Читать книгу Schildkröte und Lyra - John Scheid - Страница 10
Vom Gegenstand zur Geschichte Die Kuhhaut
ОглавлениеNoch bevor wir überhaupt diese Parallelen zu Gernets Perspektive und Schlussfolgerungen erkannten, war unser Ansatz zunächst vor allem von einem anderen Faktor geprägt gewesen: der schon 1984 von uns durchgeführten Analyse der Geschichten rund um die Gründung Karthagos.10 An einem bestimmten Punkt hielten wir es für notwendig, die altvertraute Beziehung neu zu hinterfragen, die traditionell zwischen den beiden Kernelementen der Sage hergestellt wird: auf der einen Seite der „Kuh- oder Stierhaut“ (griechisch byrsa), die Königin Elissa in feine Streifen schnitt, und auf der anderen Seite dem Eigennamen der Zitadelle: Byrsa. Die Sage ist uns vertraut: Elissa – auch unter dem Namen Dido bekannt – kommt aus Nordafrika zu König Iarbas und bittet ihn um so viel Land, wie eine Stierhaut „enthalte“ (tenere). Das sagt ihr der König umgehend zu, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass tenere zugleich „bedecken“ und „umfassen“ bedeuten kann. Die Königin zerschneidet die byrsa in dünne Riemen, legt sie hintereinander und erhält so ein weit größeres Gebiet als dasjenige, das dem König vorgeschwebt hatte. Und deshalb, so die Quellen, erhielt die Stadt – die spätere Zitadelle von Karthago – den Namen Byrsa. Mit anderen Worten: Zwischen dem Gegenstand (der Stierhaut) und dem Namen der Stadt bestand der Überlieferung nach eine kausale Beziehung: Der Eigenname Byrsa erinnerte in der Rückschau an die Gründungsgeschichte der Stadt.
Genau dieses kausale Verhältnis kehrten wir um. Auf die Methodik werden wir weiter hinten in diesem Buch noch im Detail eingehen. An dieser Stelle möchten wir es damit bewenden lassen, dass uns der Gedanke kam, ein nichtgriechischer Name der Stadt – Bosra oder ähnlich – könnte für griechische Ohren wie das vertraute byrsa geklungen haben, was dazu führte, dass man der Stadt eine Gründungsgeschichte andichtete, in der es um eine solche Stierhaut geht. So gesehen würde nicht der Eigenname Byrsa an die Gründung der Stadt erinnern, sondern er hätte im Gegenteil den Anstoß zum Gründungsmythos gegeben, der seinerseits erst im Nachhinein die Vorstellung weckte, der Name der Stadt sei besonders passend gewählt.
Diese Art, das Verhältnis zwischen der Bezeichnung des symbolisch befrachteten Gegenstands und der Geschichte, die er „generiert“ (ins Leben ruft) zu rekonstruieren, bezeichneten wir als generativ, jedoch ohne die Bedeutungskomponenten, die dieser Begriff in der Sprachwissenschaft umfasst. Wir verwenden das Adjektiv generativ im Sinne einer Generierung, Genese, Ausarbeitung oder Erzeugung. Gemeint ist die Erzeugung von Sagen ebenso wie von Bildern und Ritualen bis hin zu deren Auslegung. Das symbolträchtige Wort byrsa bildet so gesehen den Ausgangspunkt für die erwähnte Gründungsgeschichte. Dabei kommt auch zum Tragen, dass zwischen Städten und Rindern ohnehin grundsätzlich eine Verknüpfung bestand, da man in Griechenland ebenso wie im römischen Reich besonders bei Stadtgründungen Ochsen opferte.11 Erst vor diesem Hintergrund erhält die der Stierhaut zugeschriebene Rolle ihre Tragweite. Der Mythos der byrsa basiert unserer Meinung nach auf den symbolischen Assoziationen, die sowohl in der griechischen wie in der römischen Kultur zwischen „Stierhaut“ und „Stadt“ bestanden. Die Stierhaut ist identisch mit der Stadt, könnte man den Mythos zusammenfassen. Der gleiche Mythenkreis lag zum Beispiel auch den athenischen Dipolieia zugrunde, bei denen man den Balg des geopferten Ochsen mit Heu ausstopfte und aufrecht hinstellte.12 Die gedankliche Verknüpfung zwischen Stierhaut und Stadt war so gängig, dass sie auch im Aufbau der Elissa-Sage eine mytho-logische Aktivität im engen Sinn bedingt, insofern, als aus dem Mythos heraus eine Geschichte entsteht. Als Matrizen für die Entstehung dessen, was wir als Mythen und Sagen bezeichnen, dienen also im Grunde nicht die Geschichten als solche, sondern diese vorher schon vorhandenen symbolischen Verknüpfungen.
