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KAPITEL 3

Der dritte Verteidiger

Zur nachhaltigen Faszination des Fußballs gehört unter anderem die Ganzheitlichkeit des Spiels. Eine kleine Veränderung auf einem Teil des Platzes kann an anderen Stellen ebenso unerwartete wie drastische Folgen haben. Als die britischen Fußballverbände das International Board 1925 von einer Lockerung der Abseitsregel überzeugten, war dies die Reaktion auf eine schon länger anhaltende Torflaute. Notts County hatte die Abseitsfalle eingeführt, und bald beherrschten diese auch weitere Vereine – insbesondere Newcastle United mit dem Verteidigerpaar Frank Hudspeth und Bill McCracken – so gut, dass praktisch nur noch auf einem schmalen Streifen beiderseits der Mittellinie gespielt wurde. Mit Newcastles 0:0 beim FC Bury im Februar 1925 war das Maß voll. Mit diesem Ergebnis hatten die Magpies in jener Saison bereits das sechste torlose Unentschieden erreicht. Gleichzeitig fielen in der Saison insgesamt nur 2,58 Tore pro Spiel, für damalige Verhältnisse unglaublich wenig. Der Fußball war langweilig geworden, die Zuschauerzahlen sanken. Die FA kam ausnahmsweise einmal nicht nur zu der Erkenntnis, dass etwas unternommen werden musste – sie unternahm auch tatsächlich etwas.

Die Abseitsregel hatte seit 1866 nur geringfügige Änderungen erfahren. Sie schrieb vor, dass das Abseits für einen Angreifer dann aufgehoben war, wenn sich mindestens drei gegnerische Spieler zwischen ihm und dem Tor der anderen Mannschaft befanden. Nun aber reagierten die Funktionäre auf den zunehmenden Einsatz der Abseitsfalle. Ein Beispiel für einen solchen Einsatz findet sich in der Partie zwischen Schottland und England im Hampden Park im April 1906. Nachdem sich der linke Außenläufer Harry Makepeace verletzt hatte, zog Englands Kapitän S.S. Harris (Corinthians) nicht wie sonst üblich einen der Stürmer auf die Läuferreihe zurück, sondern verschob Linksverteidiger Herbert Burgess nach vorne und ließ mit einer hohen Abseitslinie spielen. Rechtsverteidiger Robert Crompton stand tief und kümmerte sich um lange Bälle und Durchbrüche. Der Rest der Mannschaft rückte bis auf etwa 20 Meter vor die schottische Torlinie vor und schnürte die Schotten quasi vor dem eigenen Tor ein.

„Nachdem Harris alle informiert hatte, dass man auf Sicherheit spielen wolle, wurde die Begegnung zu einer Farce“, schäumte der Schreiber eines zeitgenössischen Berichts, zitiert in Brian James’ Buch England v Scotland von 1970. „Das Publikum nahm die Änderung am vorderen Teil wahrhaft übellaunig auf. Es reagierte verdrossen darauf, dass Crompton hinten stand, die englische Abwehr sich unter die schottischen Stürmer mischte und diese dann in schöner Regelmäßigkeit keine 20 Meter vor ihrem eigenen Tor ins Abseits stellte.“ Zwar verloren die Engländer trotzdem mit 1:2, doch der Aufschrei im fußballerischen Establishment ließ nicht lange auf sich warten. „Das Spiel mit einem Verteidiger, wie es seitens der Engländer praktiziert wurde, gilt im Vereinsfußball immer als verwerflicher Zug“, hieß es in einem anderen Bericht. „Dennoch bleibt auch bei einer Nationalauswahl die Frage offen, ob es von sportsmännischem Verhalten zeugt, wenn man auf einen solchen Akt der Verzweiflung zurückgreift, um die Zahl der Treffer niedrig zu halten.“ Harris, der England in allen drei 1906 bestrittenen Spielen als Kapitän aufs Feld geführt hatte, lief nie wieder für sein Land auf. Im Jahr darauf wurde die Abseitsregel dahingehend geändert, dass kein Spieler mehr in der eigenen Hälfte im Abseits stehen konnte.

Doch nachdem die Idee der Abseitsfalle erst einmal in der Welt war, ließ sich das Rad nicht mehr zurückdrehen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fand die List zunehmend Verbreitung. Die Verteidiger Herbert Morley und Jock Montgomery, die zusammen bei Notts County spielten, waren darin Pioniere. Doch am meisten wurde die Abseitsfalle mit dem erwähnten Bill McCracken in Verbindung gebracht. Zeitgenössische Cartoons zeigen ihn frohlockend in die Hände klatschen, weil er wieder mal einen Abseitspfiff zu seinen Gunsten bekommen hat.

Heutzutage denkt man beim Begriff Abseitsfalle eher an Arsenal zu Zeiten von Trainer George Graham, und es erscheinen Bilder der Viererabwehrkette vor dem geistigen Auge, wie sie perfekt auf einer Linie die Arme nach oben reißt. Vor 1925 funktionierte die Abseitsfalle allerdings nach völlig anderen Grundregeln, weil die beiden Verteidiger, wenn überhaupt, nur selten auf einer Linie spielten. Hauptvertreter dieses gestaffelten Systems waren West Broms Jesse Pennington und Blackburns Bob Crompton, die vor dem Ersten Weltkrieg erstaunliche 23-mal gemeinsam für England spielten. „Während Crompton ein gutes Stück nach hinten geht, rückt der Mann von West Bromwich auf dem Feld weiter nach vorn – mitunter ein ganz beträchtliches Stück, bis er die Erscheinung eines vierten Läufers abgibt“, erklärte Stürmer Charlie Wallace von Aston Villa. „Ihm eigen ist die verwegene Spielweise eines Abwehrmannes. Obgleich dieses Vorrücken mitunter bedeutet, dass er einen schnellen Lauf tun muss, um einen Spieler abzufangen, ermöglicht es im Zusammenwirken mit der Sicherheitstaktik Cromptons dem Duo doch häufig, einen Angriff bereits an seinem Ausgangspunkt zu unterbrechen. Denn Pennington befindet sich dann an dem Ort, wo ihn der Stürmer am wenigsten erwartet.“

Die Abseitsregel, die drei verteidigende Spieler vorschrieb, damit ein Angreifer nicht im Abseits stand, hatte zur Folge, dass die Angreifer ihr Stellungsspiel an dem weiter vorne stehenden Verteidiger ausrichten mussten, während der zweite Verteidiger folglich als Ausputzer agieren konnte. Newcastles McCracken hatte über die Jahre zahlreiche Partner, von denen der erwähnte Hudspeth der bekannteste war. „Natürlich bekomme ich zu hören, dass McCrackens Methode dem Fußball nicht gut tut, verdirbt sein Einfallsreichtum doch nicht eben wenige Partien“, schrieb Hudspeth in einer Verteidigung der Abseitsfalle im Sheffield Telegraph and Star Sports Special. „Doch genau hier liegt der Fehler. Es sind nicht die Methoden McCrackens, welche die Spiele verderben. Die Spiele werden verdorben, weil die gegnerischen Angreifer sich nicht die Mühe machen wollen, Maßnahmen zu ersinnen, welche diese Abseitstaktiken zunichtemachen. Nun gibt es doch aber eine famose Aufhebungsklausel zur Abseitsregel, welche die Angreifer ständig und nur zu gerne zu vergessen scheinen. Bleiben sie nämlich hinter dem Balle, können sie nicht im Abseits stehen, gleichgültig, ob McCracken herausläuft oder sonst etwas tut.“

Doch die Funktionäre waren besorgt. 1921 kam es zu einer weiteren Optimierung der Regel. Nun war es nicht mehr möglich, dass ein Spieler nach einem Einwurf abseits stand. Spätestens 1925 war dann offensichtlich, dass noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden mussten. Die FA schlug zwei mögliche Lösungen vor: Nach der ersten sollten sich nur noch zwei Spieler vor dem Angreifer befinden müssen; der zweiten zufolge wäre in jeder Spielhälfte eine zusätzliche Linie 36,5 Meter vor dem Tor eingezogen worden, hinter welcher der Angreifer nicht abseits stand. Sogleich machte sich die FA daran, beide Regeln in einer Reihe von Schaukämpfen zu testen. Man spielte eine Halbzeit lang mit der ersten und während der anderen mit der zweiten Variante.

