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Unter dem Damoklesschwert

Heinz Oltmann besaß keinen Meistertitel und durfte daher nicht ausbilden, ansonsten wäre ich gern als Lehrling bei ihm geblieben. Leider erkrankte er bald an Lungenkrebs und verstarb viel zu früh. Auch deswegen kehrte ich nachhause zurück, lebte wieder unter dem elterlichen Dach und hangelte mich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Das schaute sich mein Vater nicht lange an und sorgte dafür, dass ich eine Lehre als Reiseverkehrskaufmann begann. Also renovierte ich eine kleine Mietwohnung im Bremer Steintorviertel, zog dort ein und trat am ersten September die Ausbildung bei Hapag-Lloyd an. Unvergessen sind die Worte meines Vaters an diesem bedeutsamen Tag: „Mein lieber Sohn, wenn du auch diese Lehre hinschmeißt oder Hapag-Lloyd dazu bringst, dass man dir kündigt, dann sind wir geschiedene Leute. Dann kannst du von mir weder Nachsicht noch Unterstützung erwarten, sei dir darüber im Klaren.“ Acht schreckliche Monate hing das Damoklesschwert über mir, bis mein Vater endlich den Bannfluch zurücknahm und mir erlaubte, auch diese Lehre abzubrechen.

Was war geschehen? Eigentlich nichts Dramatisches. Jeden Morgen zog ich meinen dunklen Anzug an, knüpfte den Windsorknoten in eine passende Krawatte und fuhr mit der Straßenbahn zum Reisebüro. Dort saß ich mit einer altjüngferlichen und ziemlich biestigen Ausbilderin hinter dem Tresen und vor einem Regal, in dem mindestens fünf Meter Aktenordner standen. Darin abgeheftet die Tarife sämtlicher Staats- und Privatbahnen aus ganz Europa. Von früh bis spät verkauften wir Bahnfahrkarten oder Fährtickets und suchten für Kunden komplizierte Zugverbindungen heraus. Ein stinklangweiliger Job. In der Berufsschule eckte ich an, weil ich in eigenhändig gefärbten Latzhosen erschien, statt mit Schlips und Kragen. Vom Gymnasium war ich selbständiges Denken und Handeln gewohnt, doch nun musste man die Lehrer kleinlaut bitten, um während des Unterrichts austreten zu dürfen, statt einfach zur Toilette zu gehen. Der Geschichtslehrer schwärmte von mannigfaltigen Segnungen, die das deutsche Volk dem völlig zu Unrecht verkannten Adolf Hitler verdanken würde, und auch sonst wehte ein vollkommen anderer Wind. Als einziger Abiturient unter lauter sechzehnjährigen Mädchen war ich ein Außenseiter und machte mich durch Aufmüpfigkeit unbeliebt.

Die Kunden im Reisebüro mochten mich und auch mit den meisten Kollegen kam ich gut klar, aber meine Ausbilderin hasste ich bald fast so sehr wie den Job überhaupt. Nach Dienstschluss riss ich die Krawatte herunter und lief auf dem Heimweg oft laut singend durch den Park, um all den aufgestauten Druck ablassen zu können. In den Winterferien, ich fuhr mit meinen Geschwistern zum Skifahren nach Österreich, hatte ich einen Nervenzusammenbruch und weinte stundenlang in unserem Pensionszimmer. Einerseits deprimierte mich die Vorstellung, bald wieder Bahnfahrkarten verkaufen zu müssen oder in der Berufsschule gemobbt zu werden. Dies wurde noch verstärkt durch das Damoklesschwert der väterlichen Drohung. Andererseits spürte ich immer klarer, dass mit mir etwas nicht stimmte, ich seelisch krank war. Phasen der Melancholie und des Lebensüberdrusses häuften sich und ließen mich zweifeln, ob ich je ein glückliches und erfülltes Leben führen würde. Hinzu kam in besonders schwermütigen Phasen eine erschreckenden Todessehnsucht. Da ich mit sechzehn Jahren die Jägerprüfung abgelegt hatte und zwei Gewehre nebst Munition besaß, bestand ein hohes Risiko, ich könnte meiner Mutter in den Freitod folgen. Es wurde also dringend Zeit für radikale Veränderungen.

Die begannen im Mai 1979, als mein Vater endlich ein Einsehen hatte und mir erlaubte, die Ausbildung bei Hapag-Lloyd abzubrechen. Der Büroleiter versuchte zwar noch, mich umzustimmen, aber mein Entschluss stand fest. Andauernd lächeln und höflich sein, auch zu unfreundlichen Kunden, idiotischen Berufsschullehrern und meiner sauertöpfischen Ausbilderin; die Rivalität und versteckten Gemeinheiten zwischen den Kollegen; der Zwang zur Verkleidung mit Anzug und Krawatte – ich konnte und wollte es nicht mehr ertragen! Am Tag nach der Kündigung verkaufte ich vorsichtshalber meine Gewehre, zwei Tage später hatte ich einen Job als Lagerarbeiter im Hafen und im November bestand ich die Ortskundeprüfung für das Bremer Taxengewerbe. Kurz danach arbeitete ich als Taxifahrer in zwölfstündigen Schichten, sieben Tage pro Woche. Anfänglich fuhr ich tagsüber, aber nach einer Eingewöhnungszeit wechselte ich in die Nachtschicht. Keine Staus, weniger Stress und mehr Geld. 40 Prozent der Einnahmen gehörten mir, plus Trinkgeld. Pro Nacht kamen im Schnitt 140 Mark zusammen, viel Geld, das eisern gespart wurde. Denn ich hatte ein Ziel.

Im Freundes- und Bekanntenkreis war ich nicht der Einzige, der mit Depressionen zu kämpfen hatte. Zwar sprach kaum jemand offen darüber, aber die Betroffenen erkannten sich gegenseitig. Beate, eine ehemalige Schulkameradin gestand mir, dass sie in psychotherapeutischer Behandlung sei. Leider nur ambulant, alle vierzehn Tage hatte sie ein Therapiegespräch, das 50 Minuten dauerte, dabei wäre sie am liebsten in eine Klinik gegangen. Doch es war damals nicht so leicht wie heute, geeignete Kliniken zu finden. Die Landeskrankenhäuser waren als Klapsmühlen verschrien, bei denen jeder sofort an Zwangsjacken dachte, und wo man meist nur Medikamente bekam. Psychosomatische Kliniken und alternative Therapieangebote entstanden zwar nach und nach, es gab aber längst nicht so viele Möglichkeiten wie heute. Beate war als Kind wiederholt sexuell missbraucht worden, vom eigenen Vater. Ihre Krankheit wird heutzutage als Borderline-Syndom bezeichnet, eine Persönlichkeitsstörung, unter der deutlich mehr Frauen als Männer leiden. Ein chronisches Gefühle der inneren Leere, heftige und unkontrollierbare Wutausbrüche, Selbstverletzungen und eine fatale Neigung zu Beziehungen mit gefühlskalten und manipulierenden Männern gehören zu den Symptomen der Borderline-Störung. Nichts davon war Beate fremd. Bedauerlicherweise hat sie den Kampf gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit verloren und sich im Alter von 29 Jahren das Leben genommen.

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