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Der Arzt in mir

Vom Kopf her ist natürlich klar, dass dieses aberwitzige Konstrukt kaum Wahrheitsgehalt hat und mich keine Schuld trifft, aber das Wirken seelischer Kräfte richtet sich nicht nach Logik und Vernunft. Immer wieder fiel ich in tiefe Löcher, versank in Depressionen, verlor jeden Lebensmut und hatte an nichts mehr Freude. Die vorläufige Wende kam im Sommer 1993. Ich war nach einigen Jahren in Hamburg wieder zurück nach Bremen gezogen und hatte mir dort einen Psychotherapeuten gesucht. Sein Name ist mir entfallen, hier soll er Doktor Berger heißen, denn er war niedergelassener Arzt.

Unsere Sitzungen begannen stets nach dem gleichen Muster. Doktor Berger öffnete die Tür zum Flur, wo ich auf den Beginn der Sitzung wartete. Mit einem Nicken bat mich er ins Besprechungszimmer, setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch und ordnete Papiere. Ich nahm ihm gegenüber Platz und harrte, bis er sich mir zuwandte. Das geschah immer mit derselben Geste und denselben Worten. Er stützte die Ellenbogen auf, legte die Fingerspitzen aneinander, schaute mich prüfend an und sagte meinen Namen. Herr Enkogia, das war alles. Keine Aussage, keine Frage, nur wortloses Abwarten. Ich berichtete dann, wie es mir seit dem letzten Termin ergangen war, fühlte mich dabei aber selten wirklich gut aufgehoben. Das offenbar aus gutem Grund, denn schon in der vierten oder fünften Sitzung kippte das Setting, also das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Doktor Berger hörte mir eine Weile zu, griff dann ein Stichwort auf und begann plötzlich von seinen Problemen zu erzählen. Er war verheiratet, hatte aber eine Beziehung mit einer Kollegin angefangen. Sie war erheblich jünger und außerdem schwanger. Von ihm. Seine Frau bekam Wind von der Affäre und drohte mit der Scheidung. Mein Arzt und Psychotherapeut schüttete mir sein Herz aus und fand dabei kein Ende. Irgendwann waren die 50 Minuten jedoch um und ich ging heim, verwirrt und verärgert.

Weil mich das stereotype Begrüßungsritual von Anfang an störte, beantwortete ich das „Herr Enkogia“ bald ebenso einsilbig mit einem „Herr Doktor Berger“. Ihn schien dies nicht zu stören, er ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Als Dr. Berger jedoch die Sitzung in der Woche nach seinem überraschenden und unprofessionellen Geständnis versehentlich mit „Herr Doktor Enkogia“ eröffnete, wurde mir klar, dass die Basis für sinnvolle und hilfreiche therapeutische Gespräche fehlte. Ich sprach ihn offen auf diesen Konflikt an und er stimmte mir zögerlich zu. Statt nun aber die Therapie abzubrechen und mich einfach fortzuschicken, schlug er einen stationären Aufenthalt vor. Es gäbe gute psychosomatische Kliniken, wo seelische und körperliche Beschwerden (ich litt seit einigen Jahren unter chronischen Rückenschmerzen und Schuppenflechte) auf ganzheitliche Art behandelt würden. So blieb es mir erspart, mühsam nach einem alternativen Therapieplatz zu suchen. Fähige Therapeuten haben oftmals lange Wartelisten, drei bis sechs Monate Wartezeit sind ebenso entmutigend wie normal. Dr. Berger bot mir nun die Chance, Selbsterfahrung und seelische Gesundung für eine Weile ganz vornan zu stellen. Dankbar verließ ich seine Praxis mit der nötigen Verordnung für die Krankenkasse.