Im Juni 1925 entschied die FA dann auf einer Tagung in London, jener Variante den Vorzug zu geben, bei der zwei verteidigende Spieler zur Aufhebung des Abseits genügten. Der schottische Verband übernahm die Änderung bald darauf ebenfalls und brachte die Regeländerung auch als Vorschlag beim International Board ein. Zur Saison 1925/26 wurde die neue Regel dann eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte eine mit Abseitsfalle spielende Mannschaft einen Verteidiger zur Absicherung zurückbehalten können, wenn sein Nebenmann zum Abfangen eines Angreifers vorstieß. Unter der neuen Regel bestand nun das Risiko, dass eine Fehleinschätzung der Situation zu einer Eins-zu-eins-Situation zwischen Angreifer und Torhüter führte.

Oberflächlich betrachtet, war die Regeländerung ein sofortiger Erfolg. Die durchschnittliche Zahl der Tore pro Spiel erhöhte sich auf 3,69. Die Änderung rief jedoch auch tiefgreifende Veränderungen in der Spielweise hervor und führte zur Entwicklung des „dritten Verteidigers“ bzw. W-M-Systems durch Herbert Chapman – eine Entwicklung, die nach weitverbreiteter Meinung zum Niedergang und zunehmend unansehnlichen Charakter des britischen Fußballs führte.

Am nachdrücklichsten vertrat diese These Hugo Meisls jüngerer Bruder Willy in seinem Buch Soccer Revolution, das als Reaktion auf Englands 1953 erlittene 3:6-Niederlage gegen Ungarn entstand. Meisl war bereits ein glühender Verehrer Englands gewesen, bevor er vor dem wachsenden Antisemitismus in Österreich floh und sich in London niederließ. In seinem Buch trauert er dementsprechend der alten Zeit nach, die er aber tatsächlich nur aus Erzählungen kannte und wahrscheinlich idealisierte. Meisl war zwar eine geachtete Persönlichkeit im Sportjournalismus – er berichtete hauptsächlich für ausländische Medien über den englischen Fußball –, doch zumindest für den heutigen Leser stellt Soccer Revolution eine äußerst exzentrische, wenn auch gut geschriebene Arbeit dar. Aus Meisls Sicht entsprach die Änderung der Abseitsregel dem Sündenfall des Fußballs, mit ihr sei seine Unschuld verloren gegangen, und der Kommerz habe den Sieg davongetragen. Vielleicht ist da sogar etwas dran. Allerdings war sie höchstens der Beginn einer Entwicklung, die inzwischen gewaltige Ausmaße annimmt.

Willy Meisl war nicht weniger romantisch als sein Bruder. Seiner Auffassung nach hatten die bornierten Vereinsbosse, deren einziges Interesse den Bilanzen galt, für die Schwächen des Fußballs einfach die Regeln verantwortlich gemacht. Daran, dass sie sich womöglich einer „falschen Denkweise bezüglich des Spiels schuldig machten“, hätten sie dagegen niemals einen Gedanken verschwendet. Also hätten sie eine Politik durchgesetzt, die „für den Laien wie eine kleine Verbesserung der Spielregeln ausgesehen haben mochte“, die sich jedoch „als der Knall eines Schusses erwies, der eine Lawine in Gang setzte“.

An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Mal die Kluft zwischen erfolgreichem und schönem Fußball. Heutzutage spielt diese Debatte nur noch eine nebensächliche Rolle. In den 1920er Jahren allerdings war sie lebendig genug, um die Idee einer Liga als solche – eines „Alptraums“, wie Brian Glanville tönte – in Frage zu stellen. „Die durchschnittliche Qualität eines Spiels würde sich deutlich erhöhen, wenn das Ergebnis nicht das einzig wichtige Ziel eines Spieles wäre“, räumte auch Chapman ein. „Die Angst vor der Niederlage und dem Punktverlust zerstören das Selbstvertrauen der Spieler. … Unter entsprechend guten Rahmenbedingungen wären die Profis wesentlich leistungsfähiger, als man annehmen möchte. Es scheint also, dass wir die Bedeutung von Siegen und Punkten minimieren müssen, wenn wir besseren Fußball sehen wollen.“ Und der ehemalige Spurs-Kapitän Danny Blanchflower meinte, dass es „ein großer Trugschluss [sei], dass es sich beim Fußball in erster Linie ums Gewinnen dreht; es geht um Ruhm, darum, die Dinge mit Stil zu tun.“

Aber selbst wenn man dem zustimmt, wollte man die Entscheidung doch trotzdem nicht einer Jury überlassen, die wie beim Eiskunstlauf Noten von eins bis zehn vergibt. Es ist nun mal eine traurige Wahrheit, dass diejenigen, die gewinnen wollen, sich auch unattraktiver Methoden bedienen. Selbst die Argentinier begannen nach den glorreichen Zeiten von La Nuestra damit, und die Österreicher hätten es trotz ihres ästhetischen Bewusstseins wohl ebenso getan, wäre ihnen der Faschismus nicht zuvorgekommen. Goldene Zeitalter sind nun mal nicht für die Ewigkeit bestimmt.

Infolge der geänderten Abseitsregel fand das Spiel wieder auf größerem Raum statt, da die Angreifer nun mehr Bewegungsfreiheit hatten. Das Kurzpassspiel wurde durch längere Bälle abgelöst. Manche Mannschaften kamen damit besser zurecht als andere, und zu Beginn der Saison 1925/26 stachen einem die unberechenbaren Ergebnisse besonders ins Auge. Insbesondere Arsenal tat sich durch mangelnde Konstanz hervor. Nachdem sie am 26. September Leeds United mit 4:1 abgefertigt hatten, wurden sie am 3. Oktober von Newcastle United mit 7:0 abgeschossen.

Charlie Buchan, Arsenals rechter Innenstürmer und wahrscheinlich der größte Star der Mannschaft, war voll des Zorns und verkündete Trainer Chapman, dass er zurück in den Nordosten gehen wolle. Dort hatte er beim AFC Sunderland zuvor diverse Erfolge gefeiert. Dieses Arsenal aber, so sagte Buchan, sei eine Mannschaft ohne Konzept, eine Mannschaft ohne Aussichten auf irgendeinen Titel. Chapman muss daraufhin um sein Lebenswerk gebangt haben, und Buchans Worte dürften ihm einen besonders heftigen Stich versetzt haben – war Chapman doch durch und durch ein Planer.

