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Waldpolitik und Waldpatriotismus

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Tiecks Bearbeitung eines waldnahen Märchenmotivs in Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens (1800) ist gegenwärtig nur noch wenig bekannt, vor allem gegenüber späteren Versionen, etwa in den grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Schon bei Tieck verfiel die Protagonistin des auf eine französische Vorlage zurückgehenden Warnmärchens den Einflüsterungen des Wolfes. Hiernach erging sie sich abseits der Sicherheit des geordneten Weges in der scheinbaren Naturidylle des Waldes, die farbenprächtig beschrieben wurde: „Es lacht von rother Blüte der ganze Wald,/Von tausend Vögeln das ganze grüne Dickicht schallt.“76 Abweichend von Bearbeitungen anderer Autoren und näher an der stofflichen Vorlage schloss das Märchen in der tieckschen Fassung aber nicht mit der finalen Rettung. Stattdessen endete es mit dem Tod des Mädchens, das unvorsichtigerweise die unkontrollierbare Natur von Wald und Wolf unterschätzt hatte. Des Weiteren enthielt es im mittelbaren Zeitkontext der Französischen Revolution einen zumindest implizit gesellschaftskritischen Subtext, wenn etwa der Wolf als von der Gesellschaft Ausgestoßener erschien oder der Jäger sich mit Rotkäppchen ganz nebenbei über die politische Symbolfarbe Rot unterhielt.77

Der literarische Gegensatz von Waldnatur und Stadtleben akzentuierte sich demgegenüber deutlich im Briefroman William Lovell (1793–1796). Das seelenlose Leben der Vielen erschien den Korrespondenzpartnern kaum erträglich und wurde besonders eindrücklich am Beispiel der englischen Hauptstadt dargestellt – damals nicht nur für Tieck der Inbegriff einer industriellen Metropole mit katastrophalen Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen:

London kömmt mir, ohngeachtet der vielen Menschen, sehr einsam vor, meine Zimmer sind mir ganz fremd geworden, alles ist so eng und düster, man sieht kein Feld, keinen Baum; und wenn ich dagegen die reizenden Hügel und schönen Gebirge denke, an jene Seen und Wasserfälle, den dichten rauschenden Wald, und an das mannichfaltige Leben der Natur, so möchte ich gleich wieder umkehren, um dieses vielfach bewegte, aber todte Chaos wieder hinter mir zu haben.78

Das verlockende Gegenbild zur seelenlosen steinernen Großstadt war wieder ein idealisierter Wald als Zufluchtsort vor den Anforderungen von Beruf und Familie, von Gemeinschaft und Gesellschaft. Genauer gesagt, träumte einer der Briefpartner den Traum eines anspruchslosen und einsamen Landlebens nahe an und im Einklang mit der gütig verstandenen Natur von Baum und Strauch:

Itzt denke ich es mir so erquickend, in einer kleinen Hütte am Saume eines einsamen Waldes zu leben, die ganze Welt vergessend und auf ewig von ihr vergessen, nur mit der Erde bekannt, so weit mein Auge sieht, von keinem Menschen aufgefunden, nur vom Morgenwinde und dem Säuseln der Gesträuche begrüßt.79

Auch an dieser Stelle wiederholte sich bei Tieck in abgewandelter Form ein wichtiges Motiv der mittelalterlichen Epik, in der sich die Sphären von schirmend-einengendem Königshof und bedrohlich-anziehender Wildnis gegenübergestanden hatten.

Schließlich findet sich in Tiecks umfänglichem Gesamtwerk an zwei Textstellen ein unmissverständlich nationalpolitischer Waldbezug, der über ein nur stadtkritisches Unbehagen deutlich hinausging. So lieh der Dichter im emphatisch-patriotischen Gedicht An einen Liebenden im Frühling 1814 (1814) seine poetische Stimme den Eichbäumen: „Sieg und Freiheit blühn die Bäume,/Heil dir, Vaterland! Erschallt/Jubelnd durch die grünen Räume/Freiheit! Braust der Eichenwald.“80 Im Anschluss an Klopstock unter anderen bei Arndt längst zu Nationalsymbolen avanciert, zelebrierten diese Eichen als organische Verkörperung des Volkes und metaphorische Mitkämpfer gegen Napoleon den Sieg über die französischen Truppen.

Tiecks spätere Novelle Sommerreise (1834) enthielt autobiographisch gefärbte Passagen, die auf Eindrücke einer im Jahr 1803 unternommenen und im Tagebuch festgehaltenen Wanderung zurückgingen. Eine zentrale Rolle spielte darin die Wartburg, die Friedrich Schlegel bereits 1802 als waldumstandene Geschichtsikone nationalen Stolzes beschworen hatte.81 An diesem Ort vielfältiger ideeller Einschreibungen ließ Tieck einen seiner Protagonisten ehrfurchtsvoll eine den Deutschen eigene „Freude an der Herrlichkeit der Wälder“ proklamieren: Genau davor „graut dem Italiäner und die übrigen Nationen empfinden doch schwerlich jenes heilige Grauen oder jene feierlich andächtige Stimmung, die uns in Waldgebirgen oder im einsamen dunkeln Forst ergreift“.82 Solche Formulierungen behaupteten, anknüpfend an hergebrachte Nationalstereotype, ein erhabenes deutsches Baum- und Waldempfinden, dem die Naturwahrnehmungen anderer – vor allem romanischer – Völker unvorteilhaft gegenüberstanden. Allerdings verblieb Tieck noch in den patriotischen Argumentationsmustern seiner Zeit, während spätere Denkbilder eines deutschen Waldvolkes ab 1900 sich in rassischen Kategorien ausdrücken sollten.

Der deutsche Wald

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