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Waldursprung und Waldwandlungen

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Noch gegenwärtig meistgelesen im grimmschen Gesamtwerk sind die von ihnen gesammelten und herausgegebenen Kinder- und Hausmärchen (1812/1815), die erstmals während der patriotisch bestimmten Jahre der Auseinandersetzung mit Frankreich erschienen.65 Über 40 Jahre lang erweiterten und redigierten die Brüder als Kompilatoren dieses Textkorpus für insgesamt sechs weitere große Ausgaben. Angesichts dessen sind die Märchen in der vorliegenden Form nicht als Ausdruck einer anonymen Volksüberlieferung zu verstehen, sondern als Endergebnis zahlreicher inhaltlicher, sprachlicher und stilistischer Überarbeitungen.66 Im Laufe der Zeit übernahm der jüngere Bruder Wilhelm immer mehr Verantwortung für Textgestaltung und Stilfindung, bis er 1819 faktisch zum alleinigen Herausgeber wurde. Der aktuelle Forschungsstand widerspricht dabei deutlich seinen diesbezüglichen Beteuerungen, „kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden“67.

Besondere Bedeutung kommt im Bezug auf derartige Änderungen dem retrospektiven Vergleich der letzten Ausgabe zu Lebzeiten 1857 mit der Erstausgabe von 1812/1815 sowie mit der Handschrift von 1810 zu. In einem solchen synoptischen Variantenabgleich lassen sich die Autorintentionen der Brüder am deutlichsten herausarbeiten, unter anderem angesichts der evident politischen Zeitkontexte der ersten Versionen.68 Das Motiv des Waldes trat im Kontext dieser Märchen in ganz verschiedenen Zusammenhängen auf, etwa als Handlungsort, Stimmungsträger oder Traditionssphäre.69 Schon in seinem Vorwort zur Erstauflage rechnete Wilhelm Grimm die „Wälder in ihrer Stille“70 unter die letzten Rückzugsräume, die der Volksüberlieferung angesichts eines erbarmungslosen Vordringens der modernen Zivilisation in die bäuerliche Lebenswelt noch geblieben seien. Ihm zufolge handelte es sich dabei insbesondere um die „altberühmten Gegenden deutscher Freiheit“71 wie beispielsweise die Paderborner Region in der Nähe des Teutoburger Waldes.

Ferner pries er die erhabene „Waldes Einsamkeit“ in den vermeintlich von Bauern, Köhlern und Spinnfrauen erzählten Geschichten, die er ausdrücklich als „rein deutsch und nirgends her erborgt“ verstand.72 Indes kannten die Brüder über den deutschen Fall hinaus sehr wohl die Märchenüberlieferung des europäischen Raumes, in der sich viele ähnliche Motive und Themen sowie gegenseitige Beeinflussungen finden lassen. Deshalb enthielt der Titel der Sammlung im Gegensatz zu zahlreichen anderen ihrer Veröffentlichungen etwa zu Mythologie, Sagenwelt und Sprachgeschichte nicht das Adjektiv deutsch. Gleichwohl schlossen sie allzu deutliche Übernahmen aus dem französischen Kulturraum später wieder aus, sodass beispielsweise die Texte Blaubart oder Der gestiefelte Kater nur in der ersten Auflage enthalten waren.73

Obwohl bereits in der Erstausgabe die Hälfte der knapp 160 Texte einen Waldbezug aufwies, bat Wilhelm Grimm brieflich explizit um Zusendung weiterer Märchen und Sagen „von Bergen und Wäldern, alten Schlössern und dergl.“74 In der wissenschaftlichen Einführung zur zweiten Auflage der Märchen 1819 äußerte er frohlockend, „welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natürliche Mensch gewiss einmal gesehnt hat!“75 Schließlich enthielt in der siebenten Auflage von 1857 wieder fast die Hälfte der nun 200 Texte solche Märchenwälder, von denen 33 im Laufe der Editionsgeschichte neu dazugekommen waren, als passiven Handlungsort oder aktiven Handlungsträger. Viele dieser Wälder hatten seit der ursprünglichen Handschrift von 1810 durch kontinuierliche und teils erhebliche Überarbeitungen immer dichtere, dunklere und größere Formen angenommen.76

