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Die generative Poesie Valérys

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Wir selbst halten die Kenntnis der Sprache, in der ein Mythos ausformuliert wurde, jedenfalls weder für unwichtig noch für nebensächlich, ganz im Gegenteil: Unser Standpunkt lautet zum Teil gerade, dass man Mythen aus Wörtern und nicht aus Ideen macht, in Anlehnung an Stéphane Mallarmé,33 der ja postulierte, der Dichter überlasse „die Initiative den Wörtern“, und folglich werde ein Gedicht aus Wörtern und nicht aus Ideen gemacht.

Zur Verdeutlichung kann man sich vorstellen, wie dieser Ablauf bei einem Poeten aussieht, der in Reimen dichtet: Soll das gereimte Werk als Ganzes einen Wert haben, muss der Dichter gut vorbereitet sein. Diese Idee findet sich auch besonders prägnant ausformuliert in Valérys Cahiers:

(…) Ein Gedicht wie Hérodiade ist von den Wörtern aus gearbeitet und von den Bedingungen, wie sie die Reime vorgeben, die Kontraste bei Wörtern und Klängen, die Überraschungen. Die Gedanken sind innerhalb dieser Ordnung zu suchen.

Herrliches Gegenteil von Eloquenz. Die Bewegung der Rede verläuft abseits, in den Adern des reich verzweigten Gebildes, inmitten dieser Vielfalt.

Künstlich, weil der gewöhnlichen Redeerzeugung entgegengesetzt; natürlich, weil in tieferer Übereinstimmung mit den Gesetzen, nach denen sie zusammengefügt und zu einem Gebäude aufgeführt werden.34

Paraphrasieren wir die Aspekte dieser Notiz, die sich auf unsere Vorgehensweise beziehen: Der Dichter drückt nur diejenigen Gedanken aus, die ihm die Wörter, mit denen er arbeitet, selbst suggerieren oder anbieten – dies im Gegensatz zum ‚Redner‘, der für bereits vorhandene Ideen angemessene Formulierungen finden muss. Für uns ist bedeutsam, dass Valéry hier den Begriff „Erzeugung“ (génération) verwendet: die „gewöhnliche Redeerzeugung“ verläuft in der Richtung der Eloquenz, die von den Ideen ausgeht und deren adäquaten sprachlichen Ausdruck sucht. Valéry hingegen meint eine entgegengesetzte Richtung der „Redeerzeugung“, bei der man vom Wort ausgehend zur Idee gelangt. Derselbe Gedankengang findet sich auch in einer anderen Notiz:

Der Versuch Mallarmés, mittels der Worte, von den Worten aus zu schreiben – wo doch der allgemeine Modus der ist, trotz der Worte, gegen die Worte zu schreiben, und sich ihrer zu bedienen, ohne sie überhaupt wahrzunehmen, die Aufmerksamkeit für den Gegenstand und für das Ergebnis anzusetzen (so wie man die Stimme ansetzt) – dergestalt, dass sehr viel mehr der Gegenstand durch das literarische Verfahren hervorgebracht werden sollte als umgekehrt, dass dieses die wichtigste Rolle übernehmen […] sollte […].35

Wie dieses Zitat zu Erkennen gibt, ist das „literarische Verfahren“ (l‘opération littéraire), das Valéry für eine Erfindung Mallarmés hält, mutatis mutandis das, was wir das ‚mythische Verfahren‘ nennen. Der mythische Bericht wird nämlich gerade nicht „trotz der Worte“ oder „gegen die Worte“ erstellt, sondern im Gegenteil aus und mit Worten. Erst das ‚mythische Verfahren‘ erzeugt seinen Gegenstand, sei es eine Sage, ein Ritual, ein Bild oder eine Auslegung.

1 Detienne, Marcel, „L’olivier: un mythe politico-religieux“, in: M. Finley (Hg.), Problèmes de la terre en Grèce ancienne, Paris und Den Haag 1973, S. 293.306; Nachdruck in: L’écriture d’Orphée, Paris 1989 („Un éphèbe, un olivier“), S. 71–84.

2 Plutarch bestätigt dies eindeutig in den Tischgesprächen, 723 F.

3 Scheid, John, u. Jesper Svenbro, The Craft of Zeus. Mythos of Weaving and Fabric, Harvard, 1996, S. 172–173, Fr. 11–12. Vgl. Scheid, John u. Jesper Svenbro, Le Métier de Zeus. Mythe du tissage et du tissu dans le monde grécoromain, Paris (La Découverte) 1994, S. 11, Anm. 11; Neuaufl. Paris (Errance) 2003, S. 11, Fn. 13.

4 Vgl. Annuaire EPHE, Section sciences religieuses, Bd. 103, 1994–1995, S. 273–276; Bd. 104, 1995–1996, S. 311–318. Siehe auch Svenbro, J., „Syloson’s Cloak and Other Greek Myths“, in: Des Bouvries, S. (Hg.), Myth and Symbol I. Symbolic phenomena in ancient Greek culture. Papers from the first international Symposium on Symbolism at the University of Tromsø, June 4–7, 1998, Bergen 2002, S. 275–286.

