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Chaos im unterirdischen Labyrinth von St. Georgen an der Gusen.

I. Kapitel:
Das unterirdische Erbe

Die Stollenanlagen der NS-Zeit sind außergewöhnliche Objekte. „Nutzlose Immobilien“, die keine Rendite bringen, ja, Geld verschlingen, „kostenintensive Löcher“. Unsichtbare Räume unter den Straßen der Städte, dunkle Röhren, einst kompromisslos vorgetrieben in den Fels der Berge und die Sande der Hügel. Nicht sichtbar, aber doch gegenwärtig, lost places der Nazi-Diktatur, eng verwoben mit der Landschaft, vielfach nur wenigen Eingeweihten bekannt. Architektur der Angst bar jeder Annehmlichkeit und des Gefühls von Geborgenheit, reduziert auf ihre Schutz- und Versteckfunktion, unterirdische Landschaften, die uns von der Zeit des „totalen Krieges“ erzählen, von einer Welt, die kaum mehr bewohnbar war, in der es notwendig wurde, sich zu verkriechen, um zu leben, in der das Abnormale zur Normalität wurde.

Was der französische Philosoph Paul Virilio in seiner Bunkerarchäologie für die gigantischen Bunkerbauten des „Westwalls“ konstatierte, gilt auch für die Stollen: Sie künden von „der großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen“, die für die Endphase des Zweiten Weltkrieges so typisch wurde; sie sind „Spiegelbild der Kriegsindustrie“ und unsrer eigenen „Todesmacht“ und Destruktivität. Die „Kriegsmaschine“, sagt Paul Virilio“ mit Bezug auf die Bunkerbauten, ist der „Archetyp der industriellen Maschinen“, nirgendwo sonst manifestiere sich der „prometheische Wille so machtvoll wie hier“ – eine Feststellung, die auch für die NS-Stollenanlagen gilt: Sie sind geblieben als stumme Zeugnisse ungeheurer Versuche, unter den Bedingungen des Krieges Gegenwelten zu schaffen, in denen die natürlichen Bedingungen des Lebens in gewisser Weise überschritten werden: Hier gibt es weder Tag noch Nacht und hier hat das „unheilvolle Zauberspiel“ der Bombardements seine Macht verloren. Neben der Hoffnung existieren hier aber auch nackte Brutalität, Terror und Tod. Die SS-Leute wissen es und nützen dies mit kaltem Zynismus: Allein das Wort „Stollen“ löst bei vielen KZ-Häftlingen Angst und Schrecken aus; der Stollen wird zum Synonym für die Hölle schlechthin.

Ja, wer durch diese dunklen unterirdischen Gänge streift, gedacht einst als „Überlebensmaschinen“ (Paul Virilio) und letzte Rückzugsorte für wahnwitzige Rüstungsanstrengungen, wer innehält in der modrigfeuchten Stille, erhält tatsächlich so manche Antwort, mag etwas erspüren von der Verlorenheit und der Verzweiflung, die jene Menschen erfüllte, die hier Zuflucht vor den Bomben suchten, die hier unter den Peitschen und Tritten der Kapos für die „Wunderwaffen“ der Nazis schufteten.

Es ist wohl kein Zufall, dass die österreichische Gesellschaft lange Zeit die Begegnung mit diesen Orten scheute und selbst die Republik absolut nichts mit ihnen zu tun haben wollte – man ging dem Blick in den Spiegel, von dem Paul Virilio spricht, aus dem Weg, weil er schmerzhaft gewesen wäre. Er hätte sich nicht vertragen mit der Lüge, auf der man den neuen Staat erbaute: Der Blick auf die Stollen erinnert daran, dass Österreich keinesfalls hilfloses „Opfer“ des NS-Regimes war, sondern dessen Anhänger die Herrschaft des „Führers“ herbeisehnten und herbeibombten, die Aufnahme ins „Tausendjährige Reich“ begeistert feierten und im Gefolge der neuen Herren zu skrupellosen Mördern und Henkern wurden. Die NS-Stollenanlagen sind zu Mahnmalen dieser unbequemen Wahrheit geworden. Als Relikte des Dritten Reiches zeugen sie in Stein und Beton vom tödlichen Zynismus, mit dem die NS-Führung ihre pervertierte Ideologie bis in den Untergang verfolgte. Es waren Schicksalsorte für Zehntausende von Menschen, getränkt von Schweiß, Blut und Tränen, und sind heute zweifellos Orte der Erinnerung geworden, Plätze, die dazu beitragen können, dass sich aus dem beinahe instinktiven Impuls vieler Österreicherinnen und Österreicher zum „Nicht-Wissen“ (Wolfgang Sofsky) über die Nazi-Vergangenheit doch die Bereitschaft zum „Wissen“ herauskristallisiert. Denn das Wissen um jene ungeheuren Verbrechen ist eine Voraussetzung dafür, dass wir sie in Zukunft vermeiden können. So mag so manch Unsichtbares zu Sichtbarem werden, so manch Dunkles in das helle Licht des Nachforschens und Nacherzählens treten.


Stein und Beton zeugen vom tödlichen Zynismus des NS-Regimes: der Grillstollen in Hallein.

Unterirdisches Österreich

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