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KAPITEL 1

Von den Anfängen bis zur Schottischen Furche

Am Anfang war das Chaos, und der Fußball war wüst und leer … Dann kam das viktorianische Zeitalter, in dem Regeln aufgestellt wurden, und danach die Theoretiker, die das Spiel analysierten. Es sollte bis in die 1920er Jahre hinein dauern, bis man über eine Fußballtaktik im heutigen Sinn sprach. Allerdings wusste man schon in den 1870er Jahren, also deutlich früher, dass die Anordnung der Spieler auf dem Platz erheblichen Einfluss darauf hatte, wie das Spiel geführt wurde. In seiner frühesten Form jedoch kannte der Fußball solche Feinheiten noch nicht.

Zahlreiche Kulturen kennen in ihrer Geschichte Spiele, in denen man gegen einen Ball trat. Doch trotz aller Ansprüche, die das alte Rom, Griechenland, Ägypten, die Karibik, Mexiko, China oder Japan auch erheben mögen – der moderne Fußballsport hat seine Wurzeln in einem Wettstreit zweier Pöbelhaufen im mittelalterlichen Großbritannien. Die Regeln, wenn es denn überhaupt welche gab, waren von Ort zu Ort verschieden. Immer aber ging es bei dem Spiel vom Prinzip her um zwei Mannschaften, die ein mehr oder weniger kugelförmiges Objekt zu einem Ziel am jeweils gegenüberliegenden Ende eines imaginären Spielfeldes durchkämpfen mussten. Das Spiel war gewalttätig, regellos, anarchisch und wurde wiederholt verboten. Schließlich setzte sich in den britischen Privatschulen – den Public Schools – im frühen 19. Jahrhundert die Ansicht durch, dass der Sport zur moralischen Erbauung der Schüler beitragen könnte. Erst jetzt entwickelte sich ein Spiel, das unserem heutigen Fußball vergleichbar ist. Bevor jedoch Taktiken entstehen konnten, mussten zunächst einmal in sich schlüssige Regeln geschaffen werden.

Selbst als am Ende des 19. Jahrhunderts die ersten taktischen Systeme aufkamen, schenkte man ihnen nur in den seltensten Fällen besondere Beachtung. In den Kinderjahren des Fußballs hätte man sich nicht vorstellen können, dass Taktik einmal an einer Tafel mit Kreuzen und Pfeilen theoretisch erörtert würde. Dennoch lohnt es sich, einen Blick auf die Entwicklung des Fußballs in diesem frühen Stadium zu werfen, rührt doch aus dieser Zeit die britische Auffassung her, wie Fußball gespielt werden sollte – und in den 40 Jahren nach der erstmaligen Niederschrift der Regeln gab es nichts anderes als eine britische Auffassung.

Fußball erlebte einen Boom zu Beginn des viktorianischen Zeitalters. Auslöser dafür war, so David Winner in Those Feet, die damalige Ansicht, dass das Empire sich im Niedergang befinde und dafür die moralische Verkommenheit verantwortlich sei. Mannschaftssportarten sollten gefördert werden, um einer um sich greifenden Ichbezogenheit entgegenzuwirken, die wiederum die Onanie beförderte, der ein überaus schädlicher Einfluss nachgesagt wurde. So behauptete Rektor Reverend Edward Thring von der Uppingham School in einer Predigt, dass sie zum „frühzeitigen und ehrlosen Ableben“ führe. Fußball wurde als das perfekte Gegenmittel betrachtet, denn schließlich gebe es, wie E.A.C. Thompson 1901 in The Boys’ Champion Story Paper schrieb, „keinen männlicheren Sport als Fußball. Er ist typisch britisch, weil er Schneid, Kaltschnäuzigkeit und Ausdauer erfordert.“ Es mag Zufall sein, dass Fußball zunächst als Stütze des British Empire eingesetzt wurde und Großbritanniens späterer Niedergang als Kolonialmacht mit dem Verlust der fußballerischen Überlegenheit einherging.

Fußball erfreute sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch wachsender Beliebtheit. In jenen frühen Tagen unterschieden sich die Regeln indessen von Schule zu Schule, in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen vor Ort. In Cheltenham und Rugby beispielsweise, wo es weite und offene Rasenflächen gab, erinnerte Fußball noch stark an das Spiel der Pöbelhaufen. Dort konnten die Spielkameraden auf einen zu Boden gefallenen Spieler stürzen, ohne dass dieser verletzt wurde. Auf den harten Böden der Klosterschulen von Charterhouse und Westminster hätte ein solches Kampfgetümmel allerdings knochenbrechende Wirkung gehabt. Deshalb entwickelte sich dort das Dribbeln mit dem Fuß als Spielweise, und das Handspiel wurde verboten oder zumindest eingeschränkt, aber nach wie vor unterschied sich das Spiel radikal vom modernen Fußball. An taktische Formationen dachte man noch nicht einmal, zumal die Spieldauer und sogar die Anzahl der Spieler pro Mannschaft noch nirgends festgelegt worden waren. Zumeist stürmten die älteren Schüler mit dem Ball am Fuß voran. Gleichzeitig liefen die Mannschaftskameraden für den Fall, dass der Ball durch ein Tackling davonrollte, in einer Reihe dahinter, sie deckten sozusagen ab. Währenddessen versuchten die gegnerischen Spieler, sie aufzuhalten.


Wurzeln eines Weltspiels: Seit dem 13. Jahrhundert wurde in England der wilde Volksfußball gespielt.

Ein Zusammenspiel zwischen den Stürmern gab es, wenn überhaupt, nur ansatzweise. Das Spiel drehte sich vor allem um das Dribbeln, während Passspiel, Zusammenspiel und Verteidigen als mehr oder weniger minderwertig angesehen wurden. Man rannte lieber stur an, als nachzudenken. Gewiss würden manche sagen, dass darin die englische Mentalität im Allgemeinen zum Ausdruck kam. So war das Denken in den Privatschulen ohnehin eher verpönt. Noch 1946 berichtete der ungarische Humorist George Mikes, wie stolz er kurz nach seiner Ankunft in Großbritannien gewesen sei, als ihn eine Frau „clever“, also „gescheit“ genannt hatte. Erst später fand er heraus, welch negative Konnotationen das Wort besaß.

