Читать книгу Der deutsche Wald - Johannes Zechner - Страница 42
Waldprüfungen und Waldabwege
ОглавлениеAls handlungsbestimmende Gegenwelt statt nur als Handlungsort hatte der Wald seinen Auftritt in einem knappen Viertel der Kinder- und Hausmärchen, gezählt nach der im Folgenden zitierten siebenten Auflage von 1857.88 Generell hatten Landschaftskontexte großen Einfluss auf die jeweiligen nationalen Ausformungen der Märchen, die im deutschen Falle besonders waldnah erschienen.89 Jedoch kamen märchentypisch kaum Details der stereotypisch dunklen und wilden Wälder zur Sprache, was auch für die Gestalten des Märchens galt: Dort waren die Mädchen adjektivisch stets als jung und schön beschrieben, die Hexen hingegen als alt und böse.90 Es zeigen sich gemäß dem grundsätzlichen Textcharakter der Märchen kaum Unterschiede zwischen Laub- und Nadelwäldern, wie grundsätzlich die materiellen Aspekte der Natur gegenüber den mentalen deutlich zurücktraten. Nur einige herausgehobene und handlungsrelevante Bäume wurden in meist späteren Ergänzungen nach der Konvention deutscher Naturlyrik explizit als Eichen oder Linden benannt.91
Generell erschien der Wald als temporärer Aufenthaltsort für die aus fast allen Ständen stammenden Protagonisten, die oft an seinem Rande wohnten beziehungsweise in ihm als hochwohlgeborene Königssöhne der Jagd frönten oder als bettelarme Holzfäller ihr Brot verdienten.92 Angesichts der dort herrschenden bedrohlichen Grundstimmung blieb diesen keine Zeit für einen emotional aufgeladenen Naturgenuss, wie ihn etwa Tieck oder Eichendorff so wortreich beschworen hatten. Allerdings war die alltagsferne Sphäre unter Bäumen keineswegs gänzlich unbewohnt, sondern bevölkert von einem vielfältigen verwunschenen Ensemble. Neben hilfsbereiten Zwergen, verzauberten Menschen und sprechenden Tieren konnte man zum Beispiel gefährlichen Drachen, bösartigen Hexen oder Hexenmeistern und gewalttätigen Riesen begegnen.93
Vielfach auf Motive der mittelalterlichen Epik und der romantischen Poesie verweisend, verkörperten die märchenhaften Wälder der Grimms einen deutlichen Kontrast zur geregelten Menschenwelt von Dorf, Residenz und Stadt. Sie erschienen als numinos zeitenthobene Räume, wo verirrte oder verzauberte Helden vor ihrer Rückkehr mannigfache Prüfungen gegen phantastische Wesen bestehen mussten.94 Ein großer Teil etwa der Geschichten von Das tapfere Schneiderlein, Jorinde und Joringel oder Der Eisenhans war in diesem Sinne wesentlich von der silvanen Umgebung sowie den dort lebenden und wirkenden Geschöpfen bestimmt.95 Die Handlung von insgesamt sieben Märchen – zum Beispiel Schneeweißchen und Rosenrot oder Der gläserne Sarg – spielte sich gleichsam vollständig in einer schattigen Gegenwelt unter Bäumen ab.96
Drei Märchen der letzten Ausgabe zu Lebzeiten der Brüder Grimm präsentierten den Handlungsort gut erkennbar für das Lesepublikum bereits im Titel: Die drei Männlein im Walde, Das Waldhaus sowie Die Alte im Wald.97 In den ersten beiden Geschichten stellten übernatürliche oder verhexte Wesen das Verhalten von aus ihrer gewohnten Umgebung gerissenen jungen Mädchen auf die Tugendprobe, ehe diese entweder belohnt oder bestraft aus dem einsamen Wald in die menschliche Lebenssphäre zurückkehren konnten. Das letzte Märchen schilderte einen von Räubern wie Mördern bevölkerten großen Wald und einen darin zum Baum verhexten Königssohn, der nach seiner Rückverwandlung und Rückkehr in die Welt die ihn rettende Magd dankbar zur Ehefrau nahm. Damit fungierte die Silvasphäre als außeralltäglich konnotierter Raum der Bedrohung mit dem Potenzial der Bewährung respektive Erlösung, wie es auch in weiteren grimmschen Märchen der Fall war.
So begann Hänsel und Grethel als eines der bekanntesten Märchen der Sammlung bereits mit einem Verweis auf den Wohnort der Protagonisten direkt „vor einem großen Walde“98. Das titelgebende Geschwisterpaar wurde von seinen Hunger leidenden Eltern in einem geheimnisvollen „Hexenwald“99 ausgesetzt, wo es ganz auf sich gestellt eine Bewährungsprobe bestehen musste. Letztlich konnten Das Brüderchen und das Schwesterchen – so der Titel des Märchens noch in der Ausgabe von 1812 – der bösen Hexe entkommen und mit einem Vermögen in die Welt zurückkehren. In der von den Brüdern Grimm benutzten Urfassung war allerdings noch nicht von der fröhlichen Rückkehr aus dem Wald die Rede gewesen und die Hexe weit weniger böse beschrieben worden.100 Ebenso machte der mehrfache Vater Wilhelm Grimm im Einklang mit seinem harmoniebedürftigen Familienverständnis aus der ursprünglichen Mutter der Kinder deren Stiefmutter. Daneben wies sein imaginierter Wald eine weit stärkere magischschaurige Komponente auf, als dies bei motivisch verwandten Geschichten aus der französischen und englischen Tradition der Fall gewesen war.101
In einem weiteren immer noch populären Märchen gefährdete Rothkäppchen – später unter dem Titel Rotkäppchen – neben dem Leben der Großmutter ihr eigenes, weil sie sich in das gefährliche Territorium der wilden Baumnatur locken ließ. Während schon die als Vorbild dienende französische Variante des Märchens dort spielte, findet sich die Gestalt des um Rettung bemühten Jägers erst in den deutschen Bearbeitungen. Die grimmsche Version war – wie bei den hier nicht behandelten Stoffen Blaubart und Der gestiefelte Kater ebenfalls anzunehmen – von der früheren Bearbeitung durch Tieck beeinflusst, worauf sie selbst philologisch korrekt im Anmerkungsapparat verwiesen.102 Das titelgebende Mädchen mit der auffälligen Kopfbedeckung kam erneut vom rechten Wege ab und wurde vom bösen Wolf zum Blumensammeln verleitet. So hatte dieser einen Vorsprung zum Haus der Großmutter „unter den drei großen Eichbäumen“103, wo er die Alte verspeiste und anschließend auf die Enkelin wartete. Zum glücklichen Ende der Bewährungsprobe und des Warnmärchens schwor das Mädchen in später Einsicht, „du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen“104. In den Märchen erschien die silvane Sphäre damit als bedrohliche und alles andere als idyllische Gegenwelt, in der den menschlichen Protagonisten kein dauerhafter Aufenthalt zu wünschen war. Der imaginierte Wald der Brüder Grimm war aber nicht nur düster-märchenhaft, sondern ebenso ausgeprägt metaphorisch angelegt.