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Einleitung

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Ende August 2012 berichteten Fernsehen und Printmedien bundesweit darüber, wie im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen ein junges Eichbäumchen des Nachts durch eine auf halber Höhe angesetzte Säge sein Ende gefunden hatte. Gepflanzt worden war es dort erst einige Tage zuvor, um anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 20. Jahrestag rassistischer Ausschreitungen als Friedenseiche ein Zeichen für Toleranz zu setzen.1 Eine solche mediale Resonanz erzeugte aber nicht die Tatsache der Baumzerstörung an sich, sondern erst das begleitende Bekennerschreiben einer selbsterklärten Arbeitsgruppe Antifaschistischer Fuchsschwanz.

Die anonymen Autoren kritisierten mit Verweis auf während der NS-Zeit gepflanzte Hitlereichen die lange Tradition dieses Baumes als „Symbol für Deutschtümelei und Militarismus“2, in die sich die Rostocker Pflanzaktion gestellt habe. Schon in den Tagen zuvor war die Baumartenwahl in Teilen der Presse kritisiert worden und bei einer Demonstration die Parole Fällt alle deutschen Eichen zu lesen gewesen. Überdies ließ sich ein Bezug zur Fällung einer Hindenburgeiche auf dem Tempelhofer Feld in Berlin herstellen, die Kommunisten wenige Wochen nach deren Pflanzung zum 1. Mai 1933 vorgenommen hatten.3

Als Historiker könnte man es hier damit bewenden lassen, das instrumentelle und dekontextualisierte Geschichtsverständnis eines rituellen Antifaschismus zu konstatieren. Indes sind die beschriebenen Ereignisse für diese Studie ein relevanter Beleg, dass die Eiche noch gegenwärtig eine botanische und sinnbildliche Baumspezies zugleich darstellt.4 Ein solcher bedeutungspolitischer Mehrwert war sowohl Initiatoren als auch Kritikern der kontrovers diskutierten Pflanzaktion geläufig: Während Erstere eine symbolpolitische Umcodierung zum Friedenszeichen vornehmen wollten, betonten Letztere die Beharrungskraft einmal erfolgter Sinnzuschreibungen. Den zugrunde liegenden Bedeutungsebenen von arborealen (baumbezogenen) und silvanen (waldbezogenen) Nationalsymbolen gehen die folgenden Ausführungen nach.

Im Hinblick auf die deutschen Denkbilder und Wahrnehmungen des Waldes ist eine kritische Auseinandersetzung mit deren Herkunft angezeigt.5 Vielschichtige Waldvorstellungen wirken bis in die Gegenwart hinein nicht nur handlungsleitend unter anderem für Förster und Ökologen, sondern beeinflussen zudem – wie am Beispiel der Rostocker Friedenseiche ersichtlich – gesellschaftliche Debatten und politische Entscheidungen. So entstammt etwa das Konzept der Nachhaltigkeit, das momentan mit seinem Ideal eines natürlichen Gleichgewichtes als sustainability die Klimaund Umweltpolitik weltweit dominiert, den Theoriedebatten der deutschen Forstwissenschaft seit dem 18. Jahrhundert.6 Jedoch erfolgt die aktuelle Verwendung vielfach ohne genauere Kenntnis des historischen Kontextes und des damaligen Begriffsverständnisses, das wesentlich auf ein ökonomisches Instrument zur Ressourcen- und Herrschaftssicherung hinwies – statt wie gegenwärtig auf einen ökologischen Handlungsmaßstab.