Herbert Chapman stammte aus der kleinen, zwischen Sheffield und Worksop liegenden Bergbaustadt Kiveton Park. Hätte es den Fußball nicht gegeben, wäre er wohl dem Beispiel seines Vaters gefolgt und Bergarbeiter geworden. Zunächst spielte Chapman für die Stalybridge Rovers, dann für den damaligen AFC Rochdale, für Grimsby Town, Swindon Town, Sheppey United, Worksop Town, Northampton Town, Notts County und schließlich für Tottenham Hotspur. Als Spieler war er ein Wandervogel: gut genug zwar, um nicht in den Berg einfahren zu müssen, aber auch kaum mehr. Wenn er überhaupt in seiner Laufbahn als Spieler auffiel, dann durch seine blassgelben Schuhe aus Kalbsleder. Chapman trug sie in der Überzeugung, dass seine Mannschaftskameraden ihn auf diese Weise leichter erkennen würden – ein frühes Indiz für den Erfindungsgeist, der ihm als Trainer so gute Dienste leisten sollte.

Indessen begann Chapmans Trainerkarriere ohne großes Aufsehen. Nach einem Freundschaftsspiel für Tottenhams Reservemannschaft im Frühjahr 1907 lag er gerade in der Badewanne, als sein Mitspieler Walter Bull ein Angebot als Spielertrainer erwähnte, das er von Northampton Town bekommen hatte. Allerdings wollte er lieber seine aktive Karriere als Spieler fortsetzen. Chapman bekundete sein Interesse, Bull empfahl ihn weiter, und Northampton verpflichtete ihn – nachdem man sich dort zuvor vergeblich um den ehemals bei Stoke City und Manchester City aktiven Mittelläufer Sam Ashworth bemüht hatte.

Chapman wollte als Anhänger des schottischen Kurzpassspiels mit seiner Mannschaft jene „Raffinesse und Listigkeit“ zeigen, die er mit dieser Art von Fußball verband. Nach einer Reihe von vielversprechenden Erfolgen zu Beginn der Saison ließ Northampton jedoch nach. Eine Heimniederlage gegen Norwich City im November bedeutete schließlich den Absturz auf den fünftletzten Platz in der Southern League. Chapman erlebte seine erste Krise, und seine Antwort darauf war zugleich seine erste großartige Idee. Er erkannte, dass „eine Mannschaft auch zu lange angreifen kann“, und ermunterte deshalb seine Truppe, sich zurückfallen zu lassen. Sein Ziel bestand nicht so sehr darin, die gegnerischen Stürmer aufzuhalten. Vielmehr wollte er die Verteidiger des Gegners herauslocken und damit Räume für Angriffe schaffen. Mit Erfolg: Weihnachten 1908 befand sich Northampton Town an der Spitze der Southern League und fuhr schließlich mit der Rekordmarke von 90 Toren den Titel ein.

1912 wechselte Chapman zu Leeds City und führte den Verein in den beiden Spielzeiten vor dem Ersten Weltkrieg vom vorletzten Platz der zweiten Liga auf den vierten Rang. In dieser Zeit kam ihm auch die Idee zu einer seiner denkwürdigsten Neuerungen. Nachdem er die leidenschaftlichen Diskussionen einiger Spieler bei einer Runde Karten beobachtet hatte, führte er Mannschaftsgespräche ein. Der Krieg stoppte jedoch die weitere Entwicklung. Die Vorwürfe illegaler Zahlungen seitens des Vereins an Spieler erwiesen sich allerdings als mindestens genauso schädlich für Chapman und den Klub. Nachdem sich Leeds City geweigert hatte, seine Bücher offenzulegen, schloss man den Verein aus der Liga aus und sperrte Chapman im Oktober 1919 auf Lebenszeit für den Fußball.

Chapman trat daraufhin im Städtchen Selby eine Tätigkeit bei der Fabrik von Olympia Oil and Cake an. Zwei Jahre später erhielt er jedoch von Huddersfield Town ein Angebot für den Posten des Assistenten von Trainer Ambrose Langley, der vor dem Krieg an der Seite seines inzwischen verstorbenen Bruders Harry gespielt hatte. Chapman war begeistert und legte Berufung bei der FA ein. Er verwies darauf, dass er zum Zeitpunkt der angeblichen illegalen Zahlungen gar nicht für den Klub, sondern für die Barnbow-Waffenfabrik in der Nähe von Leeds gearbeitet hatte. Die FA zeigte sich gnädig, und Chapman trat sein Amt an.

Als Langley einen Monat darauf entschied, lieber Wirt eines Pubs zu werden, wurde Chapman selbst zum Trainer befördert. Er unterrichtete die Führungsetage sogleich darüber, dass man zwar eine talentierte junge Truppe beisammen habe, diese aber einen „General zur Führung“ brauche. Clem Stephenson von Aston Villa war seiner Meinung nach genau der richtige Mann dafür. Der 33-Jährige ließ sich im Spiel gern in die eigene Hälfte zurückfallen, um dann vorzustoßen und so die Abseitsfalle zu sprengen. Diese Spielweise kam Chapman sehr entgegen, maß er dem Kontern doch großen Wert bei.

Leistung und Zuschauerzahlen stiegen rasch an, während Chapman, der sich immer für das große Ganze interessierte, den Rasen und die Pressekabinen erneuern ließ. 1922 gewann Huddersfield den FA-Pokal, obwohl das Vereinsmaskottchen – ein ausgestopfter Affe – bei den Feierlichkeiten nach dem Halbfinalsieg über Notts County in Flammen aufgegangen war. Im Stadion an der Stamford Bridge zu London verwandelte Billy Smith im Finale in der letzten Minute einen Strafstoß zum Sieg über Preston North End.

Seitens der Funktionäre war man jedoch alles andere als beeindruckt. Das Spiel war schlecht und von Nickligkeiten geprägt gewesen, was die FA dazu bewog, ihr „tiefes Bedauern“ anlässlich des beobachteten Verhaltens auszudrücken, und sie zugleich die Hoffnung auf „kein vergleichbares Betragen in irgendeinem zukünftigen Finalspiel“ aussprechen ließ. Huddersfield erkundigte sich, was damit gemeint sei. Die FA entgegnete, dass der Verein Anstößigkeiten beanstanden solle, wenn sie auffielen. Die unklare Formulierung führte dazu, dass viele Leute dies als einen Tadel für Chapman verstanden. Schließlich hatte er seinen Mittelläufer Tom Wilson tiefer als gewöhnlich spielen lassen und dieser nach Meinung des Huddersfield Examiner als „großer Spielverderber“ agiert.

Aus heutiger Sicht lässt sich natürlich nicht mehr feststellen, ob die FA etwas derart Konkretes im Sinn hatte. Deutlich wird hier aber wieder die Vorstellung von einer „richtigen Spielweise“, von der Chapman nach Meinung des Verbandes abgewichen war. Die taktische Aufstellung Wilsons legt nahe, dass dieser die Anweisung zum Stören des gegnerischen Mittelstürmers Billy Roberts, wenn nicht sogar zur Manndeckung bekommen hatte – ein Indiz dafür, dass der Innenverteidiger bzw. mittlere Vorstopper bereits in der Entstehung begriffen war und möglicherweise auch ohne die Änderung der Abseitsregel gekommen wäre.