Durch Gespräche im Freundeskreis – dabei dämmerte mir langsam, wie viele Menschen unter Ängsten, Depressionen und anderen seelischen Erkrankungen litten – wurde ich auf die Hardtwaldklinik II im hessischen Bad Zwesten aufmerksam. Die Fachklinik für Psychotherapie und Psychosomatik hat einen guten Ruf, das Haus selbst liegt idyllisch auf einem Hügel am Waldrand, und die Wartezeit war damals erträglich. Nachdem Dr. Berger sein Gutachten geschrieben und die Krankenkasse meinen Aufenthalt bewilligt hatte, fuhr ich nach Bad Zwesten und bezog dort im Oktober ein Zimmer mit Balkon im fünften Stockwerk. Ursprünglich sollte ich nur vier Wochen dort bleiben. Aber wegen der Schwere meiner Erkrankung und der guten Fortschritte, die ich in der Therapie machte, wurde der Aufenthalt mehrfach verlängert und letztlich auf zwölf Wochen ausgedehnt. Heutzutage ist die Kostenübernahme für eine derartig lange Reha nur schwer zu bekommen, denn Krankenkassen und Rentenversicherungsträger achten sehr aufs Geld und rechnen mit spitzem Bleistift. Das ist der Kostenexplosion im Gesundheitswesen geschuldet und teilweise nachvollziehbar, doch selten gut für die Patienten. Sogar Kliniken und Krankenhäuser müssen heute Profite machen, leider bleibt der hilfsbedürftige Mensch dabei oftmals auf der Strecke.

Wie auch immer, 1993 durfte ich zwölf Wochen lang in der Hardtwaldklinik II mit motivierten und kompetenten Therapeuten an meiner Genesung arbeiten. Dieses Vierteljahr war eine sehr wichtige Zeit und bescherte mir wertvolle Einsichten und Erkenntnisse, für die ich dankbar bin. Es waren zwar oftmals schmerzhafte Erfahrungen, aber das kannte ich ja bereits aus der Primärtherapie. Mein Opa war Landarzt in einem kleinen Dorf an der Nordseeküste. Er starb leider schon vor meiner Geburt, aber ein überlieferter Satz ist mir im Gedächtnis geblieben: ‚Medizin muss bitter sein, sonst hilft sie nicht.’ Das stimmt natürlich nicht immer und unbedingt, aber etwas Wahres ist schon daran. Während meiner ersten Reha habe ich in der Hardtwaldklinik II Rotz und Wasser geheult, bin aber mit gestärktem Lebenswillen und wichtigen Einsichten heimgefahren. An erster Stelle stand die Erkenntnis, dass die kindliche Logik, derzufolge meine Mutter noch leben würde, wäre ich nicht geboren worden, zu einem mächtigen Schuldkomplex geführt hatte.

Jener Teil meines Bewusstseins, der abwägt und wertet, fällte nämlich irgendwann ein folgenschweres Urteil. In einem Satz ausgedrückt, lautet es: ‚Weil du deine Mutter auf dem Gewissen hast, darfst du nicht glücklich sein, du musst büßen und leiden.’ Ich hatte meine tote Mutter im doppelten Wortsinn auf dem Gewissen, fühlte mich schuldig und büßte daher fleißig. Auge um Auge, Zahn um Zahn – ähnlich unnachsichtig urteilte der Richter in meinem Inneren. Du hast den Tod jener Frau verschuldet, die dir dein Leben schenkte, und bist deshalb auf ewig verdammt. Der Todesstrafe, auszuführen durch eigene Hand, bin ich zwar bisher entgangen, habe aber kein Recht auf Glück und Erfüllung. Die Lüge meines Vaters war die Grundlage für den Richterspruch, sie überdauerte 23 lange Jahre. Doch auch nachdem er die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestanden hatte, gab es vor dem Gericht meines Unterbewusstseins keine Begnadigung. Warum kämpfte ich weiter gegen das Gute an? Wer warf mir ständig Knüppel zwischen die Beine und wollte verhindern, dass mein Leben glückte? Wieso lag ich ständig im Streit mit mir selbst und wer war mein heimlicher Gegenspieler?

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