Die vorliegende Arbeit widmet sich einer von vielen möglichen Geschichten des Waldes: Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen ist hier explizit nicht die Rede von ökonomischen und ökologischen Funktionen der Waldnatur, kulturellen und sprachlichen Vorstellungswelten der Forstwissenschaft oder Waldwahrnehmungen und -nutzungen der breiten Bevölkerung.7 Vielmehr geht es im Sinne einer Ideengeschichte des Naturalen um die bisher wenig thematisierte Eigenschaft des Waldes als Projektionsfläche für kulturelle und politische Auffassungen, die weit über dessen eigentliche natural-botanische Bedeutungssphäre hinausweisen. Der Schwerpunkt liegt auf den Silvaimaginationen mit patriotischen und nationalen Bedeutungszuschreibungen, die später zunehmend nationalistische, rassistische und antisemitische Argumentationsmuster beinhalteten.

Dabei nimmt sich die Arbeit mit dem weltanschaulichen Werdegang des deutschen Waldes eines geschichtswissenschaftlichen Desiderates an. Akteure, Prozesse und Ziele identitätsstiftender Naturimagination werden in sieben Fallstudien untersucht, die zwischen den romantischen Beginnen um 1800 und dem Ende des nationalsozialistischen Regimes im Jahr 1945 angeordnet sind. Im Fokus stehen zunächst einflussreiche Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die mannigfache Verknüpfungen von Silvapoesie und Silvapolitik vornahmen. Darauf aufbauend, analysieren die letzten beiden Hauptkapitel zu Kaiserreich/Weimarer Republik und NS-Regime die Formierung silvapolitischer Denkbewegungen, in denen neben einer Vielzahl von Autoren auch Periodika und Organisationen zur Adaption wie Transformation älterer Waldvorstellungen beitrugen.

Über die genannten Eckdaten 1800 und 1945 hinaus widmet sich ein Prolog der Waldsphäre als naturnahen Chiffre kollektiver Identität zwischen der Antike und dem 18. Jahrhundert, während ein Epilog die Weiterentwicklung deutschen Silvadenkens bis in die westdeutsche Waldsterben-Debatte der 1980er-Jahre hinein thematisiert. Nachgestellt sind der Arbeit zwei Anhänge, die konzeptionelle, theoretische und quellenkritische Ausführungen bieten sowie den Forschungsstand in Form eines Literaturberichtes referieren. Letzterer erschließt zur schärferen Konturierung des Denkbildes deutscher Wald auch, welche imaginierten Landschaften, Nationalnaturen und Wälder in verschiedenen anderen Länderkontexten vor allem der Neuzeit zu beobachten sind.

Durch die gesamte Ideengeschichte des deutschen Waldes sind vielfache Rückgriffe auf waldanschauliche Traditionsbestände erkennbar, die in der Regel ungeachtet der ursprünglichen historischen Kontexte und für eigene tagespolitische Zwecke erfolgten. Da dies insbesondere für die jeweiligen Romantikbilder gilt, erfolgt zu Beginn eine detaillierte Ausarbeitung der um 1800 aufkommenden Denkmuster als Basis der darauf folgenden Analyse auf ihnen gründender Rezeptionen wie Modifikationen. Neben solchen Rückbezügen auf ältere Waldanschauungen finden sich bei den untersuchten Protagonisten ideengeschichtliche Parallelen, etwa in der verbreiteten Vorstellung einer Waldfeindlichkeit von Aufklärung und Revolution oder der von einigen Autoren versuchten Verknüpfung der Nationalnaturen von deutschem Wald und deutschem Rhein.

Die Auswahl der Analysegegenstände orientierte sich für die nur partiell quellenbasierten Abschnitte Prolog und Epilog an den Einschätzungen der Sekundärliteratur, für die Vorgeschichte zusätzlich an den nachherigen Rezeptionen in der Primärliteratur. Die im Detail zu untersuchenden Einzelakteure aus dem 19. Jahrhundert wurden auf Basis der Erwähnungsdichte in populären Anthologien und der Überblicksliteratur bestimmt.8 Dort sind primär folgende Autoren mit eigenen Waldtexten vertreten beziehungsweise als prägend für das zeitgenössische und/oder spätere Silvadenken beschrieben: nach Todesjahren geordnet zuerst Ludwig Tieck (1773–1853), dann Joseph von Eichendorff (1788–1857), Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Jacob Grimm (1785–1863)/Wilhelm Grimm (1786–1859) sowie zuletzt Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897).