Rückblickend betrachtet scheint der Mittelläufer mit Vorstopperfunktion in der Schottischen Furche bereits implizit angelegt gewesen zu sein, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis sich dieser Gedanke durchsetzte. Trafen zwei 2-3-5-Formationen aufeinander, standen sich ja quasi fünf Angreifer und fünf Verteidiger gegenüber. Dabei war der Mittelläufer ausnahmslos für den Mittelstürmer zuständig, wohingegen einige Mannschaften ihre nominellen Verteidiger statt der Halbstürmer bevorzugt die gegnerischen Flügelstürmer abdecken ließen. In dem Fall übernahmen dann die Außenläufer die Halbstürmer. Andere Mannschaften gingen umgekehrt vor. Sheffield Uniteds rechter Läufer W.H. Brelsford hielt fest, dass es „eine Tendenz zum Auseinanderdriften der Verteidigung“ gebe, wenn der nominelle Verteidiger sich um den Flügelstürmer kümmerte. Gleichzeitig bestätigte er aber, dass die Außenläufer schneller in der Lage seien, die gegnerischen Halbstürmer zu blocken. Mit anderen Worten: Wie so oft hatten beide Systeme ihre Vor- und Nachteile, und welchem man den Vorzug geben sollte, hing ganz von den Umständen ab.

In beiden Systemen hatte der Mittelläufer schon frühzeitig zumindest ein paar Defensivaufgaben, und an der Notwendigkeit einer ausgewogen besetzten Läuferreihe bestand so gut wie kein Zweifel mehr. „Mitunter bin ich mir gar nicht sicher, ob es sich tatsächlich lohnt, drei Läufer in einer Mannschaft zu haben, die bis zur Perfektion ihre Stürmer einsetzen können“, schrieb Brelsford im Januar 1914. „Sie alle schwelgen so sehr in diesem Part des Spieles, dass der defensive Teil darunter zu leiden neigt. Am besten wäre meiner Meinung nach eine gute Mischung aus Kraft und Technik, ohne dass alle drei Männer exakt dieselbe Art von Spiel spielen. Hat man ein Paar von leichtfüßigen Verteilern, dann möchte man in ihrer Begleitung einen entschlossenen Zerstörer sehen; hat man zwei starke Spielverderber – nun, dann ist es unerlässlich, einen dritten Mann zu haben, der erstklassig verteilen kann.“

Manche Mittelläufer spezialisierten sich bereits in den Vorkriegsjahren auf die Verteidigung. 1909 verpflichtete beispielsweise Newcastle United, bekannt für seine offensiv ausgerichtete Läuferreihe, Mittelläufer Wilf Low vom FC Aberdeen. Offenbar sollte er die kreativeren Spieler neben sich absichern. In einem rückblickenden Beitrag im Sheffield Telegraph and Star Sports Special hieß es, dass Low „über die gesamte Saison [1910/11] den guten Ruf beinahe jeden Mittelstürmers vernichtete, auf den er traf“.

Tendenziell agierte der Mittelläufer auf jeden Fall defensiver als die Außenläufer, also die beiden Mittelfeldspieler, die ihn flankierten. Sheffield Uniteds Verteidiger Bernie Wilkinson schrieb, dass „der Mittelläufer der Defensive die größere Aufmerksamkeit widmen sollte und die Außenläufer der Offensive“. Zugleich verwies Bristol Citys Mittelläufer Billy Wedlock darauf, dass „der Mittelläufer auf den gegnerischen Mittelstürmer aufpassen muss. Tut er das und erledigt seine Arbeit gut, kann auch der beste Mittelstürmer der Welt nicht glänzen, solange ihm der attackierende Terrier im Nacken sitzt.“

Schon 1897 hatte C. B. Fry eine Taktik erwähnt, bei der der Mittelläufer rein defensiv eingesetzt wurde. In der Encyclopedia of Sports and Games schrieb er: „Mitunter, wenn die eine Seite mit einem oder zwei Toren führt und man ein rein defensives Spiel für ratsam hält, wird ein dritter Verteidiger hinzugenommen, indem man die Anzahl der Stürmer reduziert. … In puncto eines Tauschs mittels Abzug eines Stürmers und Einsatz eines weiteren Verteidigers lässt sich eine Menge anmerken: dass man an drei Verteidigern nur mit größter Mühe vorbeikommt. … Solange allerdings die solchermaßen verschobenen Spieler nicht vielseitig begabt und in der Lage sind, die Pflichten ihrer veränderten Position zu erfüllen …, ist es gewiss nicht ratsam, einen dritten Verteidiger einzusetzen, sofern der zusätzliche Mann nicht ein tüchtiger Mann auf dieser Position ist.“

Einen Stürmer zurückzuziehen ist zweifellos etwas anderes, als den Mittelläufer tiefer spielen zu lassen. Dass sogar jemand mit so traditionalistischen Denkansätzen wie Fry zur Duldung eines zusätzlichen Verteidigers bereit war, deutet jedoch darauf hin, dass das 2-3-5 nicht so heilig war, wie es manchmal aussieht. Seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war es offenbar nicht mehr außergewöhnlich, dass Mannschaften ihren Mittelläufer in schwierigen Auswärtsspielen weiter nach hinten verschoben. Chelseas ehemaliger Trainer David Calderhead beispielsweise sagte in einem Interview mit Thomson’s Weekly im Jahr 1933: „Ich kann mich erinnern, dass der Fußball mit einem dritten Verteidiger zu meinen aktiven Zeiten als Spieler eine sehr wirksame Alternative sein konnte. Zu den besten Vertretern gehörte Herbert Dainty, der ehemalige Mittelläufer bei Notts County und beim FC Dundee.“

Zwar gab es auch noch weitere vereinzelte Fälle, in denen Vereine ihre Mittelläufer verteidigen ließen. Das Besondere an der Spielweise von Huddersfield Town unter Chapman war jedoch weniger der defensiv eingesetzte Mittelläufer als die ganz eigene Spielweise, die man dort entwickelte. Diese entstand aus dem Misstrauen des Trainers gegenüber dem in Großbritannien so verehrten Flügelspiel. Das Kurzpassspiel durch die Mitte war Chapmans Ansicht zufolge „tödlicher, wenn auch weniger spektakulär“ als die „sinnlose Strategie, die Außenlinien entlangzurennen und direkt vor das Tor zu flanken, wo der Ball in neun von zehn Fällen bei den Verteidigern landet“. Nachdem sich Huddersfield 1924 den Titel in der Meisterschaft gesichert hatte, schrieb der Examiner, dass die „flach gehaltenen Pässe und das lang angelegte Spiel der Mannschaft von der Leeds Road nun berühmt geworden sind“.

Chapman besaß nicht einfach nur ein klares Konzept, wie Fußball gespielt werden sollte, sondern hatte auch die Möglichkeit, es umzusetzen. In Großbritannien war er der erste Fußballmanager moderner Prägung, jener mit totaler Kontrolle über den Verein ausgestattete Mann, der über alles entschied: von den Verträgen über die taktische Ausrichtung bis hin zur Auswahl der Musik, die zur Unterhaltung des Publikums vor dem Spiel und während der Halbzeitpause gespielt wurde. Als Huddersfield sich 1925 auf dem Weg zur Titelverteidigung befand, fragte der Sporting Chronicle:„Verstehen die Vereine heutzutage eigentlich wirklich, wie wichtig der Mann ist, dem sie die Leitung anvertrauen? Man ist bereit, für die Dienste eines Spielers bis zu 4.000 oder 5.000 Pfund zu bezahlen. Legt man denn genauso viel Wert auf den Offiziellen, dem der Spieler anvertraut wird? Der Mann hinter den Kulissen, der Spieler sichtet, Talente ausbildet und das Beste aus den Leuten, denen er vorsteht, herausholt, müsste aus der Perspektive des Klubs doch eigentlich der wichtigste Mann sein.“

