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Lügen haben kurze Beine

Gibt es einen Grund, sich für seelische Erkrankungen zu schämen? Wer schämt sich für Kopfschmerzen, ein gebrochenes Bein oder den entzündeten Blinddarm? Kreislauferkrankungen oder Krebs sind ähnlich verbreitet wie Depressionen, aber wir gehen viel offener damit um. Warum? Weil man Depressionen nicht durch Bluttests oder auf Röntgenbildern nachweisen kann, weil seelische Erkrankungen unfassbar sind? Wieso hält sich auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft der Irrglaube, Depressionen hätten etwas mit Wahnsinn zu tun? Würden man depressive Menschen weniger ausgrenzen und besser verstehen, wenn die Seele operiert, bestrahlt oder wie ein Gelenk ersetzt werden könnte? Die Psychotherapeutin Andrea Jolander schrieb nach über dreißig Jahren Berufserfahrung ein Buch über die Stigmatisierung von seelisch Erkrankten. Der Titel ‚Da gehen doch nur Bekloppte hin’ fasst ein einem Satz zusammen, was viele Leute auch heute noch über Psychotherapie denken. Schade!

Dieses Buch soll Vorurteile abbauen und mehr Verständnis für die Ursachen von Depressionen schaffen, denn sie sind eine Volkskrankheit. Ich weiß seit über dreißig Jahren, dass ich depressiv bin und habe gelernt, mit dieser Krankheit umzugehen. Kürzlich erfuhr ich von meiner Stiefmutter, dass ich schon als Schulkind längere Phasen unerklärlicher Schwermut und Lebensunlust durchmachte. Jeder fünfte Deutsche leidet im Laufe des Lebens unter Depressionen. Die statistische Wahrscheinlichkeit ist sogar dreimal so hoch, wenn ein Elternteil depressiv ist oder war. Wie ich heute weiß, durchlitt meine Mutter schon als junge Frau mehrere depressive Episoden. Wenn ihre Familie und mein Vater mehr über das Wesen dieser Krankheit gewusst hätten und offener damit umgegangen wären – auch den beiden Ärzten gegenüber, die sie in den Wochen vor ihrem Tod behandelten – würde meine Mutter heute vielleicht noch leben. Aufrichtigkeit kann heilen, das habe ich spätestens 1980 erfahren, als ich zum ersten Mal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm. Lügen machen krank, und das gilt auch für gut gemeinte wie jene Notlüge, mit der ich aufwuchs.

Lügen haben kurze Beine – diesen Satz hat wohl jeder schon einmal gehört. Es kostet Aufwand, die Wahrheit zu verheimlichen, und viele Lügen fliegen auf, aber manche halten sich hartnäckig und jahrzehntelang. Nach dem Tod meiner Mutter lebte ich bei einer Schwester meines Vaters. Sie hatte bereits zwei Söhne und dazu ein Herz voller Liebe, nahm mich bei sich auf und wurde meine Mama. Nach ihren Schilderungen und den Babyfotos zu urteilen war ich ein Wonneproppen, immer hungrig und gutgelaunt, das absolute Gegenteil eines Problemkindes. Zusammen mit Papa, dem Onkel und zwei Cousins lebte ich in einem kleinen Haus am Waldrand und wunderte mich nicht, dass Mama mit meinem Onkel verheiratet war, statt mit Papa. In einem Anfall von Eifersucht behauptete der jünger Cousin einmal, meine Mama sei in Wirklichkeit seine Mama. Ich hätte gar keine Mama, denn meine Mutter sei tot. Doch ich glaubte ihm kein Wort und ließ diese grausame Wahrheit nicht an mich heran.

Im April 1961 heiratete mein Vater erneut, eine junge Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie war erst dreiundzwanzig und damit zehn Jahre jünger als ihr Ehemann. Auch meine Stiefmutter zog nach der Hochzeit in das Haus am Wald, weil sich der Bau unseres neuen Domizils verzögerte. So lebten wir fast ein halbes Jahr zu siebt unter einem Dach, heute würde man wohl von einer Patchworkfamilie sprechen. Kurz vor meinem dritten Geburtstag war ein Reihenhaus, das mein Vater gekauft hatte, endlich bezugsfertig und ich musste mich von der Mama-Tante verabschieden. Das wird uns beiden nicht leicht gefallen sein, schließlich hatte sie mich fast drei Jahre liebevoll umsorgt. Damit ich die Trennung hinnahm und um meiner Stiefmutter die neue Rolle leichter zu machen, erklärte mein Vater Folgendes: Deine Mama ist nicht deine Mutter, sondern deine Tante. Deine Mutter ist tot, aber jetzt bekommst du eine neue Mutter, die Mutti Karen. Verwirrend für mich, wenn auch verständlich aus Sicht der Erwachsenen, sollte diese seltsame Offenbarung meine Zukunft prägen. Urvertrauen und Geborgenheit, die Fähigkeit zu verlässlichen Bindungen – das und mehr fehlte mir. Die Sehnsucht nach Liebe war groß, aber der Baum meines Lebens trug kaum Früchte, weil die Wurzeln verletzt waren.

