für Nichts zu erklären, sondern damit wir wissen, daß wir ohne Hilfe Gottes weder streben können noch Erfolg haben werden bei unsern Versuchen, jenen übergroßen Preis der Reinheit zu ergreifen, wenn er uns nicht durch Gottes Hilfe und Erbarmen zugetheilt wird. Denn: 137 „Das Roß wird gerüstet auf den Tag der Schlacht, vom Herrn aber kommt die Hilfe;“ 138 denn nicht in seiner Tapferkeit ist mächtig der Mann, 139 und unverlässig ist das Roß, wo es Rettung gilt, damit, wer immer sich rühmt, im Herrn sich rühme.“ 140 Wir müssen also immer mit dem hl. David singen: 141 „Meine Stärke und mein Lob ist“ nicht der freie Wille, sondern „der Herr; und er ist mir zum Heile geworden.“ Das wußte der Völkerlehrer gar wohl und bekannte deßhalb, er sei nicht durch eigenes Verdienen und Abmühen tauglich geworden zum Dienste des neuen Testamentes, sondern durch Gottes Erbarmen. So sagt er: 142 „Nicht als wären wir tauglich. Etwas zu denken von uns aus, wie aus uns sondern unser Genügen ist aus Gott.“ Dafür könnte man zwar in weniger gutem Latein, aber mit mehr bezeichnendem Ausdruck sagen: Unsere Tauglichkeit 143 ist aus Gott. Endlich folgt: „Der uns auch zu tauglichen Dienern des neuen Testamentes gemacht hat.“
16. Daß gerade der Glaube vom Herrn geschenkt werde.
So weit gingen die Apostel in der Meinung, es werde ihnen alles zum Heile Gehörige vom Herrn geschenkt, daß sie sich die Verleihung des Glaubens von ihm erbaten mit den Worten: „Herr, vermehre uns den Glauben!“ Sie schrieben also die Fülle desselben nicht dem freien Willen zu, sondern glaubten, daß sie ihnen durch Gottes Geschenk müsse ertheilt werden. Endlich lehrt uns gerade der Urheber des menschlichen Heiles selbst, wie unser Glaube so leicht ausgleitend sei und schwach und keineswegs sich selbst genügend, wenn er nicht durch Gottes Hilfe gestärkt sei. Er spricht also zu Petrus: „Simon, Simon, siehe der Satan hat euch wie Weizen zu sieben gesucht; aber ich habe meinen Vater gebeten, daß dein Glaube nicht hinfällig werde.“ So Etwas hat wohl ein Anderer in sich bemerkt und gesehen, wie sein Glaube durch die Brandung des Unglaubens gleichsam an die Felsenriffe zu verderblichem Schiffbruch gedrängt werde, weßhalb er zum Herrn mit der Bitte um Glaubensstärkung sprach: „Herr, hilf meinem Unglauben!“ 144 So sehr also glaubten alle evangelischen und apostolischen Männer, daß alles Gute durch Gottes Hilfe vollendet werde, und bekannten, wie sie nicht einmal ihren Glauben mit eigener Kraft oder durch die Willensfreiheit unversehrt bewahren könnten: daß sie vom Herrn ebensowohl die Unterstützung desselben als die Schenkung erflehten. Wenn dieser in Petrus, um nicht zu schwinden, der Hilfe des Herrn bedürfte, wer wird dann anmaßend und blind genug sein, um zu glauben, daß er zu dessen Bewahrung nicht der täglichen Hilfe Gottes bedürfe, zumal der Herr selbst im Evangelium gerade das deutlich und ausdrücklich lehrt, indem er sagt: 145 „Wie der Rebzweig nicht Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn er nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt“? Und wieder: „Ohne mich könnt ihr Nichts thun.“ Wie thöricht und gotteslästerlich es also sei, von unsern guten Thaten Etwas unserm Eifer und nicht der Gnade und Hilfe Gottes zuzuschreiben, das wird auch klar bewiesen dadurch, daß sich der göttliche Ausspruch dagegen erbebt, nach welchem Niemand ohne Gottes Erleuchtung und Beihülfe geistige Früchte bieten kann. 146 „Denn jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk ist von oben und kommt herab vom Vater des Lichtes.“ Auch Zacharias sagt: 147„Wenn Etwas gut ist, so ist es von ihm, und das Beste kommt von ihm.“ Und deßhalb bleibt der hl. Apostel dabei: 148 „Denn was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfiengst, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“