Im darauffolgenden Jahr feierte Huddersfield die dritte Meisterschaft in Folge, doch zu diesem Zeitpunkt war Chapman längst fort. Ihn lockte das aus seiner Sicht noch größere Potenzial von Arsenal. Erstaunlich, wenn man sich die damalige Situation dort vergegenwärtigt: Arsenal kämpfte gegen den Abstieg und litt mit Sir Henry Norris zudem unter einem eigenwilligen und patriarchalischen Vorsitzenden. Chapmans Vorgänger Leslie Knighton war es beispielsweise untersagt worden, mehr als 1.000 Pfund für einen Spieler hinzublättern – wohlgemerkt zu einer Zeit, in der Ablösesummen von 3.000 Pfund an der Tagesordnung waren. Zudem hatte Norris ihm verboten, Spieler mit einer Größe von weniger als 1,73 Meter zu verpflichten. Als Knighton sich darüber hinwegsetzte und 1923 den gerade einmal 1,52 Meter großen Hugh „Zwerg“ Moffatt vom AFC Workington holte, schob Norris diesen noch vor dem ersten Ligaspiel zu Luton Town ab. Knighton wurde am Ende der Saison 1924/25 entlassen. Als Grund gab Norris schwache Ergebnisse an. Knighton behauptete dagegen, dass der Verein ihm damit lediglich die Zahlung einer Prämie verweigern wollte, auf die er nach einem Benefizspiel noch Anspruch hatte.


Herbert Chapman, der Erfinder des W-M-Systems.

Chapman warnte, dass er fünf Jahre bräuchte, bis er einen Titel holen würde. Er übernahm den Job zudem nur unter der Bedingung, dass er keine derartigen Einschränkungen auferlegt bekomme wie Knighton. Zögernd erklärte sich Norris damit einverstanden. Chapmans erste Verpflichtung war Charlie Buchan, dessen Marktwert der AFC Sunderland auf 4.000 Pfund bezifferte. Sunderlands Manager Bob Kyle begründete diese Summe damit, dass Buchan eine Garantie auf mindestens 20 Tore pro Saison mitbringe. Wenn er sich dessen so sicher sei, entgegnete ihm Norris, so solle die Ablöse doch an Buchans Torbilanz ausgerichtet werden: 2.000 Pfund als feste Zahlung, plus 100 Pfund pro erzieltem Tor während der ersten Saison. Kyle erklärte sich einverstanden, Buchan schoss 21 Tore, und Sunderland nahm dankend die 4.100 Pfund entgegen.

Das war im September 1925, nach der eingangs erwähnten 0:7- Niederlage gegen Newcastle, jedoch noch nicht abzusehen. Buchan war ein Typ mit Ecken und Kanten. Gleich an seinem ersten Tag bei Arsenal war er sofort wieder gegangen, weil er die Spielkleidung für unangemessen hielt. Am zweiten Tag verweigerte er das Training, weil er einen vertrockneten Klumpen Vaseline in seinen angeblich frisch gewaschenen Socken gefunden hatte. Manch ein Trainer hätte dies wohl als Aufsässigkeit oder übertriebene Mäkelei eingestuft, Chapman dagegen schien dieses Verhalten eher als Beleg für hohe Ansprüche zu verstehen. Außerdem bewunderte er an Buchan dessen eigenständiges Nachdenken über Fußball, etwas für einen Spieler dieser Zeit sehr Ungewöhnliches. Der ehemalige Schiedsrichter John Lewis schrieb 1914, dass „unsere Profis kein großes Bemühen bekunden, irgendetwas über die Theorie des Sports zu lernen. … In den meisten Mannschaften lässt sich kein Hinweis für eine vorher festgelegte Taktik oder durchdachte Manöver erkennen.“ Obwohl Chapman die Spieler zum Meinungsaustausch immer wieder ermuntert hatte, änderte sich daran vorerst nicht viel.

Buchan war durch seinen Sunderlander Mitspieler Charlie Thomson auf die durchschlagende Wirkung eines defensiv eingesetzten Mittelläufers aufmerksam geworden. Thomson hatte seine Karriere als Mittelstürmer begonnen und war später zu einem Mittelläufer geworden, der sich in die Abwehrreihe zurückfallen lassen konnte. Aufgrund der geänderten Abseitsregel plädierte Buchan schon seit Beginn der Saison dafür, den Mittelläufer defensiver aufzustellen. Dafür sprach auch, wie tief Newcastles Mittelläufer Charlie Spencer bei Arsenals Niederlage im St. James Park gestanden hatte. Er hatte wenig zur Offensive beigetragen, dafür aber Arsenals Angriffe immer wieder schon in der Entstehung zerstört und Newcastle somit bei Ballbesitz und Raumaufteilung die Oberhand verschafft. Chapman ließ sich schließlich überzeugen. Allerdings bleibt es ein Geheimnis, weshalb er trotz seiner Vorliebe für das Konterspiel nicht eher darauf gekommen war. Auch wenn er sich durch Autorität eigentlich nicht leicht einschüchtern ließ, mögen die Worte der FA nach dem Pokalfinale von 1922 durchaus noch eine Rolle gespielt haben – besonders, wenn man bedenkt, was der Verband mit der Aufhebung seiner Sperre auf Lebenszeit für ihn getan hatte.

Andere waren bereits zu den gleichen Schlüssen gekommen. Zwar bedeutet das mangelnde Interesse und Bewusstsein für taktische Aspekte des Fußballs, dass heute nur wenige Beweise dafür existieren, trotzdem ist einigermaßen gesichert, dass es den dritten Verteidiger schon lange vor der Änderung der Abseitsregel gab. Allerdings stärkte die Regeländerung den Mut zum taktischen Experiment. Sie brachte die Vereine dazu, sich mit dem Dominoeffekt zu befassen, der beim Einsatz eines dritten Verteidigers an anderen Stellen auf dem Platz entstand.

So schrieb George White beispielsweise am 3. Oktober 1925, dem Tag von Arsenals Offenbarungseid in Newcastle, in einer Kolumne im Southampton Football Echo, dass „die Saints [der FC Southampton] am Sonnabend [26.9.] im Dell [also im eigenen Stadion] gegen Bradford City aufgrund der Taktik besiegt wurden. Nach meiner Ansicht hatte die Heimmannschaft mehr vom Spiel als City und stellte auch den besseren Fußball zur Schau, sprich: Fußball, wie er gespielt wurde, bevor man die Abseitsregel änderte. Dafür war City in der Tat sehr intelligent am Ball, und die Taktik erledigte den Rest. Dementsprechend konnte City zwei Tore erzielen und die Saints dem nur einen Treffer entgegensetzen. In den Umkleidekabinen wird derzeit viel über etwas geredet, was weithin die W-Formation im Angriff genannt wird, mit der man den veränderten Spielbedingungen begegnen möchte. In dieser Formation rücken der Mittelstürmer und die beiden Außenstürmer ein gutes Stück auf dem Feld auf, wobei sie nur etwa einen Meter aus dem Abseits bleiben, und die beiden Halbstürmer rücken zurück und agieren als Fünf-Achtler. Mit anderen Worten: Sie operieren in einem Spielraum nahe den Außenläufern und hinter den drei aufgerückten Stürmern.“

