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Vom Eigennamen zur Geschichte Jean-Pierre Vernants Analysen zum Namen Ödipus

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Wie wir gesehen haben, sind Gegenstände hervorragende Vehikel für Mythen. Gilt das auch für Eigennamen? Sind sie ebenfalls in der Lage, die Geschicke oder die gesellschaftliche Rolle des jeweiligen Namensträgers anzudeuten oder zu kennzeichnen? Zu Ödipus und seinem wechselhaften Schicksal schrieb Jean-Pierre Vernant:

„Schon der Name Ödipus bietet sich für solche Umkehreffekte an. Er ist doppeldeutig und in sich bereits ebenso rätselhaft wie die Tragödie als Ganzes. Oidipous ist einerseits der Mann mit dem geschwollenen (oidos) Fuß (pous), der an sein Kindheitstrauma erinnert: Er wurde von seinen Eltern verstoßen und zum Sterben in der Wildnis ausgesetzt. Zugleich ist Ödipus derjenige, der das Geheimnis der Füße kennt (oida) und mühelos das Rätsel löst, das ihm die grausame Sphinx stellt. Durch dieses Wissen gelangt anstelle der rechtmäßigen Könige ein fremder Heros auf den Thron Thebens. Der Doppelsinn von Oidipous ist schon im Namen selbst, im Verhältnis zwischen den beiden ersten Silben und der dritten Silbe, angelegt: oida – ich weiß – ist eines der wichtigsten Wörter, die der Tyrann Ödipus triumphierend im Munde führt, doch zugleich ist pous – der Fuß – sein Geburtsmal, denn es bestimmt ihn dazu, sein Leben ebenso zu beenden, wie es begann: als Ausgestoßener, vergleichbar einem wilden Tier. Sein Fuß macht ihn zum Außenseiter; seinetwegen muss er sich von anderen Menschen fernhalten, in der vergeblichen Hoffnung, dem Orakel zu entrinnen. Doch überall verfolgt ihn der Fluch, der ihn zu dem schlimmen Fuß verurteilte, weil er stehenden Fußes gegen die Gesetze der Götter verstieß und fortan unfähig war, dem Übel zu entkommen, in dem er sich befand, gerade weil er auf den Gipfel der Macht aufgestiegen war. Die gesamte Tragödie des Ödipus ist insofern bereits in der Doppeldeutigkeit seines Namens enthalten.“15

Schauen wir uns diesen Satz genauer an. Genauso ist es: Wenn der Name Oidipous bereits wie eine Art Brühwürfel in kondensierter Form die gesamte Tragödie in sich trägt, können wir dann überhaupt davon ausgehen, Sophokles und seine Vorläufer hätten diesen Sachverhalt erst im Nachhinein erkannt? Müssten wir nicht vielmehr unterstellen, dass der Name selbst gerade den Ausgangspunkt bildete und den Aufbau der Geschichte bestimmte?

Vernant meint dazu (weiter): „Schon als Ödipus das Rätsel der Sphinx löst, bezieht sich das, was er weiß, gewissermaßen auf ihn selbst. Welches Lebewesen, fragt die perfide Sängerin, ist zugleich dipous, tripous und tetrapous? Für Oidipous ist die Lösung offensichtlich: Es handelt sich selbstverständlich um den Menschen, also um ihn selbst.“16

Die Ergebnisse von Vernants Forschungsarbeit zur Ödipussage werden allerdings erst dann wirklich schlüssig, wenn wir zwei weitere Aufsätze von ihm über den thebanischen Heroen berücksichtigen, wobei wir Œdipe sans complexe im Moment beiseite lassen und uns hier nur mit Le Tyran boiteux: d’Œdipe à Périandre17 befassen.

Ausgangspunkt von Vernants dritter Studie zu Ödipus ist Lévi-Strauss‘ Analyse im Kapitel „Die Struktur der Mythen“ aus der Strukturalen Anthropologie, auf die wir später noch zurückkommen werden. In „Ambiguïté et renversement“ bezieht sich Vernant zwar nicht ausdrücklich auf diese Studie, wohl aber in „Le Tyran boiteux“. Dort unterstreicht er ihre Ambivalenz: Bei allen Vorbehalten der Fachwelt gegen Lévi-Strauss‘ Analyse, so Vernant, habe sie doch die Mythenforschung zutiefst verändert. Er selbst greift nur einen Aspekt davon heraus. „Meines Wissens“, schreibt er, „erkannte Lévi-Strauss als Erster den Stellenwert einer Besonderheit, die in drei Generationen im Geschlecht der Labdakiden wirksam war: die Schwierigkeit, aufrecht zu gehen, das heißt, ein Mangel an Symmetrie der beiden Körperhälften aufgrund der Lahmheit eines Fußes.“18 Während Lévi-Strauss als Experte für die Mythologie der amerikanischen Ureinwohner diese „Schwierigkeit, aufrecht zu gehen“ mit der Autochthonie des Menschen in Beziehung setzte, ist dies Vernant zufolge in der griechischen Mythologie anders, denn dort weisen die „aus der Erde geborenen Menschen“ nie Fuß- oder Ganganomalien auf. Was also bedeutete es für die alten Griechen, wenn jemand lahm war? Zu prüfen ist also, ob ein Hinken sich bei ihnen über die Fortbewegung hinaus als metaphorischer Verweis auf etwas anderes erstrecken konnte, und ob es nicht womöglich neben dem Lahmen des Fußes auch ein ‚Lahmen‘ des Geistes gab. Platon etwa unterscheidet zwischen den wohlgestalteten, für die Philosophie prädestinierten Seelen, und den „verstümmelten“ und „hinkenden“ Seelen.19 Und damit nicht genug: Da das Lahmen des Geistes einer Verkommenheit der Seele entspricht, ist ein Lahmer (chōlos) zugleich ein „Bastard“ (nothos).

