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Traditionspolitik und Nationalsymbolik
ОглавлениеErst vergleichsweise spät wurde Eichendorffs politisches Denken seit den 1960er-Jahren zum Thema der damals entstehenden Sozialgeschichte der Literatur, da solche Kontexte für eine vorher dominante Germanistik der angewandten Werkimmanenz keine Rolle spielten.9 Auch sah ihn nicht nur die Öffentlichkeit, sondern ähnlich ein Teil der Forschung lange Zeit als weltfernen Dichter beschaulicher Idyllen. Eichendorff war jedoch als ausgebildeter Jurist und preußischer Beamter durchaus ein wacher Beobachter gesellschaftlicher Zustände, was sich thematisch aber weniger explizit als vielmehr poetisch verschlüsselt in seinen literarischen Werken niederschlug. Da er sich kaum zum abstrakten Theoretiker eignete, war sein Denken weit unstrukturierter als etwa das der politischen Romantik.10 Insgesamt lassen sich seine politischen Haltungen nur schwer mittels pauschaler Kategorien wie restaurativ kontra fortschrittlich einordnen, weswegen sich in der Literatur mehrheitlich differenzierende Einschätzungen finden.11 Das macht einmal mehr deutlich, wie ungeeignet plakative Lagerzuordnungen zur Verortung vielschichtiger Weltbilder sein können.
Eichendorff hatte – wie auch Tieck – ein ambivalentes Verhältnis zur Aufklärung, das kaum in einem einfachen Gegensatz wie romantisch versus aufgeklärt zu fassen ist. Für den gläubigen Katholiken Eichendorff war diese oft religionskritische Bewegung historisch gesehen nach dem Protestantismus eine weitere Stufe der Entkirchlichung.12 Die für ihn überschätzten aufklärerischen Werte von Rationalität und Individualität wollte er zugunsten einer wahrhaftigen katholischen Aufklärung zurücknehmen. Vergleichbar kritisch war seine Einstellung gegenüber der Französischen Revolution von 1789, die zunehmend gewaltsam mit zahlreichen Traditionen brach. Obwohl erst ein Jahr vor diesem epochalen Geschichtsereignis geboren, sollte die Revolution zu einer sein Denken und Leben bestimmenden Begebenheit werden.13
Die Beseitigung seiner Ansicht nach überlebter politischer und gesellschaftlicher Zustände beurteilte er bei aller Ablehnung der Gewaltexzesse als letztlich unvermeidlich. Indes verwarf er die konkreten Forderungen und Handlungen der französischen Revolutionsbewegung als zutiefst unchristlich und gleichmacherisch. Aus geschichtsphilosophischer Perspektive für prinzipiell richtig hielt er die vorhergegangene Amerikanische Revolution von 1776, die sich ohne blutige Radikalisierungen im Inneren vollzogen und nicht gegen die Religion gerichtet hatte. Auch begleitete Eichendorff die Revolution von 1848/1849 anfangs noch mit Sympathie, da er sich von ihr eine dringend notwendige Belebung des erstarrten gesellschaftlichen und politischen Lebens erwartete.14 Wenngleich er partielle Reformen innerhalb der bestehenden Strukturen begrüßte, lehnte er tiefgreifendere Gesellschaftsveränderungen als Traditionsbruch explizit ab. Ebenso hielt der Adlige an der legitimen Herrschaft seines Standes fest, den es allerdings angesichts der Auswüchse des abstrakt herrschenden Absolutismus sittlich zu reformieren gelte.15
Gleichermaßen auf der Tradition beruhte Eichendorffs Einstellung gegenüber den rasanten Veränderungen der (Proto-)Industrialisierung. Diesen wollte er wie Tieck nicht sozioökonomische, sondern ethische Maßnahmen zur Besserung der Lebensverhältnisse entgegensetzen. Sein gesellschaftliches Idealbild war seit der Jugend der Landsitz eines verantwortungsbewussten und sparsamen Adels, dem arbeit- wie fügsame Untertanen freudig dienten. Vor diesem Hintergrund bereitete ihm eine wahrgenommene Tendenz zur Entwurzelung der Menschen infolge der Landflucht zunehmend Sorgen. Allerdings fehlte ihm das Verständnis für Werte und Maßstäbe des entstehenden kapitalistischen Besitzbürgertums, die ihm zeitlebens fremd blieben. Zuletzt resultierte aus Eichendorffs politischen Grundüberzeugungen auch ein Unbehagen gegenüber der Stadt, die für ihn viele der kritisierten Entwicklungen verkörperte.16 Gleichwohl arbeitete und lebte er überwiegend in Städten wie Berlin, Breslau oder Königsberg, die für damalige Verhältnisse vergleichsweise groß waren. Die Mehrzahl seiner Gedichte und Novellen nahm jedoch kaum auf den bürgerlichen Lebensraum Stadt mit seinen als geist- und mutlose Philister verspotteten Bewohnern Bezug, sondern verherrlichte das ungezwungene Wandern in freier Waldnatur.