Es wäre bereits sehr bemerkenswert gewesen, wenn White über Bradfords Trainer David Menzies lediglich als einem einsamen taktischen Querdenker gesprochen hätte. Doch White kam zu dem Schluss, dass das W-System im Angriff weit verbreitet war: „Die Zahl der Torerfolge heutzutage spricht dafür, dass es sich um das am häufigsten angewandte Mittel handelt, denn immerhin kommt es so gut wie nie vor, dass sich die Halbstürmer als Torjäger hervortun. Auf der anderen Seite hingegen schießen die Mittelstürmer mit erstaunlicher Häufigkeit fünf, vier und drei Tore pro Spiel, und auch die Männer draußen auf den Flügeln spielen eine bedeutende Rolle als Torschützen.“

Zu den größten Nutznießern der neuen Regel gehörte der FC Chelsea, wie Southampton damals Zweitligist. Der nicht mehr ganz junge schottische Nationalspieler Andy Wilson blühte in der Rolle des tief stehenden Halbstürmers noch einmal auf, da sich sein nachlassendes Tempo nun nicht mehr so gravierend auswirkte wie auf der höheren Spielposition in der Vorsaison. „Mit diesem Arrangement im Angriff“, so White weiter, „helfen die Halbstürmer als zusätzliche Außenläufer aus, wenn ihre Mannschaft verteidigen muss, und praktisch das gesamte Spiel über wird der Mittelläufer zu einem dritten Verteidiger.“

White drängte Southampton, gegen den FC Port Vale noch am gleichen Nachmittag auf die W-Formation umzustellen. Die Saints fügten sich und kamen zu einem achtbaren Auswärtsunentschieden. Beim Sieg gegen den FC Darlington am Montag darauf nutzten sie das W erneut. Am folgenden Sonnabend – sprich: eine Woche nach Southamptons Unentschieden in Port Vale und Arsenals Niederlage in Newcastle – richtete der Southampton Football Echo seine Scheinwerfer nach Schottland, auf Dave Morris von den Raith Rovers. Er galt als Musterbeispiel des modernen, tief spielenden Mittelläufers. White schrieb: „Er nimmt seine Position ein wenig vor und genau zwischen den Verteidigern ein, während sich die Außenläufer um die gegnerischen Außenstürmer kümmern, wodurch es die Verteidiger und der Mittelläuferverteidiger mit den drei Halbstürmern des Gegners zu tun haben [die Begrifflichkeiten sind an dieser Stelle ein wenig verworren – White meint den Mittelstürmer, den Halbrechten und den Halblinken]. In dieser Formation operieren die beiden Halbstürmer näher am Mittelläufer als bisher, und die Schaltzentrale versorgt die beiden, die dann ihrerseits den Angriff eröffnen, sobald sie eine Möglichkeit dazu sehen.“

Das W-System im Angriff verbreitete sich offenkundig sehr schnell – was durchaus erstaunlich ist, gab es damals doch noch keine Fernsehberichterstattung. Da so unterschiedliche Teams wie Southampton und Raith es schon Anfang Oktober einsetzten, scheint es nach sieben oder acht Spieltagen der neuen Saison ein landesweites Phänomen gewesen zu sein. Arsenal war ganz gewiss nicht der erste Klub, der den Mittelläufer zum dritten Verteidiger umfunktionierte. Dort brachte man das neue System jedoch regelmäßiger und erfolgreicher zum Einsatz als irgendwo sonst.

Buchan vertrat zunächst die Meinung, die auch Chapman teilte, dass durch das Zurückziehen des Mittelläufers eine Unterzahlsituation im Mittelfeld entstand. Er schlug vor, dass er sich aus seiner rechten Innenstürmerposition zurückfallen lassen könnte. Damit wäre ein nicht zu starres und leicht asymmetrisches 3-3-4 entstanden – ein Zwischending aus 2-3-5 und W-M-System. Chapman schätzte die Torgefahr Buchans jedoch zu sehr, um sie aufs Spiel setzen zu wollen. Deshalb übertrug er die Rolle des zurückgezogenen Innenstürmers Andy Neil. Da Neil der dritten Mannschaft angehörte, kam dieser Schritt zwar zunächst etwas überraschend, erwies sich jedoch als durchdachte Entscheidung, denn Chapman wusste genau, welche Fertigkeiten wo gebraucht würden. Chapmans spätere rechte Hand Tom Whittaker erinnerte sich, wie sein Boss Neil einmal als „lahm wie ein Trauerzug“ beschrieb. Gleichzeitig gab Chapman jedoch zu verstehen, dass ihm das egal sei, weil „er Ballkontrolle besitzt und mit dem Fuß auf der Kugel stehen bleiben kann, während er sich etwas überlegt“.

Nachdem man dann noch Jack Butler gebeten hatte, seine Kreativität etwas zu zügeln und als zurückgezogener Mittelläufer zu agieren, führte das System augenblicklich zum Erfolg. Zwei Tage nach dem Debakel in Newcastle schlug Arsenal mit Buchan, der durch das neue System wieder besänftigt worden war, West Ham United im Upton Park mit 4:1. Am Ende der Saison belegte Arsenal schließlich hinter Huddersfield Town den zweiten Rang, was die bis dahin beste Platzierung für einen Klub aus London bedeutete. Der Start in die darauffolgende Saison verlief jedoch schwach. Das lag zum einen an einer gewissen Selbstüberschätzung, die sich mit dem Erfolg eingeschlichen hatte. Zum anderen begannen gegnerische Mannschaften, Butlers fehlende Eignung im defensiven Bereich auszunutzen. Schon wurden Stimmen laut, die eine Rückkehr zum klassischen 2-3-5 forderten. Chapman sah das Problem jedoch eher darin, dass die Revolution nicht weit genug gegangen sei. Er brauchte als Mittelläufer einen Spieler, der die ihm zugedachte Rolle ohne Murren akzeptierte. Chapman fand ihn in Herbie Roberts, einem schlaksigen Rotschopf, den er für 200 Pfund von Oswestry Town holte.

Whittaker zufolge war Roberts intelligent und – noch wichtiger – tat, was man ihm sagte. Er mochte ein einseitig begabter Spieler gewesen sein, brachte aber genau die richtigen Fähigkeiten für seine Position mit. Seine Aufgabe, so schrieb Whittaker, war „das Abfangen aller Bälle in der Mitte, die er dann entweder per Kopf oder mit einem kurzen Pass zu einem Mitspieler beförderte. Seine Unfähigkeit bei harten oder weiten Schüssen fiel dabei nicht ins Gewicht.“ Bernard Joy, der letzte für England spielende Amateur und spätere Journalist, stieß 1935 als Roberts’ Stellvertreter zu Arsenal. „Er war ein geradliniger Spieler“, schrieb Joy in seinem Buch Forward Arsenal!, „und Butler in technischer Hinsicht deutlich unterlegen, aber er passte von seiner Physis und seinem Temperament genau in die Rolle, die er ausfüllte. Er war zufrieden mit seiner Position in der Abwehr, nutzte seine Größe, um den Ball mit seinem Rotschopf wegzunicken, und hatte die Ruhe, auch unter starkem Druck und lauten Schlachtgesängen gelassen weiterzuspielen. Seine seelenruhige Art machte ihn zum Eckpfeiler von Arsenals Verteidigung und begründete einen neuen Stil, der auf der ganzen Welt nachgeahmt wurde.“ Und das war in gewisser Weise auch das Problem. Arsenal spielte zwar bald höchst erfolgreich. Der Stil jedoch wurde von Mannschaften imitiert, die nicht über die dafür nötigen Spieler bzw. Mittel verfügten und das System lediglich zum Zerstören des Spiels einsetzten.