Ein weiteres, beinahe zufällig ausgewähltes Beispiel bildet das Bassarai-Fragment. Aischylos schildert darin die Umstände, unter denen Orpheus zu Tode kommt: Erbost über Orpheus‘ Vertrautheit mit Apollon als größtem der Götter, schickte Dionysos dem unvorsichtigen Dichter die Bassariden (Mänaden), die ihn Pseudo-Eratosthenes zufolge „in Stücke rissen und seine mele in alle Winde zerstreuten. Die Musen sammelten sie wieder auf und bestatteten sie an einem Ort namens Leibethra.“13 Mit anderen Worten: Orpheus wird von Dionysos‘ Mänaden zerstückelt, doch anschließend sammeln die Musen seine Glieder wieder auf; was sie sammeln, nennt die Sage seine mele, doch bedeutet melos (Plural mele) nicht nur ‚Körperteil‘, sondern auch „Gesang, Melodie, Gedicht“. Diese zweite Bedeutung wird in dem Moment, in dem die Musen eingreifen, auf subtile Weise unweigerlich reaktiviert, denn wenn die Göttinnen des Gesangs die Körperteile des ermordeten Sängers wieder aufsammeln (synagagousai) und bestatten, dann sammeln und bestatten sie zugleich seinen Gesang, indem ihn und seine Lieder sozusagen in Form einer Anthologie vereinen. Wenn nämlich die Göttinnen des Gesangs seine melē aufsammeln, denkt man unweigerlich an seine Musik, und das umso mehr, als es sich bei den in Frage stehenden melē um diejenigen eines berühmten Musikers und Musensohns handelt. Kern der Erzählung ist insofern der Doppelsinn des Wortes melos. Offensichtlich wurde sie sogar wegen dieser Doppeldeutigkeit formuliert und diese effizient genutzt. Es ist schwer vorstellbar, dass die zweifache Bedeutung von melos erst im Nachhinein durch denjenigen entdeckt worden wäre, der die Geschichte als Erster erzählte, selbst wenn es so wirkt, als gewähre die griechische Sprache dem Erzähler diesen besonderen Bonus. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Verknüpfung von Bedeutungen, in diesem Fall ‚Körperteil‘ und ‚Gesang‘, auch diesmal als Ausgangspunkt für den Aufbau des mythischen Berichts diente.
Einige Jahre nach diesen Erkenntnissen schrieben wir in unserer Einleitung zu Métier de Zeus: „[…] Wir sahen schließlich den Mythos nicht als Geschichte, sondern einfach als Verknüpfung, als Konkatenation von Kategorien. Diese Konkatenation erst schafft innerhalb einer bestimmten Kultur die Möglichkeit, ihre eigenen Mythen und Sagen, Bilder und Rituale zu erzeugen. So gesehen ist die Beziehung zwischen Geschichte, Bild und Ritual, die nunmehr gleichrangig sind, keine Spiegelung mehr, sondern eine Verwandtschaft. Sie vermittelt den jeweiligen Dokumenten eine Familienähnlichkeit, die auf einer solchen Verknüpfung von Kategorien beruht, die wir als Mythos bezeichnen. Innerhalb einer Kultur bleibt dieser Mythos relativ stabil, besonders dann, wenn er sprachlicher Natur ist.“14