Die unterschiedlichen Regelwerke verhinderten zunächst alle Versuche, Fußball an den Universitäten einzuführen. 1848 berief H.C. Malden aus Godalming in der Grafschaft Surrey schließlich eine Versammlung in Cambridge ein, zu der Vertreter der Public Schools von Harrow, Eton, Rugby, Winchester und Shrewsbury erschienen – und bemerkenswerterweise auch zwei Schuljungen, die nicht von Privatschulen stammten. Bei diesem Treffen wurden die ersten einheitlichen Spielregeln festgehalten. „Die neuen Regeln wurden als die ‚Regeln von Cambridge‘ gedruckt“, schrieb Malden. „Ausfertigungen davon wurden verteilt und im Parker’s Piece [einer offenen Wiese im Herzen der Stadt] aufgehängt, und es war befriedigend zu sehen, dass sie ihren Dienst taten, denn sie wurden brav eingehalten, und ich hörte niemals, dass ein Mann von einer Privatschule das Spiel aufgab, weil er die Regeln nicht leiden mochte.“

1862 machte diese südliche Variante des Spiels einen weiteren Schritt in Richtung Vereinheitlichung. J.C. Thring, den jüngeren Bruder des bereits erwähnten Rektors von Uppingham Edward Thring, hatte man in Cambridge zwar zunächst daran gehindert, ein einheitliches Regelwerk aufzuzeichnen. Nun aber veröffentlichte er eine Sammlung von zehn Vorschriften mit dem Titel „Das einfachste Spiel“. Im darauffolgenden Oktober erschien eine weitere Variante, die sich „Fußballregeln der Universität von Cambridge“ nannte. Entscheidend aber war die Gründung der Football Association (FA), des englischen Fußballverbandes, Ende 1863. Die FA setzte sofort alles daran, eine endgültige Regelsammlung für das Spiel festzulegen.

Zunächst wollte man die besten Elemente des Dribbelns und des Handspiels kombinieren. Doch dazu kam es nicht. Nach einer langen und hitzigen Debatte verbot man schließlich nach einer fünften Versammlung in der Freemason’s Tavern auf den Lincoln’s Inn Fields zu London das Fortbewegen des Balls mit den Händen. Von da an gingen Fußball und Rugby getrennte Wege. Der eigentliche Streit drehte sich erstaunlicherweise aber gar nicht um das Spiel mit der Hand, sondern um das sogenannte Hacking. Im Klartext: ob es erlaubt werden sollte, gegnerischen Spielern vors Schienbein zu treten. F.W. Campbell aus Blackheath sprach sich ausdrücklich dafür aus. „Wenn man das [Hacking] abschafft“, so sagte er, „nimmt man dem Spiel auch sämtlichen Mut und Schneid. Ich werde dann nicht umhinkommen, einen Haufen Franzosen herüberzuholen, die euch nach einer Woche Training schlagen könnten.“ Sport, so war er anscheinend der Meinung, lebte vor allem von Schmerzen, Brutalität und Männlichkeit, denn ohne diese Faktoren käme es am Ende ja nur auf Geschick an, und jeder dahergelaufene Ausländer könnte gewinnen. Dass ernsthaft so debattiert wurde, ist bezeichnend für die landläufige Gesinnung – auch wenn Blackheath aus der Association austrat, als das Hacking schließlich verboten wurde.


Fußball in der Public School Eton.

Das Dribbelspiel setzte sich durch. Das lag hauptsächlich an Regel sechs, dem Vorläufer der Abseitsregel: „Hat ein Spieler den Ball gespielt, ist jeder, der näher zur Torlinie steht, aus dem Spiel und darf den Ball selbst nicht berühren oder auf irgendeine Weise einen anderen Spieler daran hindern, bis er wieder im Spiel ist …“ Mit anderen Worten: Pässe mussten entweder quer oder nach hinten gespielt werden.

Das Dribbeln selbst unterschied sich deutlich von unseren heutigen Vorstellungen. In seiner Geschichte des FA-Pokals zitierte der vor einigen Jahren verstorbene Fußballberichterstatter der Times, Geoffrey Green, einen unbekannten Autor der 1870er Jahre: „Ein wirklich erstklassiger Spieler … wird niemals den Ball aus den Augen verlieren, während er gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf das Ausspähen von etwaigen Löchern in den Reihen des Gegners oder Schwachpunkten in dessen Verteidigung richtet, was ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit eröffnet, das angestrebte Tor zu erreichen. Zu sehen, wie manche Spieler einen Ball durch einen Kreis gegnerischer Beine führen und lenken und sich dabei ganz nach Lage der Dinge drehen und wenden, ist ein unvergesslicher Anblick. … Die Fähigkeit zu dribbeln … erfordert einiges mehr als einen vorwärts gerichteten, furchtlosen und mit dem Kopf voran ausgeführten Ansturm auf die Feste des Gegners; es setzt ein schnelles Auge zum Entdecken von Schwachstellen und den Intellekt zum Abwägen der Möglichkeiten eines erfolgreichen Durchbruchs voraus.“ Oberflächlich betrachtet, klingt dies eher wie eine einfache Form des modernen Rugby, nur ohne Handspiel.

Die Taktik – wenn man es denn so nennen will – war ähnlich simpel, auch nachdem die Zahl der Spieler auf elf festgelegt worden war. Die Mannschaften jagten ganz einfach dem Ball hinterher. Erst in den 1870er Jahren wurde die Position des Torhüters überhaupt allgemein anerkannt, und erst ab 1909 trug er ein Hemd in einer Farbe, die ihn vom Rest seiner Mannschaft unterschied. Es dauerte noch bis 1912, bis man sein Handspiel auf den eigenen Strafraum beschränkte. Diese Regeländerung wurde eingeführt, um die Angewohnheit des Torhüters Leigh Richmond Roose von Sunderland zu unterbinden, den Ball bis zur Mittellinie zu schleppen. Wenn es in jenen Kindheitstagen des Fußballs überhaupt ein System gab, dann eines mit zwei oder drei Abwehrspielern und acht oder neun Stürmern.

Regel sechs wurde zwar 1866 nach der Versammlung von Eton geändert und gestattete nun einen Pass nach vorne, vorausgesetzt, dass beim Abspiel mindestens drei Spieler der verteidigenden Mannschaft zwischen dem Spieler und dem gegnerischen Tor standen (also einer mehr als bei der heutigen Abseitsregel). Das scheint aber für diejenigen, die mit dem Dribbelspiel aufgewachsen waren, kaum einen Unterschied gemacht zu haben. Noch in den 1870er Jahren schrieb Charles W. Alcock, einer der führenden Spieler und Funktionäre der ersten Stunde, geradezu missionarisch über das „bedeutende und wichtige Prinzip des Abdeckens. Mit ‚Abdecken‘ möchte ich selbstverständlich dahingehend verstanden werden, dass ich damit meine, dem Mitspieler dicht zu folgen, um ihm nötigenfalls beizustehen oder den Ball zu übernehmen, falls er angegriffen oder auf andere Weise auf seinem Weg nach vorne aufgehalten werden sollte.“ Selbst ein Jahrzehnt nach Gründung der FA hielt es also einer ihrer Gründungsväter noch für notwendig, den anderen die Idee zu erläutern, zu einem stur in Richtung Tor rennenden Mitspieler zu laufen und ihm zu helfen – zu erwarten, den Ball von diesem dann auch freiwillig zugespielt zu bekommen, wäre wohl zu diesem Zeitpunkt noch zu viel verlangt gewesen.

