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Agalmata und mythischer Bericht bei Gernet

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Marcel Detienne erwähnt beiläufig, der Ölbaum sei in Abbildungen stets als agalma gekennzeichnet, als ‚Wertgegenstand‘, der oft ein Weihgeschenk an die Götter meint. Schon der Begriff agalma verweist unmittelbar auf die Arbeiten Louis Gernets, der sich in einer epochemachenden Studie daran gemacht hatte, die mythische Auffassung vom ‚Wert‘ im alten Griechenland zu erforschen. Die zahlreichen Sagen und Mythen, die er hierfür zusammentrug, haben eines gemeinsam: Es geht darin um Wertgegenstände, agalmata.5 An Gernets Schlussfolgerungen zu diesem Thema kommt bis heute niemand vorbei, der in allen Facetten den komplexen Stellenwert zu begreifen versucht, den man bestimmten Gegenständen im archaischen Griechenland zuschrieb.

Aufschlussreich ist der Aufsatz jedoch nicht nur durch den Nachweis, dass man einigen dieser Objekte neben dem materiellen beziehungsweise prämonetären Wert zugleich soziales Prestige beimaß. Die im Journal de Psychologie publizierte Studie nahm zudem in ihrem theoretischen Ansatz schon 1948 die radikale Veränderung der Analyse von Mythen in den darauffolgenden Jahrzehnten vorweg. Angestoßen wurde der Wandel insbesondere durch die Publikationen von Claude Lévi-Strauss, dessen Aufsatz „The Structural Study of Myth“ wenige Jahre darauf erschien.6 Schon Louis Gernet empfahl dem Leser unter Verweis auf die Linguistik Ferdinand de Saussures, die „Mythologie als eine Art Sprache“ aufzufassen.7

Dennoch darf Gernets Perspektive nicht mit der von Lévi-Strauss gleichgesetzt werden. Gernets Vorgehensweise bei Mythen und Sagen rund um agalmata enthält zwar eine ‚generative‘ Komponente, die Lévi-Strauss‘ Blickwinkel nicht ganz fremd ist, doch offensichtlich war für ihn der mythische Angelpunkt der Erzählung das Objekt, so, als bilde der Gegenstand an sich und nicht die Erzählung den Mythos. Schon bei der gemeinsamen Arbeit an unserem Buch über die Mythen über Weberei und Gewebe tauchte die Frage auf, ob es bei der Entschlüsselung dieser Sagen womöglich hinderlich sei, wenn man den Mythos nur als Erzählung sieht, und es vielleicht sinnvoller wäre, ihn auch mit nicht-narrativen Kategorien zu definieren. Diese Überlegungen führten uns zu Gernet. Zitieren wir einen Absatz aus unserer Einleitung:

„Welche Probleme sich ergeben, sobald sich die Mythologie (in der gängigen Wortbedeutung), die Ikonologie und die Ritualforschung für ihre jeweils eigene Deutungsarbeit auf die beiden anderen Wissenschaften berufen, ist hinreichend bekannt. Zum Teil beruhen sie zweifellos darauf, dass keine der drei für sich beanspruchen kann, im Vergleich zu den anderen einen privilegierten Blickwinkel zu besitzen. So enthält beispielsweise die Erzählung nicht automatisch den Schlüssel zum Bild oder Ritual. Ob Erzählung, Bild oder Ritual – alle drei unterliegen spezifischen Regeln, die den Forscher zwingen, genauer hinzusehen, anstatt sich mit einer Gegenüberstellung oder naiven Gleichsetzung zu begnügen.

Darüber hinaus lässt sich die Mythologie (nach wie vor im gängigen Wortsinn) nicht allein auf den Bereich der Erzählung beschränken: Die Informationen, die sie in ihren Analysen berücksichtigt, stammen aus zu heterogenen Quellen, als dass man in der Mythologie keine absolute Hegemonie des Narrativs voraussetzen darf.“8

An diesem Punkt wurde uns in der Rückschau klar, dass unser Blickwinkel der Perspektive Gernets alles in allem sehr nahe kam. Auf den ersten Seiten seiner Studie über Werte spricht er in Bezug auf Eriphyle und das Halsband der Harmonia beispielsweise von „Begegnungen“ (rencontres). Sie veranschaulichen „Verknüpfungen mit dem Wertgegenstand in der mythologischen Imagination, die dieser [Gegenstand] in Schwingung versetzt.“9 Mit anderen Worten: Der Blickwinkel Gernets entspricht unserer ‚generativen‘ Perspektive. In der Geschichte vom Halsband der Harmonia geht es um den Schmuck als Gegenstand, und so, wie die Handlung abläuft, übermittelt er offenbar im Rahmen der Erzählung selbst seine Auslegung.

Schildkröte und Lyra

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