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ОглавлениеBefreit durch den Urschrei
Im Grunde verdanke ich Beate meine erste Psychotherapie, denn sie schwärmte von der Primärtherapie nach Arthur Janov. Anfang der 1970er Jahre erschien sein Buch ‚Der Urschrei’, weshalb die von ihm entwickelte Therapie auch Urschreitherapie genannt wurde. Janov ist überzeugt, dass seelischer Schmerz aus frühester Kindheit die Ursache für psychische und physische Erkrankungen ist. Solange dieser Schmerz verdrängt und ins Unterbewusste abgespalten bleibt, ist nach seiner Auffassung eine seelische Gesundung unmöglich. Patienten, die an den Folgen traumatischer Kindheitserlebnisse leiden, müssen den uralten Schmerz in sich aufsteigen lassen und nochmals durchleben, diesmal jedoch bewusst. Dieser Prozess kann immens schmerzhaft sein, daher arbeitet die Primärtherapie mit vergleichsweise radikalen Methoden, um die Verdrängungsmechanismen der Patienten auszuschalten und sie für die qualvolle Wahrnehmung verschütteter Kindheitserlebnisse zu öffnen.
Angeregt durch Beate las ich verschiedene Bücher über Psychotherapie, darunter auch mehrere von Arthur Janov. Begeistert vom Versprechen Janovs, seine Methode würde den Menschen befreien und die Verstrickungen der Vergangenheit auflösen, entschied ich mich für die Primärtherapie. Weil gesetzliche Krankenkassen damals die Kosten nicht übernahmen, woran sich bis heute leider wenig geändert hat, musste ich die Therapie selbst bezahlen. Deshalb saß ich fast täglich hinter dem Steuer eines Taxis und sparte eisern. Im Juni 1980 fuhr ich erstmals nach Seibranz, um mich in der dort angesiedelten Poliklinik untersuchen und klären zu lassen, ob die Primärtherapie für mich in Frage käme. Die Ergebnisse waren positiv und am ersten August desselben Jahres begann meine Intensivphase in einem zur Therapiestätte umgebauten Landgasthof.
Seibranz ist ein Weiler mitten im Allgäu und gehört zur Gemeinde Bad Wurzach. Eine Kirche, ein Bäcker, die Käserei, ein Gasthaus mit angeschlossener Metzgerei und die Raiffeisen-Genossenschaft – viel mehr hatte das Dorf nicht zu bieten. Fette Wiesen, saftiges Gras und würzige Kräuter, und über allem der Klang zahlloser Kuhglocken. Uralte Bauernhöfe am Rand dunkler Wälder und mitten im Dorf ein Haus, wo jeden Tag geweint und geschrien wurde. Wer konnte und wollte, arbeitete mit amerikanischen Therapeuten, die direkt vom Primal Institute aus Kalifornien kamen. Es gab jedoch auch Therapeuten aus Deutschland oder Österreich, die von Arthur Janov oder seinen Schülern ausgebildet worden waren. Während der dreiwöchigen Intensivphase wohnten die Patienten im Haus und hatten tägliche Einzelsitzungen, danach konnten sie an offenen Gruppensitzungen teilnehmen. Je nach Bedarf, Leidensdruck und Geldbeutelgröße reisten die Leute nach Seibranz, meist am Wochenende.
Für die Intensivphase galten besondere Vorschriften. Sie erleichtern das Einlassen auf die Welt der Gefühle und hemmen die üblichen Verdrängungsmechanismen. Verboten waren Nikotin, Alkohol und Drogen jeder Art, Kaffee und Tee, Süßigkeiten, Fernsehen, Radio und Bücher (Internet und Handys gab es damals noch nicht). Gespräche aller Art waren tabu, ebenso jede Art von Ablenkung oder Zerstreuung. Man durfte malen, zeichnen und spazieren gehen, aber nur allein. Als ich begann, stundenlang Gedanken ins Tagebuch zu notieren, wurde mir auch das untersagt und ich durfte nur noch zwei Seiten pro Tag schreiben. Auch sollte ich nicht mehr als acht Stunden schlafen, statt halbe Tage zu verdösen. Ich war auf mich zurückgeworfen, musste mich wirklich auseinandersetzen, konnte nicht ausweichen. Keinerlei Ablenkung, nur Gefühle und Gedanken, keine Chance zur Flucht. Dabei entstand immenser Druck, der sich täglich in den etwa zweistündigen Einzelsitzungen entlud.
Da mein Englisch recht gut war, arbeitete ich in der Intensivphase mit einer sehr erfahrenen amerikanischen Therapeutin. Sie betreute mich liebevoll und verhalf mir immer wieder zu tiefer Selbsterkenntnis. Das war sehr bereichernd, auch wenn der Weg dahin durch viel Schmerz, Wut und Trauer führte. Die Therapieräume waren schummrig beleuchtet und nahezu schalldicht. Wände und Böden hatte man weich gepolstert, damit sich niemand verletzt, und die Raumtemperatur lag über 25 Grad. Es wurde uns empfohlen, nackt oder in Unterwäsche zur Therapie zu erscheinen, weil der Mensch sich auch durch seine Kleidung wappnet, nach außen abgrenzt und versteckt. Bei der Primärtherapie sollen frühkindliche Erfahrungen in einem sicheren Umfeld erneut durchlebt und durchlitten werden, ohne dass Patienten sich schützen oder abgrenzen müssen. Daher wird ein Raum geschaffen, der ein bisschen an das Innere des Mutterleibes erinnert – warm, weich und dunkel. Im Therapieraum ist fast alles erlaubt. Man darf toben, weinen, schreien und vor Wut auf dicke Kissen einprügeln. Es wird gejammert und geflucht, und manchmal klingt es, als würden Kleinkinder plärren. Egal ob Einzel- oder Gruppensitzung, stets wird man von hochsensiblen und sehr erfahrenen Therapeuten unterstützt, die ihre Patienten beim erneuten Durchleben extrem schmerzhafter Kindheitserfahrungen begleiten und sie jederzeit emotional auffangen.
Diese Schilderung und besonders die Vorstellung, nackt in einer Gruppe seinen Schmerz hinauszuschreien, klingt sicherlich seltsam, aber mir hat die Primärtherapie sehr geholfen. Ich konnte mich gut auf die ungewöhnliche Methode einlassen und hatte damals einen immensen Leidensdruck. Innerhalb der ersten drei Wochen, die ich in der Poliklinik wohnte, aber auch in den Monaten danach fanden wichtige Veränderungen statt, äußerlich wie innerlich. Ich war nach kurzer Zeit drei Zentimeter größer, aber nicht, weil ich mit fast 22 Jahren noch gewachsen wäre. Chronische Muskelverspannungen lösten sich und sorgten dafür, dass ich nicht länger gramgebeugt durch die Welt schlich, sondern mich aufrichtete. Eine Mitpatientin, die mich bei meiner Anreise erlebt hatte, machte mir nach zwei Monaten ein sehr schönes Kompliment. „Anfänglich sahst du aus wie ein KZ-Häftling, aber nun blitzen deine Augen und du hast ein schönes Lächeln. Du bist ein ganz anderer Mensch!“ Sie hatte wohl recht, denn auch anderen Menschen fiel meine Veränderung auf.