1927 verlor Arsenal noch das Finale im FA-Pokal gegen Cardiff City. 1929 musste Arsenal-Boss Norris gehen, nachdem durch eine Untersuchung des Verbandes finanzielle Unregelmäßigkeiten ans Licht gekommen waren. Schließlich aber stellten sich tatsächlich auch Erfolge ein. Mittelfeldmann Buchan hatte seine Karriere 1928 beendet. Als Ersatz wurde für 9.000 Pfund der kurzgewachsene Schotte Alex James von Preston North End verpflichtet. Er brachte Leben in Chapmans System. Die offizielle Geschichte des Vereins warnt davor, „James’ Beitrag für die in den 1930er Jahren so erfolgreiche Mannschaft Arsenals zu unterschätzen. Er war schlicht und einfach die Schlüsselfigur.“ Er bewegte sich überlegt und war äußerst geschickt darin, Räume zu finden, um dort den Ball zugespielt zu bekommen – am liebsten schnell aus dem Rückraum. Dazu besaß er die Kreativität und die Technik, den Ball dann ebenso schnell an die Stürmer weiterzuverteilen. Joy erklärte ihn zum „intelligentesten Spieler, mit dem ich zusammenspielte. … Auf dem Platz hatte er die Gabe, zwei oder drei Spielzüge im Voraus zu denken. Er drehte viele Spiele dadurch, dass er sich geschickt nahe des eigenen Strafraums positionierte und urplötzlich einen wirkungsvollen Pass in die Schwachstelle des Gegners schlug.“

1930 gewann Arsenal den FA-Pokal. Ganz wie Chapman versprochen hatte, hatte man also fünf Jahre nach seiner Verpflichtung den ersten Titel geholt. Das W im Angriff war mittlerweile fester Bestandteil, und das neue System hatte nun klare Konturen. Die nominellen Verteidiger deckten die Flügelstürmer anstelle der Halbstürmer, die Außenläufer standen gegen die gegnerischen Halbstürmer anstelle der Flügelstürmer, der zum zentralen Verteidiger gewordene Mittelläufer kümmerte sich um den Mittelstürmer, und beide Halbstürmer standen fortan tiefer: Das 2-3-5 war zu einem 3-2-2-3 geworden, zum W-M-System. Dieses erhielt seinen Namen durch die Grundposition der Spieler auf dem Spielfeld, die einem W bzw. M glich. Deutlich zu sehen ist dies in der grafischen Darstellung von Arsenals Aufstellung im FA-Finale.


Arsenal London – Huddersfield Town 2:0, FA-Pokalfinale, Wembley-Stadion, London, 26. April 1930.

Trophäen und Modernisierung gingen Hand in Hand. Zwar verhinderte die konservative FA die Einführung von Rückennummern und Flutlichtspielen, dafür kam es zu anderen Neuerungen. Arsenals schwarze Stutzen wurden durch blau-weiß geringelte ersetzt, man brachte in Highbury eine Uhr an, und die U-Bahnstation „Gillespie Road“ wurde in „Arsenal“ umbenannt. Die roten Hemden bekamen weiße Ärmel, da man glaubte, dass sie so für die Mitspieler aus den Augenwinkeln besser zu sehen waren.

Besonders bemerkenswert war aber, dass Chapman seine Spieler am Freitag nach dem Training an einer Magnettafel versammelte, an der er das nächste Spiel mit ihnen besprach und Probleme aus dem vorangegangenen Match analysierte. Hatte er in Huddersfield die Spieler lediglich ermuntert, selbst Verantwortung für ihr Stellungsspiel auf dem Platz zu übernehmen, so gehörten solche Diskussionen bei Arsenal zu den festen Bestandteilen der wöchentlichen Routine. „Er brach mit alten Traditionen und war der erste Trainer, der Spiele methodisch anging“, erläuterte die Daily Mail.

Es funktionierte. Arsenal gewann 1931 und 1932 die Meisterschaft in der Liga und verlor das Pokalfinale von 1932 nur durch ein äußerst umstrittenes Tor. Arsenal kam in seinem Spiel, so Glanville, „der Präzision einer Maschine nahe“. Das rasche Umschalten von Verteidigung auf Angriff und die schnörkellose, funktionelle Spielweise spiegelten in gewisser Weise den Art-Déco-Stil der Westtribüne und der Ostfassade des Arsenal-Stadions in Highbury wider. Der Vergleich mit einer „Maschine“ erinnert zudem an die „Wohnmaschine“ – ein moderner Wohnhaustyp – des Architekten und Designers Le Corbusier. In ähnlicher Weise beschrieb der amerikanische Lyriker William Carlos Williams ein Gedicht als „eine Maschine aus Wörtern. … Wie in jeder anderen Maschine gibt es kein Teil, das überflüssig wäre.“ Arsenals Fußball war also ein Kind seiner Zeit, ein Fußball der Moderne, er entsprach, wie es Joy formulierte, dem Stil des „20. Jahrhunderts: auf das Wesentliche beschränkt, begeisternd, spektakulär, ökonomisch und vernichtend.“

Vielleicht ist das alles gar nicht so überraschend. Schließlich gehörte Chapman zu den ersten Nutznießern des Forster Education Act von 1870, der eine Schulpflicht bis zum Alter von zwölf Jahren einführte. Das Gesetz eröffnete einer beispiellosen Zahl von Männern aus der Arbeiterklasse die Möglichkeit, die durch den Ersten Weltkrieg entstandenen Lücken im leitenden Bereich zu schließen. Diese neuen Manager und Geschäftsführer machten vielleicht nicht alles anders, waren für Innovationen aber sicher offener als ihre der Tradition verhafteten Vorgänger.

Einige standen Arsenals neuer Spielweise skeptisch gegenüber, vor allem Carruthers, der sich nach der Meisterschaft 1933 wie folgt in der Daily Mail äußerte: „Wenn man daran denkt, dass andere Vereine versuchen könnten, sie nachzuahmen, so fürchte ich, dass sie womöglich ein unglückliches Vorbild abgeben. Es gibt derzeit nur ein Arsenal, und ich kann mir auch kein anderes vorstellen: ganz einfach deshalb, weil kein anderer Klub die Spieler zur Umsetzung dieser Ideen besitzt.“

Diese Ideen wurden ohnehin nur unzureichend verstanden, wie Roberts’ Berufung durch den englischen Auswahlausschuss für ein Freundschaftsspiel gegen Schottland 1931 zeigte. Er war der erste Mittelläufer im Nationaldress, doch waren die beiden Abwehrspieler Fred Goodall und Ernie Blenkinsop mit dem W-M-System nicht vertraut. Dementsprechend konnte Schottland bei seinem 2:0-Sieg „ein fröhliches Picknick in den offenen Räumen abhalten“, wie sich L.V. Manning im Daily Sketch ausdrückte.

