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Sabotage

Die zwölf Wochen in der Hardtwaldklinik II vergingen erstaunlich schnell. Obwohl die drei Fragen am Schluss des letzten Kapitels auch dort unbeantwortet blieben, lernte ich dennoch eine unbeugsame Kraft kennen, die in mir wirkte. Sie hatte – soviel begriff ich in einer Gruppensitzung – dafür gesorgt, dass ich trotz der vermeintlichen Schuld und des gegen mich gefällten Urteils am Leben geblieben war. Und dieses Leben galt es zu genießen. Ich verliebte mich in eine Mitpatientin und gemeinsam brachen wir ein paar der dusseligen Klinikregeln. Wir tranken Wein und rauchten in unseren Zimmern, und mieteten uns sogar in einer Pension ein, um ungestört miteinander ins Bett gehen zu können. Ähnlich wie dreizehn Jahre zuvor im Allgäu kam der Punkt, an dem Psychotherapie nervte. Ständig diese Nabelschau, immer das Kreisen um vergangenes Leid. Wie öde! Täglich saß man in Gruppen, wo nur gejammert, geklagt und geweint wurde. Einzeltherapie gab es – in meinen Augen ein eklatanter Mangel in vielen Reha-Kliniken – nur einmal pro Woche und auch dann nur dreißig Minuten. Sogar in den Gruppensitzungen musste man sich energisch durchsetzen, um eigene Themen bearbeiten zu können. Ständig breitete jemand ein Problem aus – vollkommen zu recht natürlich – und wer zuerst, kommt mahlt zuerst. In einer zehnköpfigen Gruppe vergehen 90 Minuten jedoch rasend schnell, und wer nicht drängelt kommt zu kurz.

Nach meiner ersten Reha kehrte der Lebensmut zurück, ich war ausgeglichener und zog einige Zeit später nach Oberbayern. Durch Zufall fand ich Arbeit im Meisterbetrieb eines Freundes und wurde später sogar sein Vorarbeiter im Garten- und Landschaftsbau. Doch trotz der idyllischen Alpenkulisse und meiner neuen Aufgabe fand ich keine Ruhe. Die langen Winter setzten mir zu und ich war wieder Single, denn die Liebe zu der ehemaligen Mitpatienten scheiterte. Bisher endeten meine Beziehungen immer tragisch und ich hatte mittlerweile Angst, mich erneut auf eine Frau einzulassen. Es schien ein verborgenes Muster zu geben, aber es ließ sich weder benennen noch durchbrechen.

Der Job war gut, ich bewohnte ein kleines Reihenhaus in Seenähe, fand aber als hanseatischer Fischkopp im erzkonservativen Landkreis Miesbach nur schwer Anschluss. Weil mich auch die Münchener Schickimicki-Gesellschaft abstieß, die noch heute jedes Wochenende ins Tegernseer Tal strömt und mit ihren Nobelkarossen die Bundesstraßen verstopft, zog ich schließlich wieder nach Norden. Bei einem Besuch in Dortmund hatten mich die Ruhrgebietsmenschen mit ihrer direkten und offenen Art angenehm überrascht. Außerdem gab es gute Gründe, nicht wieder in Bremen zu siedeln. Garantiert wäre ich dort umgehend meiner großen Liebe wiederbegegnet, wahrscheinlich sogar mit dickem Bauch oder bereits den Kinderwagen schiebend. Fast sieben Jahre hatte unsere Beziehung gedauert, die Schuld am Scheitern trug vor allem ich. Die Trennung lag zwar schon ebenso lange zurück, aber der Schmerz saß tief. Wie tief und warum ich anscheinend kein Glück in der Liebe hatte, sollte ich erst nach und nach verstehen lernen.

Jedenfalls zog ich nach Dortmund und fand neue Freunde. Beruflich hangelte ich mich mehr schlecht als recht durch, war wiederholt arbeitslos und oft ohne Perspektive. Dies änderte sich erst, nachdem ich 1998 für vier Monate nach Nepal ging, um als Freiwilliger in einer Leprastation zu arbeiten. Die Erfahrungen aus jener Zeit könnten kaum gegensätzlicher sein. Einerseits bittere Armut gepaart mit mitreißender Lebensfreude und überwältigender Gastfreundschaft seitens der liebenswerten Nepalesen. Andererseits massiver Spendenbetrug und sogar illegale Medikamentenversuche an Leprösen, bei diesen Experimenten starben mindestens vier Menschen. Schockiert musste ich erkennen, dass humanitäre Hilfe längst zum lukrativen Geschäft geworden war, bei dem weltweit Milliarden umgesetzt werden. Die abstoßende Doppelmoral der vermeintlichen Gutmenschen in Deutschland, aber auch die heitere Herzlichkeit der Bewohner eines der weltärmsten Länder, gaben Anstoß und brachten 1999 die Wende. Zusammen mit Freunden gründete ich einen gemeinnützigen Verein, der unter meiner Leitung bis 2012 in Nepal aktiv war. Während dieser Zeit bauten wir dort gut ein Dutzend Schulen, drei Gesundheitsstationen, Trinkwassersysteme für fünf Dorfgemeinden mit 600 Haushalten, eine Brücke und 50 dörfliche Biogasanlagen. Außerdem förderten wir eine Vielzahl von Menschen durch Trainings, Berufsausbildungen und Patenschaften. Ein Buch über diese Phase meines Leben ist in Arbeit und wird hoffentlich 2014 erscheinen.