Dergleichen adjektivische Charakterverschiebungen dienten in Bezug auf die Waldnatur dazu, als Gegenbild zur geordneten und lichten Forstordnung die Handlung weiter zu dramatisieren und emotionalisieren. Somit gaben die Brüder Grimm eine in der Poesie der Romantik verbreitete Doppeldeutigkeit des Silvanen zwischen lieblichen und schaurigen Waldlandschaften, wie sie sich noch bei Tieck und Eichendorff offenbarte, vollkommen zugunsten letzterer Form auf. Die wiederkehrende Betonung des Düsteren und Bedrohlichen ging deutlich über die europäische Märchentradition des meist lediglich großen Waldes hinaus und machte insofern eine deutsche Besonderheit aus.77 Einige dieser Änderungen nahm Wilhelm Grimm schon ganz zu Anfang vor, als er die zugrunde liegende Handschrift der Märchensammlung für die anstehende Publikation weit mehr als nur editorisch bearbeitete.

Im König Droßelbart beispielsweise war die Königstochter zuerst noch durch einen einfachen Wald gezogen, der schon 1812 einem „großen Wald“78 gewichen war. Ähnlich hatte sich dann der Aufenthaltsort von Rumpelstilzchen sowie von Fuchs und Hase stillschweigend in einen „dunkelen Wald“79 verwandelt. Bei dem mittlerweile fast unbekannten Stück Von Johannes-Wassersprung und Caspar-Wassersprung, das nur in der Erstausgabe enthalten war, dramatisierte Wilhelm Grimm die zuvor undefinierte silvane Umgebung zu einem „Wald in der größten Einsamkeit“80. Einige seiner Märchenwälder fügte er schließlich in vorher gänzlich waldfreie Geschichten ein, wie etwa beim Variantenvergleich von Allerlei-Rauh oder dem später unter dem Namen Sterntaler figurierenden Märchen Das arme Mädchen zu beobachten ist.81 Aber auch nach der Ausgabe von 1812/1815 unternahm er weitere Überarbeitungen der dargestellten Baumnatur, die deren düsteren Eindruck noch verstärken sollten.

Zeigen lässt sich dies besonders gut an dem noch gegenwärtig populären Märchen Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich, das die umfängliche Sammlung eröffnete. Während in der ersten Ausgabe die Königstochter mit ihrer Goldkugel am Rande eines Brunnens noch schlicht im „Wald“ gesessen hatte, war daraus zuletzt ein „großer dunkler Wald“ als weltabgewandtes Gegenbild zur Sphäre des Schlosses geworden.82 Zudem ergänzte Wilhelm Grimm das Szenario symbolträchtig mit einer „alten Linde“83, der in der deutschen literarischen Tradition besondere kulturelle Bedeutung als zweiter Symbolbaum neben der Eiche zukam. Vergleichbares geschah im Marienkind, wo sich ein vorher nicht näher spezifizierter Baum im Handexemplar der Brüder Grimm auf wundersame Weise zu einem „großen Eichenbaum“84 auswuchs. Dramatisierende Stilisierungen des wilden Silvanen finden sich auch in den modifizierten Versionen zum Beispiel von Mädchen ohne Hände oder Sneewittchen – Letzteres wurde später unter dem Titel Schneewittchen veröffentlicht.85

Anderenorts schrieb Wilhelm Grimm nach der Erstausgabe im Rahmen seiner Überarbeitungen noch weitere Wälder als Handlungsorte in vorher waldlose Szenen hinein. In dem weniger bekannten Märchen Fitchers Vogel etwa verschleppte in der Version von 1857 ein mörderischer Hexenmeister Jungfrauen zu seinem Haus mitten im „finstern Wald“86, während von solch einer Waldumgebung des Grauens anfangs noch keinerlei Rede gewesen war. Auch ließ Wilhelm Grimm in Die sechs Schwäne die böse Hexe einem auf der Jagd verirrten König in späteren Auflagen drohen, „so kommt ihr nimmermehr aus dem Wald“87 – dies eine Anspielung auf das ihm vertraute Waldgespräch Eichendorffs, in dem die Baumnatur als feminin konnotierte Sphäre der Verführung wie Bedrohung erschien. Doch schon vor solchen nachträglichen Dramatisierungen hatten Wälder im deutschen Märchenschatz traditionell eine bedeutende Rolle gespielt, die sich auch bei den Brüdern Grimm zeigte.

Der deutsche Wald

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