In Schottland waren die Meinungen ebenso geteilt. Die einen erkannten die Effizienz des moderneren Systems an, andere waren nach wie vor glühende Verehrer des Kurzpassspiels. Dieses erlebte seinen letzten Triumph am 31. März 1928. Eine später als „Wembley Wizards“ oder „Magier von Wembley“ unsterblich gewordene schottische Auswahl verpasste England eine derbe Klatsche. Bei ihrem 5:1-Sieg trafen Alex Jackson dreimal und Alex James zweimal. In seinem Bericht für The Evening News beschrieb Sandy Adamson Jacksons erstes Tor als einen „Slalomlauf, der als klassisches Beispiel seiner Art in die Ewigkeit eingehen dürfte“. Außerdem berichtete er, wie „frohlockende Schotten sich in Katz-und-Maus-Spielchen ergingen. … Der Ball lief von Fußspitze zu Fußspitze. Der verstörte Feind war konsterniert, ratlos und geschlagen. Eine Kombination umfasste elf Pässe, und kein Engländer berührte den Ball, bis [Tim] Dunn den Spielzug mit einem Schuss weit über die Latte beendete.“

Der Glasgow Herald äußerte sich verhaltener. „Der Erfolg Schottlands“, hieß es im dortigen Bericht, „war vor allem eine erneute Demonstration, dass schottisches Können, schottische Wissenschaft und schottische List den weniger attraktiven und simpleren Methoden des englischen Stils, bei dem man hauptsächlich auf Geschwindigkeit setzt, auch weiterhin überlegen sein werden.“ Doch auch wenn die Außenläufer Jimmy Gibson und Jimmy McMullan und die Innenstürmer Dunn und James auf dem nassen Rasen grandios kombinierten: Im Endeffekt ging es bei diesem Spiel im Rahmen der British Home Championship – einem noch bis 1984 ausgetragenen Traditionswettbewerb – um die berühmte Goldene Ananas. Außerdem war von der angeblich so augenfälligen Überlegenheit des schottischen Stils bei der 0:1-Niederlage Schottlands gegen Nordirland oder dem 2:2- Unentschieden gegen Wales nichts zu sehen gewesen.

Es ist auch bezeichnend, dass acht Mann aus der schottischen Elf für englische Vereine spielten. Dass sie an das Tempo des englischen Spiels gewöhnt waren, half ihnen ganz offensichtlich. Der Stil war zudem nicht so rückständig, wie manche meinten. Schottlands Mittelläufer Tom Bradshaw hatte eine defensive Ausrichtung und war als Gegenspieler Dixie Deans aufgestellt worden. Auch wenn man nicht mit einem ausgewachsenen W-M-System spielte, war das schottische System doch auch kein klassisches 2-3-5 mehr.

Auf Vereinsebene setzte sich das W-M-System in Schottland erst nach und nach durch. Der ehemalige Rangers-Spieler George Brown erinnert sich an ein Benefizspiel „etwa um 1930“, bei dem eine Elf aus Spielern der Rangers und von Celtic gegen eine aus Heart of Mid lothian und Hibernian Edinburgh gebildete Elf antrat: „Davie Meiklejohn spielte rechter Verteidiger, ich linker Verteidiger und Jimmy McStay von Celtic Mittelläufer“, sagte er. „Es lief nicht besonders gut für uns, und zur Halbzeit lagen wir mit einem Tor hinten. Also sagte Meiklejohn in der Pause zu McStay: ,Das Zentrum macht uns Schwierigkeiten, weil du zu weit vorne stehst. Wir spielen jetzt mit Jimmy Simpson weiter hinten und entlasten damit die Verteidiger.‘ McStay war mit dem Versuch einverstanden, und am Ende gewannen wir mit einem komfortablen Vorsprung. Von da an spielte er dann das gleiche Spiel bei Celtic.“ Doch genau wie Jack Butler bei Arsenal war auch McStay nicht als Verteidiger groß geworden, und Celtics Durststrecke von neun Jahren ohne Titel konnte erst durch die Verpflichtung des als Vorstopper agierenden Mittelläufers Willie Lyon von Queen’s Park beendet werden.

Genau das war in gewisser Weise auch das Problem: Es war ganz einfach leichter, einen guten defensiven als einen guten offensiven Mittelläufer zu finden. Der kreative Teil der Chapman’schen Gleichung war noch schwerer zu lösen. Halbstürmer mit dem Format eines Alex James waren rar gesät, während es schwerfällige Vorstopper wie Herbie Roberts wie Sand am Meer gab. „Andere Vereine versuchten, Chapman nachzuahmen“, meinte Jimmy Hogan. „Die hatten aber nicht die Männer dafür, und das Ergebnis war meiner Meinung nach der Untergang des britischen Fußballs: Der Schwerpunkt wurde auf die Defensive gelegt, das Spiel mit den lang gedroschenen Bällen entstand und löste das konstruktive Spiel ab. Durch diese Spielweise verloren unsere Spieler das Gefühl für den Ball.“

Diese Entwicklung mochte schon vor der Änderung der Abseitsregel ihren Anfang genommen haben, wurde aber durch Chapmans Reaktion auf die Regeländerung noch forciert. Die Folge des Spiels mit drei Verteidigern war, so Glanville, „bereits bestehende Schwächen zu verstärken und zu verschärfen“, weil sie die Denkfaulheit seitens der Trainer und Spieler förderte. Es ist nun einmal weitaus weniger anstrengend, lange Bälle irgendwie nach vorne zu bolzen, als kreativ zu spielen.

Chapman jedoch blieb ungerührt. „Unser System, das so oft von anderen Vereinen kopiert wird, ist in letzter Zeit zum Gegenstand von Kritik und Diskussionen geworden“, erklärte er Hugo Meisl. „Es gibt nur einen Ball, und nur ein Mann kann ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt spielen, während die anderen 21 Spieler zu Zuschauern werden. Man kümmert sich daher nur um die Geschwindigkeit, das Gespür, die Fähigkeiten und die Vorgehensweise des Spielers in Ballbesitz. Im Übrigen sollen die Leute über unser System doch denken, was sie wollen. Es hat sich definitiv als jenes erwiesen, das den individuellen Qualitäten unserer Spieler am besten gerecht wird und uns von Sieg zu Sieg getragen hat. … Warum sollte man ein funktionierendes System ändern?“

Chapman hat den Übergang von einer Spielergeneration zur nächsten nicht mehr miterlebt. Am 1. Januar 1934 fing er sich während eines Spiels gegen den FC Bury eine Erkältung ein. Dennoch beschloss er, am folgenden Tag Arsenals nächsten Gegner Sheffield Wednesday zu beobachten. Chapman kehrte mit hohem Fieber nach London zurück, ignorierte den Rat der Vereinsärzte und sah sich das Spiel der Reservemannschaft gegen Guildford City an. Als er nach Hause kam, legte er sich ins Bett, doch war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Lungenentzündung ausgebrochen. Am frühen Morgen des 6. Januar starb er, zwei Wochen vor seinem 56. Geburtstag.

Dennoch gewann Arsenal noch die Meisterschaft und fuhr im darauffolgenden Jahr den dritten Titel in Folge ein. Einige Monate nach seinem Tod wurde eine Sammlung der Schriften Chapmans veröffentlicht. Darin bedauert auch er erstaunlicherweise das Ende eines weniger stark vom Wettbewerb geprägten Zeitalters: „Es kommt für eine Mannschaft nicht mehr darauf an, gut zu spielen. Man muss Tore erzielen, egal wie, und die Punkte holen. Die Qualität einer Mannschaft wird am Tabellenplatz gemessen. […] Vor 30 Jahren durften Männer noch ihr künstlerisches Handwerk zur Schau stellen. Heute müssen sie ihren Beitrag zu einem System leisten.“ Mit dem nun vorherrschenden Wettbewerbsgedanken ging eine Aufwertung der Taktik einher – und damit der Notwendigkeit, den Einzelnen in den Dienst der Mannschaft zu stellen.

Revolutionen auf dem Rasen

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