So trug es sich zumindest im Süden zu. Der Norden machte seine ganz eigene Entwicklung durch. Im Süden von Yorkshire wurde am 24. Oktober 1857 der FC Sheffield gegründet. Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, Kricket-Spielern die Möglichkeit zu geben, sich während des Winters fit zu halten. Am zweiten Weihnachtsfeiertag jenes Jahres wurde das allererste Spiel zwischen zwei Vereinen überhaupt durchgeführt, bei dem Sheffield den FC Hallam mit 2:0 besiegte.

Der Sport verzeichnete ein enormes Wachstum. Innerhalb von fünf Jahren waren Zuschauerzahlen von mehreren Hundert üblich, während in der Gegend im gleichen Zeitraum 15 Vereine gegründet wurden. Der FC Sheffield zeichnete sein eigenes Regelwerk auf, das man 1862 veröffentlichte. Neben dem Einfluss der Privatschulen Harrow, Rugby und Winchester ist besonders bemerkenswert, dass das Abseits mit keinem Wort erwähnt wurde. Allerdings scheint es eine solche Regel gegeben zu haben. Als nämlich William Chesterman, seines Zeichens Geschäftsführer des FC Sheffield, am 30. November 1863 an die gerade gegründete Football Association schrieb und den Beitritt seines Vereins sowie seinen Beitrag zur Regeldiskussion verkündete, hieß es: „Wir haben nicht im Entferntesten eine gedruckte Regel wie Eure Nr. 6, aber ich habe eine Regel in das Buch geschrieben, nach der wir stets spielen.“

Was das genau bedeutete, bleibt ungewiss. Sheffield erkannte die Abseitsregel erst 1865 als Teil eines Kuhhandels in Sachen Regeln im Vorfeld eines Spiels gegen Notts County formell an. Allerdings musste dabei lediglich ein verteidigender Spieler näher zum Tor stehen als der Stürmer, dem der Ball zugespielt wurde, damit Letzterer nicht im Abseits stand. Der Nutzen des Passspiels war damit deutlich höher. Gleichwohl bleibt es fraglich, in welchem Umfang die damit verbundenen Möglichkeiten tatsächlich genutzt wurden.

Das Angebot von Sheffield wurde seitens der FA nicht beantwortet. So existierten einige Jahre lang zwei Regelwerke – oder genauer gesagt: zwei Hauptregelwerke, da es in Nottingham und anderen Städten weitere Unterarten gab. Am 31. März 1866 trafen Vertreter dieser beiden Richtungen im Battersea Park in einem Spiel zwischen London und Sheffield erstmals aufeinander. London gewann mit 2:0. Zeitgenössischen Berichten zufolge sei London zwar die gewandtere Mannschaft gewesen, durch das körperbetonte Spiel Sheffields allerdings gehörig aus dem Konzept gebracht worden.

Nach vielem Hin und Her über die Frage, nach wessen Regeln gespielt werden solle, führte Alcock im Dezember 1871 eine Elf aus London nach Sheffield. In einem Spiel nach den Regeln von Sheffield gewann die Heimmannschaft mit 3:1. Der Sieg wird gewöhnlich der Tatsache zugeschrieben, dass sie über ein organisiertes Spielsystem verfügte. In Verbindung mit der freizügigeren Abseitsregel mag man dabei nun zwar auf ein Passspiel schließen, doch offenbar war das Dribbeln in Sheffield noch stärker ausgeprägt als in London. Percy M. Young zufolge, dem Autor von Football in Sheffield, „war sich Alcock der Vorzüge eines gut platzierten Passes wohl bewusst (während die Spieler der Heimmannschaft die etwas einfachere und direktere Methode anwendeten, ihre Kameraden zu ignorieren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit direkt auf das Tor zuzustürmen). Das filigrane Kombinationsspiel zwischen Alcock und Charles Chenery war für 2.000 entzückte Zuschauer eine Offenbarung.“ Es sollten noch 18 weitere Vergleiche stattfinden, bis man Sheffield 1878 endlich in den Schoß der FA aufnahm.

Obgleich es keine Kultur des Passspiels in Sheffield gegeben haben mag, scheint man dort doch den Ball lang nach vorne geschossen zu haben, um ihn aus der eigenen Verteidigung zu bekommen. Geoffrey Greene berichtet in The World Game, dass die Zuschauer es als „eher belustigend denn bewundernswert“ empfunden hätten, als die Spieler Sheffields 1875 bei einem Schaukampf in London begannen, „den Ball mit ihren Köpfen zu stoßen“. In einem reinen Dribbelspiel hätte der Ball jedoch den Boden niemals verlassen, es sei denn, man hätte ihn – eventuell – über ein angreifendes Bein heben wollen. Kopfbälle wären jedoch nur geboten gewesen, wenn die Bälle auch eine gewisse Strecke in der Luft zurücklegten.

Der Jahresbericht des schottischen Fußballverbandes von 1878 machte deutlich, worum es ging: „Dass das Spiel ein sehr umkämpftes war und dass der Sieg an die bessere Mannschaft ging, wird wohl niemand bestreiten wollen; dass es sich aber um ein schönes Spiel mit unzähligen Demonstrationen kombinierten Dribbelspiels gehandelt hätte, welches die schottischen Mannschaften sonst regelmäßig von allen anderen abgehoben hat, werden nur wenige zugeben wollen. … Man kann sich der Tatsache nicht verschließen …, dass die von der Mannschaft Sheffields am Sonnabend angewandte Taktik insofern zum Teil der Grund dafür war, als man dort mit Regeln spielt, die von den Regelwerken der englischen und schottischen Verbände abweichen, und dass unsere ‚Abseits‘-Regel bei ihnen das Papier, auf dem sie geschrieben steht, fast nicht wert ist. Solcherart gab man sich am Sonnabend auf ihrer Seite den langen Bällen hin; und um auf gleiche Weise entgegenzuhalten, gaben die Männer aus Glasgow jene konzertierte Aktion auf, die sie auf so vielen härter umkämpften Feldern zum Sieg geführt hatte.“