Eichendorffs nationales Denken war wie bei vielen seiner Zeitgenossen einer Entwicklung unterworfen, die die historischen und politischen Konstellationen reflektierte: von der preußischen Niederlage gegen Napoleon 1806 und der Zeit der französischen Vorherrschaft bis hin zu deren Ende in den Kriegen von 1813 bis 1815.17 Während dieser politisch bewegten Zeit schlug sich seine Nationalbegeisterung auch in auf den ersten Blick scheinbar unpolitischen Werken nieder. Nachdem sich Eichendorff anfänglich vor allem mit seiner schlesischen Heimat identifiziert hatte, folgte die verstärkte Suche nach einer nationalen Identifikation über die deutsche Sprach- und Kulturgemeinschaft. Jedoch gehörte der Dichter anders als etwa Arndt nicht zum radikalen Kern der publizistischen Nationalbewegung. So waren Eichendorffs Vorstellungen von der deutschen Nation kaum antijüdisch konnotiert, gleichermaßen enthielt er sich überwiegend des Gebrauchs abwertender Stereotype über andere Völker.18
Biographisch prägenden Eindruck hinterließ 1806 die Einnahme seines damaligen Studienortes Halle durch französische Truppen. Zunehmend deutlichere Konturen bekam Eichendorffs nationale Identitätssehnsucht durch den engen Kontakt mit dem Philologen und Publizisten Joseph Görres (1776–1848) in Heidelberg während der Jahre 1807 bis 1808.19 Dort befasste sich Eichendorff mit den volkstümlichen Aktivitäten der Sagensammler Arnim und Brentano, die für den Dichterstand eine tragende Rolle bei der versuchten Wiederbelebung angenommener Volksüberlieferung beanspruchten. In diesem Zusammenhang plädierte er später entschieden dafür, einige fremdsprachige Literaturen als Ausdruck der Wertschätzung „nach unserer deutschen Berg- und Waldes-Weise“20 zu adaptieren. Weiteren Auftrieb erhielt Eichendorffs Nationaldenken 1810 in Berlin, wo er Überblicksvorlesungen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) besuchte.
Im selben Jahr begann Eichendorff mit der Arbeit an dem unvollendet gebliebenen Stück Hermann und Thusnelda (1811/1812) über das national und silvan aufgeladene Thema der Schlacht im Teutoburger Wald, das kurz zuvor auch Arndt literarisch inspiriert hatte.21 Dabei befasste sich Eichendorff intensiv mit dem germanisch-römischen Konflikt, den er in patriotischer Absicht auf die Auseinandersetzung mit Frankreich bezog. Schließlich meldete er sich 1813 freiwillig für den Kampf gegen Napoleon und wurde Infanterist bei den Lützower Jägern unter dem Kommando von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852). Eichendorff diente dort bis 1815, nahm aber entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch aus logistischen und taktischen Gründen nicht direkt an den Kämpfen teil.22
Entsprechend der wechselhaften historischen und nationalen Entwicklungen, schwankte sein nationales Empfinden zwischen Hoffnung und Frustration. Nach den enttäuschten Einheitserwartungen der Kriege gegen Napoleon sah Eichendorff größtenteils wieder von explizit nationalpolitischen Stellungnahmen ab, womit eine generell wachsende Distanz zum Zeitgeschehen einherging.23 Vereinzelt kam er später jedoch wieder auf dieses Themenfeld zurück, etwa in seinem heroischen polenfeindlichen Trauerspiel Der letzte Held von Marienburg (1830) über die mittelalterliche Geschichte des Deutschritterordens.24 Eine im amtlichen Auftrag entstandene Denkschrift Eichendorffs widmete sich einige Jahre später der Frage, inwiefern ein Wiederaufbau dieser schwer beschädigten Burg möglich sei.25
Ebenso war er im Vorstand des Berliner Vereines für den Kölner Dombau aktiv, der die Fertigstellung dieses als nationales Symbol verstandenen Kirchenbaus vorantreiben sollte.26 Zunehmend wandte er sich jedoch im Vormärz gegen die deutschtümelnden Aktivitäten einzelner ehemaliger nationaler Weggefährten. Für ihn stand fest, dass ohne katholische Besinnung durch Rückkehr der Menschen zum Glauben jegliche nationale Anstrengung von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Eichendorff distanzierte sich daher von der Denkschule der politischen Romantik, die das ursprüngliche Ziel nationaler Einheit zunehmend zugunsten einer partikularen Fürstenherrschaft und einer schwärmerischen Mittelalterverehrung aufgegeben hatte. Die radikaleren Teile der Nationalbewegung kritisierte er wegen deren bisweilen bemühter Liturgie der Fahnen, Feste, Lieder und Märsche, aber auch für die – in seinen eigenen Worten – „hohe Vaterländerei“27 einer oft allzu obsessiven Beschwörung glorreicher Vergangenheit. So verweigerte sich ausgerechnet der Sänger des deutschen Waldes zumindest außerhalb seiner Poesie der Sehnsucht nach einer Rückkehr in die germanische Waldheimat.