17. Daß die Mäßigung der Versuchungen und die Ertragung derselben uns von Gott verliehen werde.
Daß auch die ganze Ausdauer, durch welche wir die einbrechenden Versuchungen ertragen können, nicht sowohl in unserer Kraft als in der Barmherzigkeit und Milderung Gottes gründe, lehrt der hl. Apostel in folgender Weise: 149 „Versuchung mag euch nicht befallen ausser menschliche; treu aber ist Gott, der euch nicht wird versucht werden lassen über euer Vermögen, sondern in der Versuchung den Ausweg schaffen wird, damit ihr sie aushalten könnt.“ Daß Gott auch unser Gemüth in passenden Stand setze oder stärke zu jedem guten Werk und in uns das wirke, was ihm wohlgefällig ist, lehrt derselbe Apostel: 150 „Der Gott aber des Friedens, der herausgeführt hat aus dem Schattenreiche den großen Hirten der Schafe im Blute des ewigen Bundes, Jesum Christum, er mache euch geschickt zu jedem Guten — indem er in euch thut, was wohlgefällig ist vor ihm.“ Das sucht er auch den Thessalonichern mit folgendem Gebet zu erlangen: 151 „Unser Herr Jesus Christus selbst aber und Gott unser Vater, der uns liebte und uns ewigen Trost gab und gute Hoffnung in der Gnade, ermahne eure Herzen und stärke sie in jedem guten Werk und Wort.“
18. Daß die Beständigkeit in der Furcht Gottes uns vom Herrn gegeben werde.
Daß endlich die Furcht Gottes, durch die wir fest an ihm halten können, uns vom Herrn eingegossen werde, bezeugt klar der Prophet Jeremias, der an Gottes Stelle so sagt: 152 „Und ich werde ihnen ein Herz und eine Seele geben, daß sie mich fürchten alle Tage, und daß es ihnen gut gebe und ihren Söhnen nach ihnen; und ich werde einen ewigen Bund mit ihnen schließen und nicht aufhören, ihnen wohlzuthun; und meine Furcht werde ich in ihr Herz legen, damit sie nicht abfallen von mir.“ Auch Ezechiel sagt: 153 „Und ich werde ihnen ein neues Herz geben und einen neuen Geist in ihr Inneres senden, und werde hinwegnehmen das steinerne Herz von ihrem Fleische und ihnen ein Herz von Fleisch geben, damit sie in meinen Geboten wandeln und meine Aussprüche bewahren und beobachten, damit sie mein Volk seien und ich ihr Gott!“