Menschliche Kontakte sind ein wirksames Heilmittel gegen Depressionen. Es tut gut, für Andere da zu sein, sich zu engagieren, eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Gerade das Leben in der Dritten Welt – oftmals dominiert durch eine erstaunliche Kombination aus erschreckender Armut, Bescheidenheit und gewinnender Liebenswürdigkeit – half mir, neue Maßstäbe für mein Leben zu finden. Insgesamt verbrachte ich rund zweieinhalb Jahre in Nepal und das oft unter Menschen, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag überleben müssen. Ihre Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und ihr unbeugsamer Lebensmut haben mich immens beeindruckt. Viele Dinge, die der Durchschnittsdeutsche für unverzichtbar hält, sind in meinen Augen überflüssig oder sogar schädlich. Wozu Statussymbole, wenn Markenkleidung, teure Uhren und Designerartikel oft als billige Fälschungen im Urlaub gekauft werden? Was bedeutet Wertschätzung, die auf Äußerlichkeiten basiert? Die Leute geben Geld aus, das sie nicht haben, um Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, damit sie Menschen beeindrucken können, die sie nicht mögen. Weshalb andauernd konsumieren, wo doch längst klar ist, dass der Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen und nur begrenzt belastbarer Umwelt in eine globale Katastrophe münden muss?

Dreizehn Jahre dauerte mein humanitäres Engagement in Nepal. Hindus und Buddhisten leben dort friedlich mit Moslems und Christen zusammen, doch der Buddhismus faszinierte mich von Anfang an. Die Lehre eines Fürstensohns namens Siddhartha Gautama ist keine Religion, denn sie kennt keinen Gott. Der ursprüngliche Buddhismus ist, recht verstanden, Philosophie und Anleitung für ein gelingendes Leben. Buddha lehrte den mittleren Weg, das Meiden der Extreme, maßvollen Genuss und das Kultivieren von heilsamen Gedanken. Gier, Hass und Unwissenheit sind die negativen Gegenkräfte, sie hindern uns Menschen daran, glücklich und zufrieden zu sein. Ich habe fleißig meditiert, in buddhistischen Klöstern gelebt, den Unterweisungen nahezu erleuchteter Lehrer gelauscht und sogar mehrmals für den Dalai Lama gearbeitet. Sieben Jahre gab der Buddhismus mir Halt und dennoch wendete ich mich schließlich ab. Selbstverständlich könnte ich gute Gründe für meine Entscheidung anführen. Die Konkurrenzkämpfe der verschiedenen buddhistischen Schulen untereinander, obwohl Buddha schon zu Lebzeiten vor einer Spaltung der Gemeinschaft warnte; den Aberglauben an Geister, eine Hölle der Verdammnis und andere obskure Ideen speziell im tibetischen Buddhismus; dazu Machtmissbrauch und menschliche Schwächen, wie sie uns aus der katholischen Kirche nur allzu vertraut sind – aber das wären Ausflüchte.

Für die Abkehr vom Buddhismus sorgte im Grunde mein Saboteur. Erst vor wenigen Jahren – eine depressive Episode ließ mich erneut therapeutische Hilfe suchen – erkannte und benannte ich diesen Teil meines Ichs. Er existiert in mir wie ein Geschwür oder ein Bandwurm, zehrt von meiner Lebenskraft und tritt immer dann auf den Plan, wenn es mir zu gut geht. Zu gut im dem Sinne, dass mir ja aufgrund des vor Jahrzehnten gefällten Urteils und der Schuld, die seit dem Tod meiner Mutter auf mir liegt, kein Lebensglück zusteht. Das Bild vom Engelchen und Teufelchen, die auf den Schultern jedes Menschen sitzen, ist sicherlich bekannt. Die beiden liegen meist im Streit miteinander, mischen sich ständig ein, reden zu oder raten ab. Ich glaube nicht an Götter, Engel oder Teufel. Doch in mir existiert ein Saboteur, der wie ein boshafter Steuermann immer wieder das Ruder herumreißt, sobald mein Lebensschiffchen in ruhiges Gewässer oder gar in die Nähe einer idyllischen Insel gerät.

Das Wort Saboteur stammt vom französischen sabot, dem Holzschuh. Angeblich warfen empörte Arbeiter während der industriellen Revolution ihre Holzschuhe in Mäh- und Dreschmaschinen, und brachten sie so zum Stillstand. So protestierten sie gegen die zunehmende Mechanisierung der Arbeit. Wo vorher viele Menschen von Hand mit Sense und Dreschflegel arbeiteten, ratterten nun Maschinen. Zu ihrer Bedienung waren nur noch wenige Arbeiter nötig und Armut breitete sich aus, daher die Empörung.

Mein Saboteur hat die Aufgabe, mir das Leben zur Hölle zu machen und mich der gerechten Strafe zuzuführen, denn dazu habe ich ihn vor langer Zeit bestimmt. Nicht bewusst und wissentlich, sondern durch den Urteilsspruch meines inneren Richters. Den Saboteur gibt es nur, damit ich für meine Schuld büße. Ja, das klingt sicherlich ziemlich verrückt. Zum Glück bin ich an diesem Widerspruch noch nicht irre geworden. Und erfreulicherweise hatte ich bisher genug Kraft, um mich gegen den Saboteur zu wehren, denn er arbeitet sehr gewissenhaft. Seine Aufgabe ist erst erfüllt, wenn ich tot bin. Bis dahin muss er Glück und Liebe verhindern, muss Kummer und Einsamkeit herbeiführen. Auch wenn es ihm gelingt, mich in den Freitod zu treiben, hätte er sein Ziel erreicht, hätte mich und seinen Auftrag erledigt. In den letzten Jahren fehlte manchmal nicht viel daran.

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