Diese das deutsche Walddenken begründenden Akteure teilten Zeiterfahrungen, deren bestimmender historischer Kontext die unmittelbaren und mittelbaren Nachwirkungen der Französischen Revolution von 1789 waren: insbesondere die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, die weitgehende französische Kontrolle der deutschsprachigen Territorien bis zu den antinapoleonischen Kriegen 1813–1815 sowie schließlich die revolutionären Ereignisse von 1848/1849.9 Zeitnahe silvane Nationalbezüge finden sich zudem unter anderem bei diesen Autoren, die jeweils mit einzelnen Textstellen ergänzend in die Darstellung einfließen: Theodor Körner (1791–1813), Maximilian von Schenkendorf (1783–1817), Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und Friedrich Rückert (1788–1866).10

Allen Kapiteln stehen ausgewählte kritische Minderheitsäußerungen voran, um nicht den Eindruck eines vollkommen monolithischen Eichen- und Walddenkens aufkommen zu lassen. Eine solche Gegenstimme war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere Heinrich Heine (1797–1856), daneben August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) und Georg Herwegh (1817–1875). Darüber hinaus konnten für den Zeitraum um 1848 dem riehlschen Walddenken entgegengesetzte Stimmen direkt in die Analyse einbezogen werden, neben Karl Marx (1818–1883) auch damals prominente Autoren wie Ludwig Uhland (1787–1862) und Emil Adolf Roßmäßler (1806–1867). Vor den weiteren Kapiteln stehen in gleicher kontrastierender Absicht Zitate von Kurt Tucholsky (1890–1935), Bertolt Brecht (1898–1956) und Günter Eich (1907–1972).

Die gewählte Herangehensweise ist statt deduktiv explizit quellenzentriert, aber gleichwohl nicht beschränkt werkimmanent.11 Grundlage der Darstellung bildet damit die in Originalschreibweise zitierte Primärliteratur, während die Auseinandersetzung mit der Forschung in den Anmerkungen erfolgt.12 Zum einbezogenen Material gehören neben Gedichten, Märchen, Novellen und Romanen auch publizistische und wissenschaftliche Texte bis hin zu Aktenbeständen, Bildbänden, Filmen und Schulbüchern – im engeren Sinne forstliches Schriftgut findet nur Erwähnung, insofern es silvapolitische Zuschreibungen erkennen lässt. Als Gradmesser für die Resonanz der jeweiligen Waldvorstellungen dient deren Rezeption bei zeitgenössischen oder späteren Autoren, da quantitative Reichweitenanalysen mangels belastbaren Datenmaterials nicht möglich waren.

Mit der eingehenden Untersuchung des Denkbildes deutscher Wald leistet die vorliegende Studie einen Beitrag zur disziplinübergreifenden Ideengeschichte des Naturalen, die sich den mannigfachen ideellen Bedeutungsebenen von Natur und ihrem Einfluss auf Gesellschaft wie Politik widmet. Folgende Fragen stehen im Fokus des Forschungsinteresses: Wie begründeten deutschsprachige Poeten, Philologen, Publizisten und Propagandisten im 19. und 20. Jahrhundert kollektive Identität in einer vorgestellten Waldnatur? Welche historischen Kontexte beeinflussten jeweils die Konjunkturen dieses Denkens? Welche gesellschaftliche und politische Ordnung sollte die Berufung auf den Wald legitimieren? Welche Textgattungen und Publikationsformen dienten zur Verbreitung dieser Waldanschauungen? Und schließlich: Welche Affinitäten, Korrelationen und Divergenzen bestanden zwischen real existierender und kulturell imaginierter Natur?

Der deutsche Wald

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