5 Gernet, Louis, „La notion mythique de la valeur en Grèce ancienne“, in: Journal de Psychologie 41, 1948, S. 415–462. Nachdruck in: Anthropologie de la Grèce antique, Paris 1968, S. 93–137.

6 Lévi-Strauss, Claude, „The Structural Study of Myth“, in: Journal of American Folklore, 68, 1955, S. 428–444. Die von Lévi-Strauss selbst angefertigte französische Fassung „La structure des mythes“ bildet Kapitel XI der Anthropologie structurale, Paris 1958, S. 227–255 (dt. Die Struktur der Mythen, in: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M. 1977, S. 226–254).

7 Gernet, op. cit., S. 100. Vgl. Di Donato, R., „On the men of ancient Greece“, in: Comparative Criticism 5, 1983, S. 337–338.

8 Scheid u. Svenbro, op. cit., S. 9–10 (Neuaufl. S. 8–9).

9 Gernet, op. cit., S. 104; Hervorhebung durch d. A.

10 Scheid, John, u. Jesper Svenbro, „Byrsa. La ruse d’Elissa et la fondation de Karthago“, in: Annales ESC, 40, 1985, S. 328–342.

11 Vgl. Vian, Francis, Les origines de 1hebes. Cadmos et les Spartes, Paris 1963, S. 79 ff.

12 Porphyrios, Über die Enthaltsamkeit vom Beseelten, II, 30.

13 Orphicorum Fragmenta. Hrsg. von Otto Kern Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1922. Nachdruck: Weidmann, Hildesheim 42005, 113 (Pseudo-Eratosthenes).

14 Scheid u. Svenbro, op. cit., S. 10 (Neuaufl. S. 8–9).

15 Vernant, Jean-Pierre, u. Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne, Bd. 1, Paris 1972, S. 113.

16 Vernant u. Vidal-Naquet, op. cit., S. 114.

17 Vernant, Jean-Pierre, u. Pierre Vidal-Naquet, „Le Tyran boiteux: d’Œdipe à Périandre“, in: Le temps de la réflexion, II, 1981, S. 227–255, Nachdruck in: Vernant, Jean-Pierre, u. Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne, Bd. 2, Paris 1986, S. 45–77.

18 Vernant u. Vidal-Naquet, Mythe et tragédie, Bd. 2, S. 45.

19 Platon, Politeia, VII, 53jd.

20 Vernant u. Vidal-Naquet, Mythe et tragédie, Bd. 2, S. 50.

21 Masciadri, Virgilio, Eine Insel im Meer der Geschichten. Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos, Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, Bd. 18, Stuttgart 2008, S. 17f., 38–111 u. 37of. Die Erstfassung dieser Untersuchungen erschien als französische Habilitationsschrift zur Erlangung des Diplôme post-doctoral an der Ecole Pratique des Hautes Etudes (EPHE) in Paris mit dem Titel Mélampous et la langue des animaux: contribution à l’étude de la mythologie grecque, Paris 2001.

22 Archilochos, Fragment 13 in der Ausgabe von Lasserre (= Fragment 5 in der Ausgabe von West).

23 Sophokles, Philoktet, 667–670.

24 Servius, Kommentar zur Aeneis, III, 402.

25 Chantraine, Pierre, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, unter ktaomai, S. 590–591.

26 Strabon, Die Geografie, VI, 1, 3.

27 Vernant, Jean-Pierre, «Ambiguïté et renversement. Sur la structure énigma-tique d’Œdipe-Roi’“, in; Échanges et Communications. Mélanges offerts à Claude Lévi-Strauss 2, Paris 1970, S. 1253–1279 (Nachdruck in: Vernant, Jean-Pierre, u. Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie, Bd. 1, Paris 1972).

28 "Le Tyran boiteux: d’Œdipe à Périandre“, in: Le Temps de la réflexion, 2, 1981, S. 235–255 (Nachdruck in: Vernant, Jean-Pierre, u. Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie, Bd. 2, Paris, 1986).

29 Detienne, Marcel, L’invention de la mythologie, Paris 1979.

30 Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie (1958), Bd. I, Frankfurt a. M.(Suhrkamp TB) 1977, S. 23of.

31 Lévi-Strauss, Claude, Mythologica IV. Der nackte Mensch. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1975, S. 756f.

32 Usener, Hermann, Götternamen. Versuch einer Lehre der religiösen Begriffsbildung (1896), Frankfurt a. M. 31948.

33 Mallarmé, Stéphane, Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch, München (DTV, durchges. Aufl.) 2007. Die Formulierung „den Wörtern die Initiative überlassen“ (céder l’initiative aux mots) steht in dieser Ausgabe auf S. 285 („[das Hinwegtreten] des Dichters, der die Initiative den Wörtern überlässt“).

34 Valéry, Paul, Cahiers/Hefte, Bd. 6, Frankfurt a. M.(Fischer) 1993, S. 191f. Hervorhebung d. d. A.

35 Valéry, ebd., S. 240.

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