Читать книгу Schildkröte und Lyra - John Scheid - Страница 8

Einleitung Plädoyer für eine generative Mythologie Der Ausgangspunkt: Der Mythos vom Olivenbaum

Оглавление

Vor vierzig Jahren veröffentlichte Marcel Detienne eine Studie, die sich mit dem ‚Mythos des Olivenbaums‘ beschäftigte, genauer gesagt mit den zahlreichen Darstellungen dieses Baums zunächst in Athen, später aber auch in anderen Teilen der griechischen Welt, etwa in der kretischen Stadt Dreros.1 Vor allem in Athen steht der Olivenbaum im Schnittpunkt wirtschaftlicher, religiöser und politischer Aspekte: Er spielt eine wichtige Rolle für die athenische Wirtschaft, ist auf das Engste mit der Schutzgöttin der Stadt (Athene) verknüpft und hat zudem eine politische Konnotation – nicht nur wegen der Maßnahmen, mit denen die Stadt ihre Ölbäume hegte und pflegte, sondern auch auf einer tieferen Bedeutungsebene wegen seiner legendären Langlebigkeit, die den Ölbaum ebenso unsterblich machte wie die Stadt selbst.2 Dadurch, dass er den Olivenbaum als einzelnes Objekt zum Ausgangspunkt machte und im Zuge seiner Analysen wieder und wieder auf ihn zurückkam, entwickelte Marcel Detienne einen völlig neuen Ansatz, dessen Neuheit allerdings seinen Lesern nicht sofort auffiel, weil sie zunächst mehr damit beschäftigt waren, sich in den zahllosen ungewohnten Vergleichen zurechtzufinden, mit denen Detiennes Untersuchung sie konfrontierte. Immerhin konnte er belegen, dass ein materieller Gegenstand für sich allein einen ‚Mythos‘ darstellen kann, und rief damit weiterführende Fragen zum eigentlichen Wesen des Mythos auf den Plan. Verfolgt man die Perspektive weiter, die Detiennes Studie mit ihrer, wie wir heute wissen, äußerst innovativen Methodik eröffnete, tritt ein Mythos nämlich gar nicht zwangsläufig in Gestalt einer ‚Sage‘ in Erscheinung, die man traditionell als den Stoff ansieht, aus dem ‚Mythologisches‘ besteht. Ein Mythos kann sich vielmehr in einem einzelnen, schlichten Gegenstand verdichten, der quasi seinen harten Kern, sogar seine Matrix bildet. Ist ein solcher Mythos ohne jede narrative Dimension jedoch überhaupt vorstellbar? Diese Frage stellte sich zur damaligen Zeit offenbar niemand.

Marcel Detiennes Artikel diente uns 20 Jahre später in unserem gemeinsamen Buch Le Métier de Zeus [Das Handwerk des Zeus] als ein Ausgangspunkt für unsere Studie über Mythen rund um das Weben.3 Schon der von uns in der französischen Ausgabe gewählte Untertitel Mythe du tissage et du tissu [Mythos der Weberei und des Gewebes] sollte verdeutlichen, dass der Blickwinkel unserer Überlegungen analog zu dem von Detiennes Artikel gedacht war. Anstatt beispielsweise die Protagonistin des ‚Arachne-Mythos‘, eine Weberin aus Kleinasien, in den Mittelpunkt der Analyse der mythischen Erzählung zu stellen, entschieden wir uns, in allgemeiner und zugleich konkreter Form die Mechanismen zu untersuchen, die einen materiellen Gegenstand – in diesem Fall das beim Weben erzeugte Gewebe – zum Status eines ‚Mythos‘ erheben, ähnlich wie Detienne es in seiner Studie zum Ölbaum-Mythos vorgegeben hatte. Aus demselben Blickwinkel unternahmen wir anschließend eine ganze Reihe von Untersuchungen, die meisten davon im Rahmen unserer gemeinsamen Seminare unter dem Titel „Comment le mythe et pourquoi?“4 [Wie und warum entsteht ein Mythos?]

Schildkröte und Lyra

Подняться наверх