Читать книгу 100 Jahre Österreich - Johannes Kunz - Страница 15
ОглавлениеZwei flüchtige Bekannte treffen einander zufällig auf der Straße. Es kommt zu diesem Dialog:
»Lieber Freund, neulich demonstrierten Sie mit den christlich-sozialen Gewerbetreibenden, gleich darauf mit den Sozialdemokraten, welche ist denn eigentlich Ihre Gesinnung?«
»Ich demonstriere immer mit der Partei, die im Recht ist, und im Recht ist immer die, die zuletzt demonstriert.«
Typisch für diese Zeit auch der Wortwechsel zweier Berufskollegen:
»Gestern habe ich einem Schweinekerl ein paar Ohrfeigen gegeben!«
»Ah, betätigst Du Dich jetzt auch politisch?«
Politische Versammlung in der Wiener Vorstadt.
Ein Redner: »Wir müssen abbauen, meine sehr Geehrten, alles abbauen, was morsch und faul ist in unserem Staate.«
Da meldet sich lautstark ein Zwischenrufer: »Machen S’ eahna ka ung’schaffte Arbeit, s’ fallt eh scho alles z’samm!«
Zu Beginn einer Gerichtsverhandlung fragt der Richter: »Sind Sie vorbestraft?«
Der Angeklagte: »Ja, ich habe die letzten drei Jahre in Österreich verbracht.«
Für immer mehr Menschen ist es schwer, das Nötigste für den Lebensunterhalt zu verdienen. So sagt man über Wiener Mädchen: Ihre Väter sind im Felde gefallen, sie auf der Straße … Skurril auch die Unterhaltung zweier Geschäftsleute:
»Na, was machen Deine Geschäfte?«
»Naja, weißt eh, ma zahlt ja jetzt dauernd drauf!«
»No, dann sperr’ doch einfach den Laden zu!«
»Und wovon soll ich leben?«
Das heutige Österreich, so sagt man in den 1920er-Jahren, ist ein Kompromiss zwischen Schleichhandel, Schlamperei und Anarchie. Dazu passt dieser Dialog sehr gut:
»Eine niederträchtige Gemeinheit, dieses Gesetz, das den Unternehmer zwingt, Arbeitslose in seinen Betrieb aufzunehmen. Wo bleibt da die persönliche Freiheit?«
»Was für einen Betrieb haben Sie denn?«
»Betrieb? Ich bin ein Arbeitsloser!«
Auch diese Unterhaltung entspricht dem Zeitgeist:
»Wenn man in Russland nicht arbeitet, kann man glatt verhungern.«
»Das ist in Wien genauso. Arbeitest nix, verhungerst, arbeitest, verhungerst a. Also fang ma glei gar net an.«
Ein Optimist und ein Pessimist begegnen einander.
Der Optimist: »Sag’ mir, warum bist Du denn ein so unverbesserlicher Pessimist?«
Der Pessimist: »Durch viereinhalb Kriegsjahre war ich Optimist und habe nicht recht behalten. Wer weiß – vielleicht werde ich mich jetzt auch blamieren.«
Die Pessimisten sind in der Mehrzahl in Österreich. Folgender Reim drückt diese Stimmung trefflich aus:
Gib, was Du hast! Sei guter Dinge
Und schufte Dir den Buckel krumm!
Dir bleibt ein Strick mit einer Schlinge
Zur Existenz als Minimum.
Mit dem Satz »Entweder Anschluss an Deutschland oder Kurzschluss in Österreich« beschreibt die »Muskete« das Dilemma des Rumpfstaates. Und im »Götz von Berlichingen« kann man lesen:
»Was hilft’s, wenn Optimisten
Vom Anschluss träumen?
Stets waren wir Spezialisten
Im Anschlussversäumen.«
Viele Menschen leben auf Pump, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Grün: »Sag’ Blau, wann wirst Du mir endlich Deine Schuld begleichen.«
Blau: »Wie soll ich das wissen? Bin ich a Prophet?«
Kohn und Rosenblatt sprechen über die finanzielle Situation. Rosenblatt hat ein Problem.
»Sag’, lieber Kohn, ich bin in einer Verlegenheit. Kannst Du mir aushelfen mit 5000 Schilling?«
»Dir gesagt, lieber Rosenblatt, ich bin flüssig, ich kann.«
»Was nimmst Du Perzente?«
»Neun.«
»Neun! Bist Du meschugge? Wie kannst Du nehmen von einem Glaubensgenossen neun Perzent! Was soll Gott denken von Dir, wenn er schaut herunter von oben?«
»Nebbich, wenn er schaut von oben herunter, sieht die Neun aus wie a Sechs!«
Die Verhältnisse sind schlecht und in solchen Zeiten haben die Gerichte viel zu tun.