19. Daß der Anfang des guten Willens und seine Vollendung vom Herrn sei.
Durch all Dieß werden wir auf’s Klarste belehrt, daß sowohl der Anfang des guten Willens uns durch Gottes Einflößung gegeben werde, wenn er entweder durch sich oder durch die Ermahnung irgend eines Menschen oder durch Bedrängniß uns zum Wege des Heiles zieht: als auch, daß die Vollendung der Tugenden ebenso von ihm geschenkt werde, während es bei uns steht, der Ermahnung und Hilfe Gottes entweder lässig oder eifrig nachzukommen und uns dadurch Lohn oder gerechte Strafe zu verdienen. Haben wir ja doch entweder versäumt oder gestrebt, der Anordnung und Vorsehung, die er in gütigster Herablassung für uns traf, mit opferwilligem Gehorsam zu entsprechen. Das wird bestimmt und klar im Deuteronomium (= fünften Buch Moses) geschildert: 154 „Wenn dich der Herr dein Gott in das Land geführt haben wird, das du zu deinem Besitz betreten sollst, und wenn er vernichtet haben wird viele Völker vor deinem Angesicht, den Ethäer und Gergesäer, den Amorrhäer und Kananäer, den Pheresäer, Eväer und Jebusäer, sieben Völker, die viel zahlreicher und stärker sind als du, und wenn er sie dir hingegeben haben wird, so schlage sie bis zur Vernichtung und schließe kein Bündniß mit ihnen, noch vermische dich mit ihnen durch die Ehe!“ So erklärt es also die Schrift als Gnade Gottes, daß sie in das Land der Verheißung geführt werden, daß viele Völker vor ihrem Angesichte vernichtet werden, daß Nationen in ihre Hand gegeben werden von größerer Zahl und Kraft als das Volk Israel. Ob aber Israel dieselben schlage bis zur Vernichtung, oder ob es sie bewahre und schone, ob es mit ihnen Bündnisse schließe und Ehen eingehe oder nicht eingehe, das wird als ihm überlassen bezeugt. Durch dieses Zeugniß wird deutlich unterschieden, was dem freien Willen und was der Anordnung und täglichen Hilfeleistung des Herrn zuzuschreiben sei, und daß es Sache der göttlichen Gnade sei, uns die Gelegenheiten des Heiles, glückliche Fortschritte und den Sieg zu verleihen; daß es aber bei uns stehe, die verliehenen Wohlthaten Gottes eifrig oder träge zu benutzen. Dieses Verhältniß sehen wir auch bei der Heilung jener Blinden deutlich genug ausgedrückt; denn daß Jesus bei ihnen vorbeiging, ist Gnade der göttlichen Vorsehung und Herablassung; daß sie mit lautem Rufen bitten: „Erbarme dich unser, o Herr, du Sohn Davids!“ ist das Werk ihres Glaubens, während die Erlangung der Sehkraft wieder ein Geschenk des göttlichen Erbarmens ist. Daß aber auch nach Empfang einer jeden Gabe sowohl die Gnade Gottes als auch die Weise des freien Willens fortdaure, zeigt unter Anderm das Beispiel der zehn Aussätzigen, die auch geheilt wurden. Da von diesen Einer die Gabe seines freien Willens zur Danksagung benützt, zeigt der Herr, indem er nach den neun fragt und den einen lobt, daß er ein beständiges Augenmerk auf seine Hilfe habe auch denen gegenüber, die feiner Wohlthaten uneingedenk seien. Denn gerade das ist ein Geschenk seiner Heimsuchung, daß er entweder die Dankbaren aufnimmt und lobt oder den Undankbaren nachgeht und sie tadelt.
20. Daß Nichts in dieser Welt ohne Gott geschieht.
Wir müssen aber mit unerschütterlichem Glauben festhalten, daß durchaus Nichts in dieser Welt ohne Gott geschehe. Denn man muß zugeben, daß Alles entweder durch seinen Willen oder mit seiner Zulassung sich ereigne, so daß wir glauben, das Gute werde durch Gottes Wille und Hilfe vollendet, das Böse aber mit seiner Zulassung; da uns für unsere Bosheit und Herzenshärte der göttliche Schutz verläßt und uns der Herrschaft des Teufels oder der schändlichen Körpertriebe preisgibt. Darüber belehren uns auch ganz deutlich die Aussprüche des Apostels, wenn er sagt: 155 „Deßwegen überließ sie Gott schändlichen Leidenschaften.“ Und wieder: 156 „Weil sie nicht glaubten, Gott in der Erkenntniß zu haben, überließ sie Gott einem verkehrten Sinn, so daß sie Ungeziemendes thaten.“ Der Herr selbst sagt durch den Propheten: 157 „Es hörte mein Volk nicht auf meine Stimme, und Israel gab nicht Acht auf mich. Deßhalb ließ ich sie hin nach dem Wahne ihres Herzens und sie wandeln in ihren Truggebilden.“
21. Einwurf über die Macht des freien Willens.
Germanus: Diese Stelle liefert den deutlichsten Beweis von der Freiheit des Willens, da es heißt: 158 „Wenn mein Volk mich gehört hätte“ und: „Nicht hörte mein Volk auf meine Stimme.“ Denn da er sagt: „wenn es gehört hätte,“ zeigt er, daß es in seiner Macht gestanden wäre, sich für Einstimmen oder Nichteinstimmen zu entscheiden. Wie ist nun doch unser Heil nicht auf uns zu bauen, da er uns selbst die Fähigkeit zugestanden hat, zu hören oder nicht zu hören?
