Читать книгу Unterirdisches Österreich - Johannes Sachslehner - Страница 17
ОглавлениеAmerikanischer B-17-Bomber „Flying Fortress“ im Einsatz über dem „Reich“.
II . Kapitel:
Die große Flucht vor den Bombern
„Die Stollen“, so schreibt der tschechische KZ-Häftling Drahomír Bárta, der im KZ Ebensee als Lagerschreiber überlebt, „wurden für die Häftlinge zu einem verfluchten Ort, vor dem jeder Angst hatte.“ Das Wort „Stollen“, so Barta, habe bei ihnen ein „größeres Unbehagen“ ausgelöst als das Wort „Steinbruch“; die SS habe um diese Angst gewusst und Häftlinge gezielt terrorisiert. Und diese gefürchteten Stollen, so hat man das Gefühl, sind spätestens ab dem Winter 1943/44 überall – in der ganzen „Ostmark“ beginnt in fieberhafter, ja verzweifelter Eile und unter Einsatz aller Kräfte, vor allem mit KZ-Häftlingen, die Arbeit an unterirdischen Anlagen: in Klagenfurt und Villach, in einem Kalksteinbruch bei Aflenz und in Peggau ebenso wie in Kapfenberg und in Ternitz, in Krems und Steyr, in Hallein und Innsbruck und auch in Bregenz. Wo nur irgendwie möglich, werden Berge und Hügel durchlöchert, Höhlen ausgebaut, Bunker betoniert, man sucht Schutz, will sich verkriechen vor den Bomben, nur unter Tage fühlt man sich noch sicher. Der Tod vieler Menschen wird dafür kaltblütig in Kauf genommen.
Wie kam es dazu? Schon 1943 ist die deutsche Luftwaffe nicht mehr in der Lage, die Angriffe der alliierten Bomberverbände entscheidend zu stören, geschweige denn zu verhindern. Dazu kommt, dass auch die deutsche Flugzeugindustrie in einer Krise steckt – man hat zum Teil auf falsche Flugzeugtypen gesetzt und ist mit der laufenden Produktion ins Hintertreffen geraten; gezielte Angriffe der Alliierten auf die wichtigsten Flugzeugwerke – etwa im August 1943 auf die Messerschmitt-Werke in Regensburg und die Wiener Neustädter Flugzeugwerke (Operation „Juggler“) – tun ein Übriges.
Nach der massiven alliierten Luftoffensive vom Februar 1944, der Big Week, in der 6.000 britische und amerikanische Bomber und 3.670 Jäger zum Einsatz kommen, verschärft sich die Situation weiter: 75 Prozent der Flugzeugzellen- und -endmontagewerke sind zerstört; das Reichsluftfahrtministerium ist nicht mehr in der Lage, die nun anfallenden Aufgaben – Wiederaufbau der zerstörten Anlagen, Steigerung der Produktion von Jagdflugzeugen und Untertagverlagerung der Flugzeugindustrie – alleine zu bewältigen: Reichsluftfahrtminister Hermann Göring, der einst großspurig verkündet hat, dass er „Maier“ heißen wolle, sollte sich ein alliierter Bomber über dem Reichsgebiet zeigen, braucht nun Hilfe und tatsächlich stehen zwei Helfer bereit, die allerdings auch ihren eigenen Vorteil suchen: Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der mit den KZ-Häftlingen über ein Heer von Arbeitskräften verfügt, und Albert Speer, der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion. Rasch zeigt sich, dass die Initiative an den dynamischen Planer und Organisator Speer übergehen wird. Am 1. März 1944 wird per Erlass Görings ein Krisenstab eingesetzt, der sogenannte „Jägerstab“; sein Vorsitzender wird Albert Speer. Ziel des Jägerstabs, der von Vertretern der beiden Ministerien, der SS und der Industrie gebildet und mit 1. August 1944 befristet wird, ist die Steigerung der Produktion von Jagdflugzeugen, nicht zuletzt möglich gemacht durch den Bau unterirdischer Fabriken. Speziell mit dieser Aufgabe betraut Speer den SS-Obergruppenführer Hans Kammler, der sich bereits beim Ausbau des „Mittelwerkes“ im Kohnstein für die V2-Raketenproduktion bewährt hat. Kammler soll einerseits die KZ-Häftlinge in den Produktionsprozess einbinden, andererseits in allen bautechnischen Fragen den Kontakt mit dem Rüstungsministerium halten – so will Speer verhindern, dass zu viel Macht und Einfluss im Flugzeugbau an die SS wandert. Die effiziente Arbeitsweise des Jägerstabs soll durch einen neuen Stil garantiert werden: „Ohne bürokratische Hemmungen“, nur durch „unmittelbare Befehlsgebung“ sollen die notwendigen Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Der Technokrat Hans Kammler ist der geeignete Mann dafür.