Richter: »Was haben Sie für einen Beruf?«
Angeklagter: »Versammlungsredner.«
Richter: »Welcher Partei gehören Sie an?«
Angeklagter: »Der kommunistischen Partei.«
Richter: »Und da haben Sie es notwendig gehabt, einzubrechen und Ihre Mitbürger zu bestehlen?«
Angeklagter: »I hab’ halt auf eigene Faust mit dem Enteignen ang’fangen!«
Geht es der Wirtschaft schlecht, werden aus Banken Kaffeehäuser. Hier kann der Bürger bei einer Melange und der Lektüre der Tageszeitungen die Zeit totschlagen, Freunde treffen und auf die Politiker schimpfen.
Da stellt einer die rhetorische Frage: »Was ist der Unterschied zwischen einem Theater und dem Parlament? – Im Theater werden gute Schauspieler schlecht bezahlt …«
Und ein Zweiter fragt: »Was ist der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Telefonhörer? – Wenn man sich verwählt hat, kann man den Telefonhörer auflegen …«
Ein Dritter wirft ein: »Politiker sind wie Tauben. Wenn sie etwas wollen, fressen sie Dir aus der Hand. Wenn sie es haben, scheißen sie Dir auf den Kopf.«
»Ja«, bemerkt ein Vierter, »Windeln und Politiker müssen regelmäßig gewechselt werden – aus dem gleichen Grund.«
Aber nicht nur »einfache« Bürger, auch Intellektuelle und Literaten verlegen ihr Wohnzimmer in ein Kaffeehaus. Einer von ihnen ist Anton Kuh, der praktisch nie über seine Familie spricht. Nur einmal bekennt er auf eine insistierende Frage nach seiner Herkunft: »Ich war ein schlimmes Kind. Meinen Eltern habe ich nur ein einziges Mal Freude bereitet: neun Monate vor meiner Geburt.« Und so beschreibt Kuh die Stimmung in der k. u. k. Hofzuckerbäckerei Demel, wo nach wie vor ehemalige Angehörige der Hocharistokratie Stammgäste sind: »Die Demel-Fräulein gehören enger und inniger zur Hautevolee als der Xandi Kinsky, der Dolfi Starhemberg und der Taschkerl Auersperg. Sie tragen auf ihren schwarzen Blusen unsichtbare Erinnerungsmedaillons an Altösterreich. Dieses geliebte, unvergessliche Land findet hier die letzte kulinarische Ruhestatt. Wenn alles wankt – die Schwester Thesa bleibt beständig. Ihr Handkuss ist die spontanste und legalste Anerkennung des alten Regimes.«
Unter Literaten besonders beliebt ist seit jeher das Café Central in der Wiener Innenstadt. Alfred Polgar: »Das Café Central ist eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen.« Und für Friedrich Torberg gibt es im Café Central »keine Besucher, sondern Insassen«. Hier, im legendären Café Central, hat sich ein paar Jahre früher der 1919 verstorbene Peter Altenberg eines Tages bei einem Unbekannten einen Geldbetrag ausgeborgt. Seine Rechtfertigung: »Die Zeiten sind heutzutage schon so schlecht, dass man gezwungen ist, vor Leuten die Hand aufzuhalten, denen man sie im Normalfall nicht einmal reichen würde.«
Natürlich ist auch Karl Kraus häufig Gast im Café Central in den Jahren, in denen Prälat Ignaz Seipel die österreichische Politik dominiert. Von 1921 bis 1930 ist Seipel Parteiobmann der Christlich-Sozialen und zweimal, von 1922 bis 1924 und von 1926 bis 1929, Bundeskanzler einer Alleinregierung, nachdem die letzte Koalition 1920 zerbrochen ist. Karl Kraus: »Ich habe nichts gegen Seipel. Er hat für mich als Politiker den einen Fehler, dass er Priester ist, und als Priester, dass er Politik treibt.« Seipel selbst sagt einmal auf die Frage, wie er die Erfordernisse eines Politikers mit den Ansprüchen eines Professors der Moraltheologie vereinbaren könne: »Erstens sage ich weder in der Politik noch in meinen Vorlesungen alles, was ich weiß, und zweitens gibt es so vieles, was wir alle miteinander nicht wissen …«
Kritik an Ignaz Seipel begegnen Konservative mit dem Vorwurf: Was nicht rot ist, wird angeschwärzt. Dennoch richtet sich die Kritik vieler Menschen an die Christlich-Sozialen, die man als stärkste Partei als hauptverantwortlich für die Misere in Österreich ansieht. Dazu ein Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn:
»Nicht wahr, Papa, die Wörter ›Kopf‹ und ›Haupt‹ haben dieselbe Bedeutung?«
»Keine Spur, mein Sohn! Die christlich-soziale Partei hat zwar ein Haupt, ist aber kopflos!«
Freilich kommen die Sozialdemokraten nicht viel besser in der Volksmeinung weg, wie ein Gespräch bei einem familiären Mittagessen in der Provinz beweist.
»Was ist Wahrheit?«
»Wahrheit ist jede Lüge und Verleumdung, die sich gegen die Sozi richtet.«
»Was heißt also Lügen im Grunde genommen?«
»Lügen heißt im Grunde genommen, wenn man den Christlich-Sozialen etwas Schlechtes nachsagt.«
»Was heißt Lügen außerdem?«
»Lügen heißt außerdem, wenn man den Sozis etwas Gutes nachsagt.«
Insgesamt haben die Politiker aller Parteien ein sehr schlechtes Image. Scherze wie der folgende machen die Runde.
Minister: »Stellen Sie sich vor, in meiner Jugend wollte ich Räuber werden!«
Bürger: »Sie Glücklicher! Wer kann sich schon seinen Jugendtraum erfüllen!«
Zwei Politiker auf dem Weg zu einer Sitzung im Gespräch über ihre Agenda.
»Was sagten Sie neulich in Ihrer Rede zur Rentenreform?«
»Nichts.«
»Das ist mir klar, aber wie haben Sie es formuliert?«
Der kleinste gemeinsame Nenner der immer mehr auseinanderstrebenden Meinungen der frustrierten Österreicher besteht in den späten 1920er-Jahren in der Erkenntnis: Wenn’s so weitergeht, wird nix übrigbleiben zum Sozialisieren – als das Elend.
Mirko Szewczuk zeichnete die beiden führenden Sozialdemokraten Renner und Seitz, die von Abrüstung sprachen, während der rote Republikanische Schutzbund und die schwarze Heimwehr gleichzeitig große Waffenlager anlegten.
Der Jungsozialist Bruno Kreisky hat vor 1930 Parteiveranstaltungen in Niederösterreich zu organisieren. Zu dieser Zeit ist es in diesem Bundesland nahezu unmöglich, ein Versammlungslokal für die Sozialdemokratische Partei zu bekommen. Kreisky weiß aber Rat. Er gibt gegenüber einem Wirt vor, einen Vortrag über die legendäre Isonzo-Schlacht zu organisieren, und kann schließlich den Saal mieten. Am Abend der Veranstaltung erscheint General Theodor Körner. Er spricht ganze fünf Minuten über die Isonzo-Schlacht und legt in der Folge ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Sozialdemokratie ab. Nach der Rede Körners verschwindet Kreisky per Fahrrad. Der Wirt später zu diesem Vorfall: »Dass der Kreisky damals entkommen ist, ärgert mich noch immer …«
Der junge Bruno Kreisky ist neben seinem Jusstudium als freiberuflicher Journalist tätig. Einmal wird ihm vom Korrektor vorgeworfen, dass er es mit der Interpunktion nicht allzu genau nehme. Worauf Kreisky, als er wieder einmal ein Manuskript in die Setzerei bringt, eine voll beschriebene Seite beilegt, auf der sich ausschließlich Beistriche befinden. Und Kreisky sagt zum Korrektor: »Da haben S’ einen Haufen Beistriche. Machen S’ damit, was Sie wollen!«
Als Nachfolger von Jakob Reumann ist der Sozialdemokrat Karl Seitz ab 1923 Wiener Bürgermeister und bleibt das bis zu seiner Amtsenthebung und Verhaftung am 12. Februar 1934. Das »rote Wien« setzt wichtige Reformen in der Gesundheits-, Sozial-, Schul-, Wohnbau- und Finanzpolitik durch. Dieser Reim ist Karl Seitz gewidmet:
Vater unser, Sozi Seitz,
Der Du wie im Himmel
Herrscher bist in Wien
Bereits auf des Amtes Schimmel.
Wie ein Gott geheiligt
Werd’ Dein hoher Name,
Wer sich nicht beteiligt –
Hin sei der Infame!