Folgen wir weiterhin Vernant: „Über die Beziehung zwischen Lahmheit und Abstammung geben vor allem zwei Texte Aufschluss: Xenophons Hellenika, III, 3, 1-3, und Plutarchs Lebensgeschichte des Agesilaos, III, 1, 9. Als König Agis von Sparta starb, musste ein Nachfolger gefunden werden. Zur Auswahl standen sein Sohn Leotychides und sein Bruder Agesilaos. Im Normalfall hätte der Sohn und nicht der Bruder des verstorbenen Königs den Thron bestiegen, zumal Agesilaos lahmte. Allerdings verdächtigte man Leotychides, in Wahrheit der Sohn des Alkibiades zu sein, der – wie allseits bekannt – während seines Aufenthalts in Sparta der Liebhaber von Agis‘ Ehefrau Timaia gewesen sein soll. Um Leotychides‘ Thronanspruch zu stützen, legte der Seher Diopeithes jedoch ein ‚uraltes Orakel‘ vor, das Sparta ungefähr mit den Worten warnt: ‚Hüte dich, o Sparta, so stolz und mächtig du dastehst (artipous), dass dir Wohlgefügter ein lahmer König entsprosse (cholē basileia). Lange dann wird dich unerwartetes Unheil ergreifen.‘ Im Streit um die Nachfolge König Agis‘ stehen sich also sein hinkender Bruder und sein mutmaßlich unehelicher Sohn gegenüber. Wessen ‚Hinken‘ ist schlimmer: chōlos oder nothos? Die Antwort Lysanders und der Spartaner ist eindeutig. Bei Xenophon heißt es: ‚Nach seiner Meinung bedeute der Befehl des Gottes nicht, daß man sich vor einem Mann hüten solle, der infolge eines Sturzes hinke, sondern vielmehr davor, dass einer von unechter Abstammung König werde. Auf jeden Fall müsse man doch wohl sagen, die Königsherrschaft hinke.‘ Und bei Plutarch lesen wir: ‚Denn nicht, wenn jemand, der ein Fußleiden habe, König sei, mache das dem Gott viel aus, sondern wenn ein nicht Echtbürtiger, der nicht von Herakles stamme, es werde, das sei das lahme Königtum.‘20

Vernant erläutert, warum die drei Labdakiden bildlich gesprochen hinken: Als Labdakos starb, war sein Sohn Laios erst ein Jahr alt, sodass zunächst ein Fremder namens Lykos auf den Thron kam. Die legitime Thronfolge war damit unterbrochen. Die normale Generationenfolge fand nicht statt. Der junge Laios floh zu Pelops, verführte aber dessen Sohn Chrysippos. Als dieser daraufhin Selbstmord beging, belegte sein Vater Laios mit einem Fluch, der sein Geschlecht zum Aussterben verurteilte. Nach seiner Rückkehr nach Theben warnte ihn das Orakel, er dürfe mit seiner Frau Iokaste keinen Sohn zeugen. Tue er es dennoch, werde dieser, obwohl ehelich geboren, seinen Vater Laios töten und mit seiner Mutter Iokaste schlafen und sich damit noch schlimmer gebärden als ein Bastard. Und genau das trat auch ein: Der ‚Schwellfuß‘ Ödipus richtete in der normalen Generationenfolge heilloses Chaos an, indem er seine Mutter heiratete und somit zum Bruder seiner eigenen Kinder wurde. Ödipus nahm den Platz seines Vaters nicht im Rahmen der ordnungsgemäßen Thronfolge ein, sondern – ohne es zu ahnen – durch Vatermord und Inzest.

Vernants Aufsatz über „Mehrdeutigkeit und Umkehrung“ (Ambiguïté et renversement) verdanken wir also die ‚generative‘ Perspektive, seinem Aufsatz über den „hinkenden Tyrannen“ (Le Tyran boiteux) die Entdeckung der symbolischen Verknüpfung zwischen Lahmheit und illegitimer Abstammung. Diese „Konkatenation von Kategorien“, dieses „Konglomerat von Bedeutungen“, ist in unseren Augen der Mythos als solcher, wenn man ihn als Matrix oder Nukleus der Geschichte versteht. Doch auch wenn dieser Mythos durch die Person mit dem Namen Oidi-pous verkörpert wird, kann man ihren Namen genauso gut als Oi-dipous lesen und damit einen anderen Handlungsstrang in der Ödipussage hervorheben, sprich: das Rätsel der Sphinx. Dessen Lösung lautet, dass der Mensch sich im Laufe seines Lebens zunächst auf vier, dann auf zwei und zuletzt auf drei Füßen fortbewegt. So gesehen könnte man sogar eine neue Lesart der gesamten Ödipustradition vorschlagen, angefangen mit derjenigen von Homer und Hesiod, die das Thema der Sphinx noch nicht erwähnen, aber das würde unseren Rahmen hier sprengen.

Schildkröte und Lyra

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