Rüstungsbetriebe werden unter Tag verlegt: Stollenanlage des Geheimprojekts „Syenit“ in Kapfenberg.
Geplant werden riesige „Großbunker“, auch „Jägerfabriken“ genannt, so das „Projekt Ringeltaube“, das den Bau von drei gigantischen unterirdischen Fabriken im Frauenwald bei Landsberg am Lech vorsieht. In die Planung des Jägerstabs fallen schließlich auch die Errichtung der unterirdischen Produktionsanlage „B8 Bergkristall“ in St. Georgen an der Gusen und der Bau von „Zement“ in Ebensee für die Raketenrüstung.
Die treibende Kraft ist Hitler persönlich, er drängt weiter energisch auf die Verlagerung der Rüstungsindustrie in Höhlen und „Großbunker“; Rüstungsminister Albert Speer ist lange skeptisch, denn Bomber, so sein Argument, könnten nicht mit Beton bekämpft werden, auch in „vieljähriger Arbeit“ könne man die Rüstung „nicht unter die Erde oder unter Beton“ bringen. Als Hitler auf dem Bau von „Großbunkeranlagen“ beharrt, schreibt ihm der gekränkte Speer, gegen den die Parteigrößen Göring, Bormann und Himmler heftig intrigieren, am 19. April 1944 einen Brief, in dem er noch einmal darauf hinweist, dass es „illusorisch“ sei, angesichts der allgemeinen Lage derart große Bauvorhaben zu beginnen, denn „nur mit Mühe“ könne „den primitivsten Anforderungen auf Unterbringung der deutschen werktätigen Bevölkerung, der ausländischen Arbeitskräfte und der Wiederherstellung unserer Rüstungsfabriken gleichzeitig entsprochen werden“. Für den Fall, dass Hitler nicht seiner Meinung sei, bitte er um seinen Rücktritt. Der „Führer“ zeigt sich zwar ungehalten über dieses Schreiben, spricht jedoch Speer sein Vertrauen aus, auch die Vertreter der Industrie drängen diesen zu bleiben – Speer bleibt Rüstungsminister und kehrt zurück in den engen Kreis um Hitler. In seinen Erinnerungen wird er später gestehen: „Trotz aller Bereitschaft zu resignieren, hätte ich nur ungern auf die Stimulans eines jeden Führungsrausches verzichtet.“ Hitler zeigt sich versöhnlich und akzeptiert auch die Ernennung von Speers Mitarbeiter Franz Xaver Dorsch (1899 – 1986) zum Leiter des Bausektors und zum Chef der „Organisation Todt“. Der schwäbische Bauingenieur Dorsch, ein Parteigenosse der ersten Stunde, ist damit auch für den Einsatz von Zwangsarbeitern im gesamten Reichsgebiet verantwortlich.
Konnte von den Häftlingen nicht mehr abgebaut werden: der stehen gebliebene Kern eines Gangabschnitts im Loosdorfer Fabriksstollen.
Insgesamt 20 Projekte des Jägerstabs werden der SS übertragen, es sind dies aufwändige Großbauvorhaben, für die SS-Obergruppenführer Hans Kammler eine eigene Organisation einrichtet, den „SS-Sonderstab Kammler“ mit Sitz in Berlin. Die 20 Bauvorhaben werden als A- oder B-Projekte definiert, wobei die Bauten der A-Gruppe bereits nach acht Wochen bezugsfertig sein sollen, bei den Projekten der Gruppe B handelt es sich um Bauten, die bis Ende 1944 fertiggestellt sein sollen. Dem „Sonderstab Kammler“ unterstehen vier regionale „Sonderinspektionen“, darunter auch die „Sonderinspektion IV Wien“, die für die Projekte B7 (= „Esche II“), B8 (= „Bergkristall“), B9 (= „Quarz“), B10 (= „Quarz II“) und „Zement“ in Ebensee zuständig ist. Jedes einzelne Projekt wird von einem „SS-Führungsstab“ betreut; das Gesamtvolumen ist gigantisch: Die Pläne des Jägerstabs von Ende Mai 1944 sehen die Schaffung von etwa 980.000 m2 bombensicherer Fertigungsfläche vor. Hans Kammlers ursprünglicher Plan, angesichts des extremen Zeitdrucks auch die zivilen Arbeitskräfte einer gleichsam militärischen Disziplin zu unterwerfen und eigene, für den Sonderstab Kammler tätige „Baukompanien“ zu schaffen, scheitert jedoch am Widerstand der Baufirmen, die befürchten, ihr Personal an die SS-Bauleitungen zu verlieren. So bleibt auch Kammler auf private Baufirmen und die Unterstützung der Bergbaubehörden angewiesen; zusätzlichen Handlungsspielraum bietet ihm einzig die Verfügungsgewalt über die KZ-Häftlinge, die er auch skrupellos ausnützt.