22. Antwort, daß unser freier Wille immer der Hilfe Gottes bedürfe.
Paphnutius: Ihr habt zwar das Wort: „wenn es mich gehört hätte“ genau angesehen; aber gar zu wenig habt ihr beachtet, wer der sei, der zu dem Hörenden oder nicht Hörenden redet, und ebensowenig das, was folgt: „Bis zum Nichts hätte ich sicher seine Feinde gedemüthigt, und auf seine Dränger hätte ich meine Hand gelegt.“ Es möge also Niemand das, was wir zum Beweise, daß Nichts ohne den Herrn geschehe, vorbrachten, in falscher Auslegung verdrehen und es zur Vertheidigung des freien Willens so aufzufassen suchen, daß er von dem Menschen die Gnade und tägliche Versorgung durch Gott trachte hinwegzunehmen, weil es heisse: „Und es hörte nicht mein Volk auf meine Stimme“ und wieder: „Wenn mein Volk mich gehört hätte und Israel gewandelt wäre auf meinen Wegen &c.“ Bedenke man doch vielmehr, daß einerseits allerdings die Fähigkeit zu freier Entscheidung durch den Ungehorsam des Volkes bewiesen wird, daß aber auch anderseits die tägliche Vorsehung Gottes für dasselbe sich zeigt, da er ja gleichsam laut rufend mahnte. Denn wenn er sagt: „Wenn mein Volk mich gehört hätte,“ so gibt er doch deutlich zu verstehen, daß er immerhin zuerst zu ihnen gesprochen habe, was der Herr nicht bloß durch Buchstaben im geschriebenen Gesetz, sondern auch durch die täglichen Ermahnungen zu thun pflegt, nach jenem Ausspruch des Isaias: 159 „Den ganzen Tag breite ich meine Arme aus nach dem Volke, das mir nicht glaubt, sondern mir widerspricht.“ Beides also kann bewiesen werden durch die Stelle, die da sagt: „Wenn mein Volk mich gehört hätte, wenn Israel gewandelt wäre auf meinen Wegen: so hätte ich zum Nichts wohl seine Feinde gedemüthigt und auf seine Dränger meine Hand gelegt.“ Denn wie die Freiheit durch den Ungehorsam des Volkes bewiesen wird, so wird das Walten Gottes und seine Hilfe durch den Anfang und das Ende des Verses ausgesprochen, da er versichert, einmal, daß er zuerst geredet habe, und dann, daß er die Feinde gedemüthigt haben würde, wenn man auf ihn gehört hätte. Wir wollen ja durch unsere Lehre nicht die Freiheit des Menschen wegbringen, sondern nur beweisen, wie nothwendig ihm jeden Tag und Augenblick die Hilfe und Gnade Gottes sei. — Nach diesem Unterricht entließ der Abt Paphnutius uns, die wir mehr zerknirscht als heiter waren, vor Mitternacht aus seiner Zelle. Wohl suchten wir die Vollendung der ersten Entsagung mit aller Anstrengung unserer Kraft durchzuführen; nun hatte er uns aber durch seine Unterredung beigebracht, daß, wenn wir glaubten hiedurch den Gipfel der Vollkommenheit erreichen zu sollen, wir von jetzt an erkennen müßten, wie wir noch gar nicht angefangen hätten, von den Höhen der Mönche auch nur zu träumen. Waren wir doch über die zweite Entsagung der Väter erst in den Klöstern unterrichtet worden und wußten, daß wir von der dritten, in der alle Vollkommenheit enthalten ist, und die jene zwei niedrigern so vielfach übertrifft, vorher nicht einmal Etwas gehört hätten!