Die Verbreitung des Passspiels selbst – die angesprochene „konzertierte Aktion“ – kann bis zu einem ganz bestimmten Spiel zurückverfolgt werden. 1872 wurde auf dem Hamilton Crescent im Glasgower Stadtteil Partick das erste Fußballländerspiel zwischen England und Schottland ausgetragen. Englands Formation umfasste „Tor“ („Goal“), einen „Dreiviertel-Verteidiger“ („Three-quarter back“), einen Läufer („Half-back“), einen sogenannten Fly-kick, vier schlicht als „Mitte“ („Middle“) aufgeführte Spieler, zwei „Linksaußen“ („Left side“) und einen „Rechtsaußen“ („Right side“). Versuchte man dies auf die moderne Schreibweise zu übertragen, ergäbe sich grob ein leicht schiefes 1-2-7. „In der Regel bestand die Aufstellung der Mannschaft aus sieben Stürmern, und nur vier Spieler bildeten die drei Verteidigungslinien“, schrieb Alcock. „Die letzte Linie war natürlich der Torhüter, vor dem sich lediglich ein echter Verteidiger befand, während dieser wiederum nur Stürmer vor sich hatte, abgesehen von zwei Mann, welche den Ansturm der gegnerischen Angreifer aufhalten sollten.“


Das erste offizielle Länderspiel zwischen England und Schottland 1872 in Glasgow.

Die Schotten wurden durch den FC Queen’s Park vertreten, der bis zur Gründung des schottischen Fußballverbandes im Jahr 1873 über das Spiel in Schottland wachte – ähnlich wie der Marylebone Kricket Club (MCC) beim Kricket oder der Royal and Ancient Golf Club of St. Andrews beim Golf. Die Schotten waren im Schnitt über sechs Kilogramm leichter als die Engländer, so dass die meisten Experten aufgrund des Gewichtsvorteils einen deutlichen Sieg für England erwarteten. Das spricht zwar für die Körperbetontheit des noch jungen Fußballs, allerdings regte dieser Umstand in der Realität eher die Kreativität an. Trotz der nur bruchstückhaften Belege kam Richard McBrearty vom Schottischen Fußballmuseum zu dem Schluss, dass Queen’s Park sich sehr wahrscheinlich dafür entschied, den Ball lieber um die Engländer herum zu passen und sich nicht auf direkte Duelle Mann gegen Mann einzulassen. Dabei nämlich hätten sie sehr wahrscheinlich den Kürzeren gezogen. Ihre Aufstellung war fast sicher ein 2-2-6. Die List zahlte sich aus. Mit seinen stärker verankerten Traditionen und einem wesentlich größeren Reservoir an Spielern war England zwar der eindeutige Favorit, musste sich jedoch mit einem torlosen Unentschieden begnügen. Im Spielbericht des Glasgow Herald hieß es dazu: „Die Engländer waren im Vorteil in Hinblick auf das Gewicht, da sie im Durchschnitt circa 14 Kilogramm schwerer waren als die Schotten [eine leichte Übertreibung], und sie hatten auch den Vorteil, schneller zu sein. Die Stärke des Heimvereins lag darin, dass man ganz ausgezeichnet zusammenspielte.“

Dieser Erfolg mag den Glauben an das Kurzpassspiel als die dem Dribbelspiel überlegene Spielart noch bestärkt haben, tatsächlich war das Passspiel in Schottland aber nichts Neues, sondern beinahe von Beginn an Teil des Spiels gewesen. Als der FC Queen’s Park 1867 gegründet wurde, übernahm man jene Version der Abseitsregel, bei der ein Spieler sie nur dann übertrat, wenn er sich vor dem vorletzten Mann und innerhalb der letzten 16 Meter des Feldes befand. Diese Regelsetzung war dem Kurzpassspiel ohne Frage weitaus zuträglicher als die erste Abseitsregel der FA oder ihre 1866 erfolgte Änderung. Wohl erkannte Queen’s Park die Variante mit drei Mann beim Beitritt zur FA am 9. November 1870 an. Zu diesem Zeitpunkt aber war das Konzept des Kurzpassspiels längst fest verwurzelt. In Schottland war der Ball dazu gedacht, geschossen zu werden, anstatt ihn nur zu dribbeln.


Erstes Länderspiel: Schottland – England 0:0, Partick/Glasgow (Schottland), 30. November 1872.

Alcock hatte schon zuvor vier Spiele zwischen England und einer Mannschaft aus in London wohnenden Schotten arrangiert, welche die Vorläufer der „echten“ Länderspiele darstellten. Nach dem ersten dieser Vorläuferspiele ging Robert Smith, ein Mitglied von Queen’s Park und zugleich Schottlands Rechtsaußen im ersten „echten“ Länderspiel, wiederum auf die Verbreitung des Dribbelns ein. In einem Brief an seinen Klub schrieb er: „Wenn der Ball gespielt wurde, so war es üblich, mit dem Ball am Fuß zu laufen oder zu dribbeln, anstatt sich groß mit hohen oder langen Bällen aufzuhalten.“

Zu den Beweggründen des Beitritts von Queen’s Park zum englischen Verband zählte auch die Hoffnung, leichter Gegner zu finden, die sich zu Spielen nach den standardisierten Regeln bereitfanden. Denn in den Monaten vor ihrer Aufnahme in die FA mussten sie Vergleiche mit zehn gegen zehn, 14 gegen 14, 15 gegen 15 und 16 gegen 16 spielen. 1871/72 konnten sie gerade einmal drei Spiele organisieren. „Ungeachtet dessen vernachlässigte der Klub niemals das Training“, schrieb Richard Robinson in seiner 1920 erschienenen Geschichte von Queen’s Park. Isolation und regelmäßige, intern ausgetragene Spiele führten dazu, dass die dem Verein eigenen Besonderheiten immer stärker betont wurden – eine ähnliche Entwicklung wie bei den Argentiniern während der 1930er Jahre. Folglich erfuhr das Kurzpassspiel eine starke Kultivierung, befreit von lästigen Einflüssen durch echte Gegner.

„In diesen [Trainings-]Spielen“, fuhr Robinson fort, „entwickelte sich jenes Dribbeln und Passen …, welches das schottische Spiel zu einer besonderen Kunst erhob. Das Dribbeln war eine Eigenart der englischen Spielweise, und es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis die Leute aus dem Süden kamen und erkannten, dass die Grundlagen der von Queen’s Park angewandten Technik – das Weitergeben des Balles bei starker Deckung – jene waren, welche das meiste aus einer Mannschaft herausholten. Das Kombinieren war die bedeutendste Eigenschaft der Spielweise von Queen’s Park. Diese zentralen Punkte fielen C.W. Alcock ins Auge und stellten das Leitmotiv einer Lobeshymne auf die schottischen Spieler dar, begleitet von den aufrichtigen Plädoyers, in welchen er die schleunigste Übernahme jener Methoden, die das Spiel nördlich des Tweed-Flusses zu einer solcherart hohen Qualität führten, auch durch die englischen Spieler vertrat.“

Tatsächlich jedoch war Alcock keineswegs derart überzeugt. Obwohl er sich vom „Kombinationsspiel“ beeindruckt zeigte – und trotz all jenes Könnens, das er in Sheffield demonstriert hatte –, brachte er im Jahrbuch von 1879 seine Zweifel darüber zum Ausdruck, ob sich „ein Passspiel im großen Stile auszahlen würde“. Offensichtlich hielt er das Kurzpassspiel zwar sehr wohl für eine Option, es hätte jedoch niemals das Dribbelspiel ersetzen dürfen. Dennoch verbreitete es sich insbesondere in Schottland in Windeseile. Dort nämlich war der Einfluss von Queen’s Park geradezu allgegenwärtig und führte schließlich zu jenem stark romantisch verklärten Ansatz, der sich durch kurze, zwischen den Angriffs- und Mittelfeldreihen kreuz und quer gespielte Ballstafetten auszeichnete. Queen’s Park organisierte ferner die schottische Mannschaft für die ersten beiden Länderspiele.

Die Stimme des Klubs behielt im Übrigen auch nach Gründung des schottischen Fußballverbandes großes Gewicht bei der Gestaltung des Spiels. Man betätigte sich als Missionar, reiste durch das Land und führte Schaukämpfe durch. In den Aufzeichnungen eines Spiels gegen Vale of Leven, die später eines der ersten Zugpferde des schottischen Fußballs werden sollten, wird beschrieben, dass das Match zur besseren Erklärung von Regeln und Spielweise regelmäßig unterbrochen wurde. Darüber hinaus markierte ein 1873 in Edinburgh ausgetragener Vergleich den Beginn des Fußballs in der Hauptstadt.

Es ist vielleicht ganz bezeichnend für die Wirkung jener Spiele, dass die Verwaltungsregion der Scottish Borders bis heute eine Hochburg des Rugby geblieben ist. Eines jener missionarischen Matches von Queen’s Park, das dort geplant gewesen war, musste aufgrund eines Einsatzes im FA-Pokal abgesagt werden. Die Saat des Fußballs wurde dort somit nie gesät. McBrearty vertritt die Ansicht, dass die Bevölkerungsverteilung Schottlands mit seinen mehrheitlich in einem Streifen zwischen den Ballungsräumen von Glasgow und Edinburgh lebenden Einwohnern die Durchsetzung einer einzigen Spielweise erheblich erleichterte. In England dagegen hatte jede Region ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie Fußball gespielt werden sollte.

Zwar sorgte die Taktik von Queen’s Park im ersten Länderspiel in England noch für Stirnrunzeln, doch bald verbreitete sich das Kurzpassspiel auch im Süden, dank des Einflusses zweier Männer: Henry Renny-Tailyour und John Blackburn. Beide hatten zum schottischen Sieg im zweiten Länderspiel gegen England beigetragen. Beide waren Leutnant in der Armee, und beide spielten Vereinsfußball beim Royal Engineers AFC, einer Armeesportgruppe, mit der sie das schottische Spiel in die englische Grafschaft Kent brachten. „Die Royal Engineers führten als erste Fußballmannschaft die ‚Kombinations‘-Spielweise ein“, schrieb W.E. Clegg, ein ehemaliger Spieler Sheffields, 1930 im Sheffield Independent. „Zuvor gewannen wir die Spiele, die sie gegen Sheffield austrugen, aber wir waren schwer überrascht, als sie zwischen zwei Saisons ‚militärische Fußballtaktiken‘ einbezogen hatten, mit dem Ergebnis, dass Sheffield unter diesen neuen Spielbedingungen nun schwere Niederlagen einstecken musste.“

Im Schulfußball hatte Reverend Spencer Walker das Kurzpassspiel eingeführt, nachdem er als Lehrer an das Lancing College, das er bereits als Schüler besucht hatte, zurückgekehrt war. Sogleich machte er sich daran, einen „ziemlichen Lumpenhaufen in eine wohlgeordnete Mannschaft“ zu verwandeln. „Zuerst ging ich das Umringen des ballführenden Stürmers durch alle übrigen Stürmer an. Sie scharten sich um ihn, wo immer er auch hinlief. Also stellte ich Regel Nummer eins auf: feste Positionen für alle Stürmer, die dann den Ball von einem zum anderen zu passen hatten. Sie hätten die Gesichter unserer ersten Gegner sehen sollen, die zu sagen schienen: ‚Wo sind wir denn hier gelandet?‘“

Allmählich wurde offensichtlich, dass dem Passspiel die Zukunft gehörte. Die Mannschaft der Old Carthusians, die 1881 im FA-Pokalfinale die Old Etonians mit 3:0 besiegte, blieb vor allem wegen ihrer Kombinationen, die insbesondere zwischen E.M.F. Prinsep und E.H. Parry gespielt wurden, in Erinnerung. Das einzige Tor der Old Etonians im Jahr darauf, mit dem sie die Blackburn Rovers, die als erste Mannschaft aus dem Norden überhaupt ins Finale eingezogen waren, besiegten, resultierte, so Green in seiner Geschichte des FA-Pokals, aus „einem langen Dribbling und einem Querpass“ des Spielers A.T.B. Dunn, der für W.H. Anderson auflegte. Nichtsdestotrotz waren die Etonians in erster Linie eine Mannschaft des Dribblings.


Der FA-Cup geht erstmals in den Norden: 1883 besiegt das Arbeiterteam von Blackburn Olympic (hier im Bild) im Finale die Old Etonians.

1883 erhielt das Dribbelspiel endgültig den Todesstoß. Erstmals wurden mehr Mannschaften aus Gegenden außerhalb Londons für den Pokal gemeldet als aus London selbst. Erstmals ging der Pokal in den Norden, nachdem Blackburn Olympic die Old Etonians im Finale geschlagen hatte. Das Amateurzeitalter war – jedenfalls als innere Haltung – bereits abgelaufen. Dies wurde zwei Jahre später offiziell bestätigt, als die FA das Profitum legalisierte.

In der Mannschaft von Olympic waren alle Spieler voll berufstätig. Es löste einige Aufregung aus, als der Läufer und De-facto-Trainer Jack Hunter sie vor dem Finale zu einem Trainingslager in Blackpool zusammenrief. Keine Frage – dies hatte nichts mehr mit dem zwanglosen Amateurismus zu tun, der von den oberen Klassen propagiert wurde. Durch eine Verletzung mussten die Etonians bereits frühzeitig im Spiel mit zehn Mann auskommen. Unabhängig davon ist es zweifelhaft, ob sie mit der ungewöhnlichen Taktik von Olympic zurechtgekommen wären, hohe und weite Bälle von Flügel zu Flügel zu schlagen. Der spät in der Verlängerung erzielte Siegtreffer war symptomatisch für das gesamte Spiel: Ein Diagonalpass von Tommy Dewhurst (einem Weber) auf der rechten Seite fand seinen Weg zu Jimmy Costley (einem Baumwollspinner), der auf der linken Seite nach vorne lief, die Nerven behielt und den Ball an J.F.P. Rawlinson, dem Schlussmann der Etonians, vorbei ins Tor schob.

In Schottland war die Überlegenheit des Kurzpassspiels nichts Neues. „Welche erfolgreiche Mannschaft man auch nimmt“, schrieb der Kolumnist „Silas Marner“ im August 1884 in der Zeitung Scottish Umpire, „sie verdankt ihren Erfolg dem Moment, als man das Durchwühlen durch schnelles und genaues Passspiel ersetzte und sich anstelle des würdelosen Versuchs, den Gegner zu überwältigen, lieber dem Leder widmete.“ Davon waren aber noch immer keineswegs alle überzeugt. Nachdem Jamestown Athletics zwei Monate darauf im schottischen Pokal von Vale of Leven mit 4:1 geschlagen worden war, übte „Olympian“ im Umpire in seiner Kolumne „Auf dem Flügel“ scharfe Kritik an deren Kombinationsspiel. „‚Teile und herrsche‘ war die Maxime des großen Macchiavelli, als er Prinzen lehrte, wie sie regieren sollten. … Was soll ich zu dem Versuch von Jamestown sagen, die, wie ich annehme, die Wahrheit dieses Sinnspruches zu beweisen suchten. Ihre Annahmen waren zwar richtig, aber bei der Schlussfolgerung lagen sie äußerst falsch. Sie begingen den großen Fehler, anstelle ihrer Gegner sich selbst zu teilen und erhielten dementsprechend die Strafe dafür. Und was für eine Strafe! … Strategie kann niemals wichtiger sein als elf Paare flinker Beine.“

Nun, da sollte sich der Kolumnist irren, denn schon bald wurde die Strategie eines der wichtigsten Elemente im Spiel. Zur Bestürzung der Traditionalisten in England und Schottland hieß dies, dass einer der beiden Mittelstürmer – der in einem passorientierten Spiel nach damaliger Meinung ohnehin nur eine unnötige Verdopplung der Rolle des jeweils anderen darstellte – weiter nach hinten rutschte. Im Lauf der 1880er Jahre wurde er schließlich zum Mittelläufer in der 2-3-5-Formation, der Schottischen Furche, die im englischen Sprachraum „Pyramide“ genannt wird. Beide Bezeichnungen leiten sich aus dem Dreieck ab, das sich von oben betrachtet bei diesem System ergibt.

Es wird weithin angenommen, dass das 2-3-5 erstmals 1883 von der Universität Cambridge gespielt wurde, wie dies etwa der ungarische Trainer Árpád Csanádi in seinem umfang- und einflussreichen Fußball-Trainingshandbuch Soccer bekundet. Es gibt jedoch Belege dafür, dass man dieses System dort bereits sechs Jahre zuvor angewandt haben könnte. Ebenso war Nottingham Forest schon gegen Ende der 1870er Jahre ein glühender Verfechter dieses Systems. Dort erhielt man die Anregung dazu von Mannschaftskapitän Sam Widdowson, der auch den Schienbeinschoner erfand.

Mit Sicherheit jedoch setzte der FC Wrexham einen Mittelläufer ein, als er im walisischen Pokalfinale von 1878 auf den FC Druids traf. Sein Kapitän und Verteidiger Charles Murless, ein örtlicher Immobilienhändler, entschied, E.A. Cross aus der Angriffsreihe zurückzuziehen. Offenbar glaubte er, dass der verbleibende Mittelstürmer John Price schnell genug war, um eine sich daraus ergebende Unterzahl im Angriff zu kompensieren. Murless’ Annahme wurde bestätigt, als James Davies ein umkämpftes Spiel zwei Minuten vor dem Schlusspfiff durch das einzige Tor des Tages entschied.

Die allmähliche Verbreitung des 2-3-5 bedeutete, dass der Mittelläufer sich bald zum Dreh- und Angelpunkt der Mannschaft entwickelte – weit entfernt von jenem hartnäckigen Vorstopper, zu dem er später einmal werden würde. Er stellte einen Allrounder mit zahlreichen Fähigkeiten dar, war Verteidiger und Angreifer, Anführer und Antreiber, Torschütze und Zerstörer in einem. Er war, so der große österreichische Fußballautor Willy Meisl, „der wichtigste Mann auf dem Platz“.

Faszinierenderweise listete der Sheffield Independent in seinem Bericht über das erste Flutlichtspiel – einen im Oktober 1878 ausgetragenen Schaukampf zwischen den „Roten“ und den „Blauen“ – jedes Team mit vier Verteidigern, einem Läufer und fünf Angreifern auf. Allerdings gibt es keinen einzigen Beleg dafür, dass jemals eine weitere Mannschaft in den darauffolgenden drei Jahrzehnten mit mehr als zwei Abwehrspielern auftrat. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass vielmehr ein 2-3-5 beschrieben wurde. Die Außenläufer, deren Aufgabe später das Abfangen der gegnerischen Innenstürmer werden sollte, wären dann nicht als Läufer, sondern als Verteidiger aufgelistet.

Ein Beitrag im Scottish Athletic Journal vom November 1882 vermittelt einen Eindruck davon, welch wütende Reaktionen allein die Idee von Verteidigung auslöste. Die Angewohnheit „bestimmter Vereine vom Lande“, zwei Mann gut 20 Meter vom eigenen Tor entfernt stehen zu lassen, wurde klar missbilligt. Wie der Autor scharfzüngig feststellte, würden sie dort wohl „ein Schwätzchen mit dem Torhüter halten“. In ganz ähnlicher Weise verdammte man das Angriffsspiel des aus der Grafschaft Ayrshire stammenden Klubs FC Lugar Boswell Thistle mit lediglich neun Mann. Trotzdem kämpften die Reaktionäre auf verlorenem Posten, und im schottischen Pokalfinale von 1883 schlug Dumbarton das Team von Vale of Leven mit einem 2-3-5-System.


FC Wrexham – FC Ruabon Druids 1:0, walisisches Pokalfinale, Acton, 30. März 1878.

Der Erfolg von Preston North End in den 1880er Jahren bestätigte die Überlegenheit des 2-3-5. Der Verein war ursprünglich ein Kricket- und Rugbyklub gewesen und spielte im Jahr 1878 ein „einmaliges“ Spiel nach den Regeln der FA gegen den FC Eagley. Für dieses Spiel ist zwar keine Formation überliefert, doch traf man im November des darauffolgenden Jahres mit einer im klassischen 2-2-6 aufgestellten Mannschaft auf die Halliwell Rovers, spielte demzufolge mit zwei Verteidigern, zwei Läufern, zwei Rechtsaußen, zwei Linksaußen und zwei Mittelstürmern. In der Saison 1880/81 trat Preston dem Fußballverband von Lancashire bei. Zwar hatte man zunächst mit Problemen zu kämpfen, doch der Zugang einer Reihe schottischer Spieler – de facto allesamt Profis – gab dem Verein neue Impulse. 1883 zeigte Prestons Mannschaftsaufstellung erstmals ein 2-3-5-System. Es ist zwar ungeklärt, auf wessen Eingebung dies beruhte. Bekannt ist jedoch, dass der Lehrer und Arzt James Gledhill aus Glasgow in einer Reihe von Vorlesungen „an der Tafel aufzeigte, zu was eine Mannschaft aus ausgewählten Spezialisten in der Lage sein könnte“, wie David Hunt in seiner Geschichte des Klubs festhielt. Mit genau diesem System machte sich Preston auf, die beiden ersten Meisterschaften in der Football League zu gewinnen – die erste davon 1887/88 ohne eine einzige Niederlage.

Die englische Nationalmannschaft spielte das 2-3-5 erstmals 1884 in einem Match gegen Schottland. Im Oktober desselben Jahrs war das System so allgemein verbreitet, dass der Umpireohne weitere Erläuterung die 2-3-5-Formation von Notts County abdruckte, als die Mannschaft zu einem Freundschaftsspiel gegen die damalige Grafschaft Renfrewshire gen Norden reiste. Die schottische Nationalmannschaft trat erstmals im Jahr 1887 mit der „Furche“ an und löste damit ein vielstimmiges Murren darüber aus, dass man eine ursprünglich englische Taktik nachäffte. Der Tonfall eines 1889 im Scottish Referee veröffentlichten Porträts des Celtic-Glasgow-Spielers James Kelly macht jedoch deutlich, dass die Debatte zu Ende des Jahrzehnts abgeschlossen war: „Eine Reihe von Leute glaubt, dass man in Schottland viel von den eigenen Stärken im Spiel opferte, als man die Mittelläuferposition übernahm“, war dort zu lesen. „Wir teilen diese Auffassung ganz und gar nicht, und wenn von den Spielern in unseren Klubs, die diese Position bekleiden, mehr Männer das Kaliber von Mr. Kelly hätten, gäbe es weder eine Meinungsverschiedenheit in dieser Angelegenheit, noch bestünde irgendein Grund zu bedauern, in dieser Sache dem englischen Beispiel gefolgt zu sein.“

In den dreieinhalb Jahrzehnten danach blieb das 2-3-5 zumindest in Großbritannien die Standardformation. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Unterschiede im Detail gegeben hätte. Zwar wurden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch keine komplexen Taktikdebatten geführt. Allerdings beschäftigte man sich nun zunehmend mit der Frage, wie Fußball eigentlich gespielt werden sollte. Auch zu König Eduards Zeiten spielten die Mannschaften sicher nicht Woche um Woche den gleichen Stiefel herunter.

So erschienen im Sheffield Telegraph and Star Sports Special beispielsweise zwischen 1907 und 1914 insgesamt 64 Lehrbeiträge. Zugleich listet Peter J. Seddons Football Compendium zwölf zwischen 1898 und 1912 erschienene Bücher oder Handbücher über das korrekte Fußballspiel auf. Davon waren neun ganz oder zumindest unter inhaltlicher Beteiligung von Profispielern geschrieben worden. Hinzu kam eine ganze Reihe an Kolumnen eines sogenannten Looker-On (gewöhnlich der schottische Journalist Bruce Campbell) mit dem Titel „Blätter aus meinem Notizbuch“. Darin wurden Aspekte von Taktik und Spielweise erörtert, außerdem fand häufig ein Austausch mit den Lesern statt. Alex Jackson vom National Football Museum, Experte für den Fußball in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, hat darauf hingewiesen, dass beinahe jede Debatte auf dem elementaren Unterschied zwischen schottischem Kurzpassfußball und dem vertikaleren Passspiel, das man in England praktizierte, fußte.

Doch es ging nicht nur um Schotten und Engländer oder Kurzpässe versus lange Bälle. Der dritte Lehrbeitrag im Sheffield Telegraph and Star Sports Special von Percy Sands, dem Mittelläufer von Woolwich Arsenal, fragte: „Wird der Fußball wissenschaftlicher?“ Sands legte dar, dass man in der Diskussion über die korrekte Spielweise bereits „von der Einführung der verschiedensten Mischungen hört, wie etwa dem freien Spiel, dem Kurzpassspiel, den Spielzügen in Dreiecken, der Kick-and-rush-Methode, der individuellen Methode und so weiter“.

Ganz allmählich verbreitete sich die theoretische Auseinandersetzung mit dem Fußball. Zwar sollte die Taktikdebatte erst im Folgejahrzehnt in den Kaffeehäusern an der Donau Einzug in den intellektuellen Mainstream halten. In gewissem Umfang fand sie aber bereits im England unter Eduard VII. statt. 1913 äußerte George Utley von Sheffield United in einem Beitrag über „Das Spiel des linken Läufers“ einige Gedanken zum FA-Cup-Triumph seines damaligen Vereins FC Barnsley im Jahr zuvor. „Barnsley errang seinen Erfolg keineswegs durch gedankenlosen Fußball“, schrieb er. „Nicht selten – und in jedem Fall vor einer Partie gegen eine große Mannschaft – haben wir im Umkleideraum und anderswo in aller Ausführlichkeit unsere Taktik besprochen und uns auf bestimmte Vorgehensweisen verständigt. Nachdem wir in Lytham angekommen waren, bereiteten wir uns auf das Pokalendspiel vor und begannen nach dem Abendessen solcherart Gespräche. Mit einem Male trat der Trainer auf den Plan. Er holte sich 22 Zuckerstücke und arrangierte sie allesamt auf dem Tisch, in den Positionen zweier Fußballmannschaften. Mit Zügen in die eine und die andere Richtung arbeitend, zeigte er uns, wie [George] Lillycrop das erste Tor schießen sollte und wie wir mit 2:0 gewinnen konnten.“ Tatsächlich spielte Barnsley zunächst 0:0 gegen West Bromwich Albion und konnte erst im Wiederholungsspiel durch ein Tor von Harry Tufnell zwei Minuten vor Ende der Verlängerung mit 1:0 gewinnen. Am entscheidenden Punkt ändert das jedoch nichts: Obwohl Barnsley als Musterbeispiel der traditionellen englischen Spielweise betrachtet wurde, richtete das Team seine Herangehensweise am Gegner aus.

Tom Boyle, Mannschaftskapitän sowohl beim FC Burnley als auch beim FC Barnsley, war felsenfest davon überzeugt, dass „die Mannschaft, welche sich der besten Taktik bedient, am Ende siegreich sein wird, und dass in erster Linie der Kapitän der Mannschaft die Taktik wählt, mit der seine Truppe spielen soll. Die strategischen Möglichkeiten einer Fußballmannschaft sind unbegrenzt. Der Kapitän muss Ausschau halten nach den Schwachpunkten des Gegners und das Möglichste aus diesen Schwächen machen, indem er das Spiel in den entsprechenden Teil des Feldes dirigiert. Erscheint ihm der Gegner auf einer Flanke zu stark für die Männer, über die er auf jener Seite des Feldes verfügt, wird er die Order ausgeben, das Spiel auf die schwache Seite des Gegners zu konzentrieren. Die Partien der Zukunft werden mehr durch Taktik als durch irgendetwas anderes gewonnen, und glücklich kann sich die Mannschaft schätzen, die ein Genie von einem Kapitän ihr Eigen nennt – einen Mann, der die Sorgen auf seine Schultern zu nehmen vermag.“

Boyles Worte weisen auf zwei wichtige Dinge hin. Erstens war es der Kapitän und nicht der Trainer, der über die Taktik zu befinden hatte. Darin ähnelte er sehr viel stärker einem heutigen Kapitän beim Kricket als beim Fußball. Zweitens wandelte Boyle das 2-3-5 ein wenig ab. Er verlagerte das Spiel auf den linken oder rechten Flügel, anstatt die Positionen komplett zu tauschen. Gleichzeitig wirkt seine Denkweise sehr modern, da er bereits akzeptierte, dass es in der Taktik kaum allgemeingültige Wahrheiten gibt: „Beim Fußball muss die gewählte Taktik stets in einem Verhältnis zu den Fähigkeiten der Männer in der Mannschaft stehen, wenn man sie erfolgreich umsetzen möchte. Daher ist es schwierig, allgemeingültige Regeln zu formulieren“, sagte er.

Preston North End als Sieger der ersten beiden englischen Meisterschaften, der AFC Sunderland und Aston Villa als dominierende Kräfte in den 1890er Jahren sowie Newcastle United im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren allesamt extrem abhängig von Importen aus Schottland. Da war es nur logisch, dass sie auch ein Kurzpassspiel nach schottischer Art aufzogen. „Die Stürmer tippen den Ball hin und her und gewinnen mit kurzen, scharfen Übergaben von einem Mann zum nächsten an Raum“, erklärte Frank Buckley, Verteidiger beim FC Birmingham (heute Birmingham City) und Derby County und später innovationsfreudiger Trainer der Wolverhampton Wanderers.

Für Newcastles Kapitänslegende Colin Veitch war die Einführung dieser Spielweise die Folge der Verpflichtung von Stürmer R.S. Coll von Queen’s Park (genannt „Toffee Bob“, zu Deutsch „Karamell-Bob“, weil er gemeinsam mit seinem Bruder einen Kiosk eröffnet hatte). Zudem befand sich der linke Läufer Peter McWilliam, der bereits ein Jahr zuvor von Inverness Thistle gekommen war und später als Trainer noch entscheidenden Einfluss auf Tottenham Hotspur nehmen sollte, in der Mannschaft. Von McWilliam stammt eine Beschreibung der Spielweise von McColl, die Kolumnist Looker-On später wieder aufnahm. Ausgangspunkt sei eine „feine erste Ballberührung“ gewesen, gefolgt von „einem raschen Blick über das Spielfeld, nach dem er ein Bild von der gesamten Anordnung gewonnen zu haben schien. In dem Moment spielte er einen wunderschön bemessenen Pass, stets auf Höhe der Rasenkante, zu seinem am besten positionierten Mannschaftskameraden, während er selbst die gefährlichste Position für den zurückkommenden Ball einnahm. Er schien mehrere ‚Züge‘ gleichzeitig zu sehen, wie beim Dame-Spiel. Sehr oft konnte ich beobachten, wie er einen Pass spielte und dann in die Position für ein Anspiel zurückging, auch wenn er wusste, dass der Ball zuvor noch von wahrscheinlich zwei oder mehr Männern seiner Truppe gespielt werden musste.“

Das war der Kern des schottischen Fußballs. Es war im Grunde genommen eine vorsichtige Weiterentwicklung der Spielweise aus Passen und Laufen, von der 1872 die arglosen Engländer überrascht wurden. Eine Variante der Kurzpassidee, die durch Newcastle bekannt wurde, war das sogenannte triangular game, das „Dreiecksspiel“. Dazu gehörten Passstafetten zwischen dem Außenläufer, dem Halbstürmer und dem Außenstürmer auf einem oder auch beiden Flügeln. Newcastles Bob Hewison, der diverse Rollen auf der linken Außenbahn übernehmen konnte, sprach in diesem Zusammenhang vom „Spiel mit sechs Stürmern“, was auf die offensive Ausrichtung hindeutet. „Die Kritiker betrachten es als Fußball in Reinform, als die Wissenschaft und Kunst der Kurzweil.“ Es war jedoch eine vergleichsweise Seltenheit, hauptsächlich deshalb, weil die richtige Umsetzung so schwierig war. „Man kann Individualität, Verstand, Anpassungsvermögen und Tempo gar nicht zu viel Bedeutung zumessen“, schrieb Hewison. „Die Anforderungen sind so umfangreich, dass nur ein wahrer Künstler solcherart spielen kann. Doch gibt es keinen Grund, weshalb diese Kunst nicht kultiviert werden sollte, da sie den unverfälschten Fußball darstellt.“

Für ihn wie für jeden sonst, der unter der Wirkung des schottischen Fußballs stand, mag das so gewesen sein. Im Süden Englands hingegen hielt sich die Denkweise, dass die stärker auf Muskelkraft ausgerichtete Variante des Fußballs die reinere darstelle. