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Millimetternich, der kleine Schwarze
ОглавлениеDr. Engelbert Dollfuß, der frühere Direktor der niederösterreichischen Landwirtschafskammer, wurde 1932 neuer Bundeskanzler. Ob seiner geringen Körpergröße erhielt er sogleich einen Spitznamen: Millimetternich. Wenzel Fürst Metternich, der einstige k. k. Außenminister, spielte nicht nur eine führende Rolle beim Wiener Kongress zur Neuordnung Europas, sondern stand auch für ein polizeistaatliches System mit Zensur und Spitzelwesen.
Am 30. Jänner 1933 kam Adolf Hitler in Deutschland an die Macht, was den österreichischen Dichter Franz Theodor Csokor zur sofortigen Abreise aus Berlin und der Bemerkung veranlasste: »Ich habe mir geschworen, für die Dauer dieses tausendjährigen Reiches meinen Fuß nicht mehr auf deutschen Boden zu setzen – und ich fühle dabei, dass ich das Ende dieser tausend Jahre überleben werde.« Er sollte Recht behalten, denn Csokor starb erst 1969, 24 Jahre nach Ende der Hitlerei, in Wien.
In Österreich traten nach einer stürmischen Parlamentsdebatte am 4. März 1933 alle drei Präsidenten des Nationalrates zurück. Dollfuß betrachtete das Parlament jetzt als ausgeschaltet. Der christlich-soziale Regierungschef begründete ein autoritäres Regime. Der Republikanische Schutzbund wurde verboten, an die Stelle der politischen Parteien trat die Vaterländische Front. Die Republik nannte sich nun einen »sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung.«
Erbitterte Gegner dieses Regimes waren die Nationalsozialisten und die Sozialdemoraten. Am 12. Februar 1934 kam es zu einem Aufstand der Sozialdemokraten, als die Polizei in der Linzer Zentrale des Schutzbundes nach Waffen suchte. Die Heimwehren, das Bundesheer und die Polizei stellten sich den Sozialdemokraten entgegen. Zwei Tage dauerten die Kämpfe, die auf Seiten der Exekutive 128 Tote und 409 Verwundete forderten. 137 Schutzbündler fielen und 399 wurden verletzt. Neun Anführer richtete man hin.
Ein paar Monate nach den Februar-Unruhen, am 25. Juli 1934, wurde Dollfuß im Verlauf eines nationalsozialistischen Putschversuches im Bundeskanzleramt von Otto Planetta ermordet. Und wieder folgten Kampfhandlungen. Diesmal war es die Österreichische Legion, ein Zusammenschluss von Nazis, die der Exekutive gegenüberstand. Der Putschversuch schlug fehl. Noch am späten Abend dieses Tages distanzierte sich Adolf Hitler von der Aktion. Der italienische Diktator Mussolini ordnete die Verlegung einiger Regimenter seiner Streifkräfte an die Tiroler und Kärntner Grenze zur Unterstützung Österreichs an.
Kurt von Schuschnigg wurde Nachfolger von Dollfuß. Ab 29. Juli 1934 regierte der Christlich-Soziale den austrofaschistischen Ständestaat. 1936 übernahm er auch die Führung der Vaterländischen Front.
Als sich im März 1933 das Parlament durch Rücktritt seiner Präsidenten selbst »ausschaltete«, begann Kanzler Dollfuß autoritär zu regieren.
Was macht Bundeskanzler »Millimetternich« Dollfuß, wenn er nachts nicht schlafen kann? – Unter dem Bett spazieren gehen.
Ein Herr bestellt in einem Wiener Kaffeehaus »einen Dollfuß«. Der Kellner fragt, was denn »ein Dollfuß« sei. »No, ein kleiner Schwarzer!«
Und als die Post eine Briefmarke mit dem Bild von Dollfuß herausbringt, reagieren die Menschen mit der spitzen Bemerkung: »Die Marke bildet den Kanzler in voller Größe ab.«
Was ist eine Dollfuß-Allee? – Eine Allee von gepflanzten Österreichern.
Kennen Sie die Definition von Hochverrat im Ständestaat? – Hochverrat liegt vor, wenn ein Österreicher mit einem anderen Österreicher über Österreich spricht.
Die Regierungsaktion »Nehmt hungernde Kinder zum Mittagstisch!« veranlasst die Österreicher zu dem Scherz, Heimwehrführer Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg habe eine Parallelaktion gestartet: »Nehmt frierende Mädchen ins Bett!«
Bundeskanzler Dollfuß wird zum lieben Gott gerufen, der ihn fragt: »Was ist denn los in Österreich? Allen Leuten geht es schlecht in Deinem Land.«
»Das ist nicht so, lieber Gott«, antwortete der Kanzler.
»Aber die Engel, die ich nach Österreich entsandt habe, erzählen mir, sie hätten das von den Menschen selbst gehört.«
»Aber lieber Gott, man darf doch nicht die Leute fragen. Radio Wien muss man hören!«
Die Nazis, die in Deutschland schon an der Macht sind und sich auch in Österreich immer stärker bemerkbar machen, provozieren die scherzhafte Frage: Was ist der Unterschied zwischen der Wüste Sahara und der NSDAP? – In der Sahara werden Kamele von Menschen geführt …
Eine prophetische Karikatur von Georges aus »The Nation«, New York, vom 5. April 1933
1933, im Jahr der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland, kursiert der folgende Vers über den »Führer«:
Vom Duce hat er die Montur,
Die römischen Allüren,
Von Marx die Kollektivnatur,
Die Lust am Nivellieren.
Am Staat, der über Leichen geht,
Ist Machiavelli beteiligt,
Und St. Ignatius Pate steht
Beim Zweck, der alles heiligt.
Da man die Attribute nicht
Von der Substanz kann trennen,
Was, frag ich, ist am großen Licht
Noch Original zu nennen?
Der Karikaturist Karl Prähäußer in der »Brennessel«, München, vom 19. Juli 1933 über die Erosion der Demokratie in der Weimarer Republik
Die Österreicher verfolgen natürlich genau, was sich im benachbarten Deutschland politisch abspielt. Großes Aufsehen auch hierzulande erregt der Brand des Berliner Reichstages in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, knapp einen Monat nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Ursache ist Brandstiftung. Die Konsequenz ist die Außerkraftsetzung wesentlicher Punkte der Weimarer Verfassung, um die brutale Verfolgung der politischen Gegner der NSDAP durch Polizei und SA betreiben zu können. Als am späten Nachmittag des 27. Februar 1933 ein Mitarbeiter des Nazibonzen Hermann Göring in dessen Büro stürmt und schreit: »Der Reichstag brennt!« blickt dieser auf die Uhr und fragt verwundert: »Jetzt schon?«
Im Mai 1933 findet in Berlin und anderen deutschen Universitätsstädten eine Verbrennung von Büchern jüdischer, marxistischer, pazifistischer oder anderer oppositioneller bzw. unliebsamer Autoren statt. »Aktion wider den undeutschen Geist« nennen die Nazis diese Aktion gegen Autoren wie Karl Marx, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, Heinrich und Thomas Mann. Ein paar Monate später proklamiert Julius Streicher, der Herausgeber des Nazi-Hetzblattes »Der Stürmer«, den Boykott jüdischer Geschäfte. Plötzlich bekommt er aus einer deutschen Kleinstadt ein Telegramm mit diesem Wortlaut: »sendet sofort juden stop sonst boykott unmöglich!«
Zu Beginn der Hitler-Ära fährt Itzhak Blumenthal von Wien nach Berlin, wo er bei einer Veranstaltung den hinkenden Propagandaminister erlebt. Wieder daheim, erzählt er seinen Freunden aufgeregt: »Stellt Euch vor, ich habe Goebbels gesehen. Er sieht aus wie Apoll …« »Bist Du wahnsinnig? Dieser mickrige Krüppel!« unterbricht ihn Rosenblatt.
»Lass mich doch ausreden! Er sieht aus wie a pol-nischer Jüd!«
Zu dieser Zeit erscheint in einem deutschen Amt ein Jude mit der Bitte, seinen Namen ändern zu lassen. Der Beamte sagt: »Auf Namensänderungen lassen wir uns im allgemeinen nicht ein, aber Sie werden wohl starke Gründe haben. Wie heißen Sie denn?«
»Adolf Pimpelhuber.«
»Also, da muss man schon Verständnis haben. Und wie möchten Sie heißen?«
»Moritz Pimpelhuber.«
Mitglieder der großbürgerlich-jüdischen Familien in Berlin bemühen sich nach der Machtergreifung der Nazis, ihren Besitz in wertvollen Antiquitäten anzulegen. Ein Kunsthändler macht einem reichen Bankier ein Angebot: »Herr Pfeffer, ich habe etwas ganz Besonderes für Sie: eine Totenmaske von Franz Liszt.«
Bankier Pfeffer betrachtet die Totenmaske ein, zwei Minuten lang und fragt schließlich: »Haben Sie so etwas nicht von Hitler?«
In der Nähe der Villa Mandelbaum bei München wird der Hund des Hausbesitzers von einem Auto überfahren. Es findet sich niemand, der sich getraut, dem Kommerzialrat Mandelbaum die schlimme Nachricht zu überbringen. Nur ein zufällig anwesender jüdischer Bettler erklärt sich bereit, gegen ein kleines Trinkgeld die Rolle des Informanten zu übernehmen. Nach zehn Minuten verlässt er die Villa Mandelbaum – mit einem großen Geldbetrag als Belohnung! Die herumstehenden Passanten fragen ihn verblüfft: »Wie haben Sie das bloß gemacht?«
Der Bettler gibt bereitwillig Auskunft: »Das war ganz einfach. Ich hab’ gesagt: Heil Hitler, der Hund ist tot!«
In Österreich, wo nach dem Nazi-Putschversuch und der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß der Antisemitismus auch offener zutage tritt, überlegen sich viele Juden, das Land Richtung Skandinavien oder England zu verlassen. Itzig steht am Kartenschalter des Wiener Nordbahnhofes, klärt und murmelt: »Soll ich fahren auf Krakau bloß, oder bis auf Przemysel?« Der Schalterbeamte wird ungeduldig: »Also, wird’s bald?!«
Daraufhin Itzig verärgert: »Sie, wer’n Se nicht unhöflich! Es gibt auch noch andere Bahnhöf’ in Wien!«
Theodor Körner, 1934 wie viele andere sozialdemokratische Politiker vom Ständestaat-Regime verhaftet, wird zwar freigelassen, aber unter polizeiliche Beobachtung gestellt. Dennoch gelingt es Körner, Kontakt zu Parteifreunden wie Adolf Schärf, Josef Afritsch oder dem jungen Bruno Kreisky zu halten. Er befolgt nämlich diesen Rat eines ihm wohlgesonnenen Kriminalbeamten: »Wenn Sie Ihre Freunde am Abend besuchen, dann ist das sehr verdächtig, weil wir wissen, dass Konspiration immer nach Einbruch der Dunkelheit betrieben wird. Am Nachmittag ist das ganze schon weniger gefährlich. In der Früh aber passt kein Mensch auf Sie auf.« Also arrangiert Körner seine Treffen stets am frühen Morgen …
Ein jüdischer Händler wird auf ein Wiener Finanzamt zitiert. Er will seine Steuern nicht zahlen und streitet mit dem zuständigen Referenten. Endlich schreit er erbost: »Warten Sie nur ab, bis die Nazis nach Österreich kommen!«
»Was?«, fragt der Finanzbeamte: »Und das sagen ausgerechnet Sie?«
»Na, warum nicht?«, triumphiert der Jude. »Soll ich Ihnen sagen, was wird stehen über dem Finanzamt? Wird stehen: ›Für Juden verboten!‹«