Nein, ich mache niemandem Vorwürfe. Die zweite Frau meines Vaters – sie wurde bereits auf der Hochzeitsreise schwanger und brachte im Februar 1962 meine Schwester zur Welt – hat mich an Mutterstelle angenommen und gut für mich gesorgt. Sie war noch recht jung und sicherlich auch überfordert, denn nach der Geburt meines Bruders im Februar 1964 musste sie drei Kinder aufziehen. Die ungewohnte Mutterrolle, Probleme mit dem aufmüpfigen Stiefsohn und dazu die hohen Erwartungen eines anspruchsvollen Gatten, der in Wirtschaftswissenschaften promovierte und rasant Karriere machte – all das unter einen Hut zu bringen, stelle ich mir schwierig vor. Insofern überrascht es wohl kaum, dass die zweite Ehe meines Vaters scheiterte und die beiden 1982 geschieden wurden.

Doch ich möchte noch auf eine wichtige Phase eingehen, die fünf Jahre zuvor begann. Nach dem Abitur im Jahr 1977 – ich war zwar nicht dumm, hatte aber weder genug Ehrgeiz noch konkrete Berufspläne, und beendete meine Schulzeit mit einer Durchschnittsnote von 3,0 – jobbte ich und reiste durch halb Europa bis nach Marokko. Im Herbst begann ich eine landwirtschaftliche Lehre und brach sie noch in der Probezeit ab. Grund waren Zwistigkeiten mit meinem Lehrherrn. Er und seine Frau bewirtschafteten den Hof mit je zwei landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Lehrlingen plus zwei Praktikanten. Täglich wurden uns unbezahlte Überstunden abverlangt. Wir sechs kamen alle von weither aus großen Städten, denn in der Umgebung war längst bekannt, wie schlecht der Bauer mit Auszubildenden umging. Als ich ihn schließlich höflich darauf ansprach, dass im Lehrvertrag täglich acht Stunden Arbeit vereinbart waren, wir aber meist zwölf Stunden arbeiten würden und daher Anrecht auf mehr Geld oder Freizeitausgleich hätten, schmetterte er mich auf Platt ab: „Verträge, datt sünd Städtermanieren. Datt gifft et bi us nich.“ Anders gesagt: Nix da, auf dem Land gelten andere Regeln. Als ich eine Woche später das heikle Thema erneut anschnitt und wieder eine schroffe Abfuhr bekam, packte ich meine Sachen und kündigte.

Meine Begeisterung für Ackerbau und Viehzucht war sieben Jahre zuvor entstanden. Als Dreizehnjähriger fand ich eine Ersatzfamilie, einfache und bodenständige Leute, bei denen es sehr herzlich zuging. Heinz und Lene Oltmann hatten drei Kinder und bewirtschafteten einen kleinen Bauerhof in jenem niedersächsischen Dorf, wo mein Vater Mitpächter des Jagdreviers war. An einem langweiligen Ferientag saß ich dort am Stoppelacker und beobachtete den Bauern und seinen Sohn, wie sie goldgelbes Stroh zu eckigen Ballen pressten und auf einem schwankenden Anhänger immer höher aufstapelten. Irgendwann sprachen mich die beiden an, ich durfte auf den Hänger klettern und im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten mithelfen. Das war der Beginn einer herzlichen Beziehung, die lange anhielt und in mir den Wunsch weckte, selbst Landwirt zu werden. Von jenem ersten Sommer an verbrachte ich alle Schulferien bei den Oltmanns und kehrte auch dorthin zurück, nachdem ich die Lehre geschmissen hatte. Meine Stiefmutter war nämlich recht froh gewesen, als ich endlich auszog, denn ich hatte ihr als pubertierender Bengel und rotzfrecher Oberschüler ziemlich zugesetzt. Folglich war mir der Weg ins heimische Kinderzimmer verbaut und ich fuhr nach der Kündigung zurück aufs Dorf.

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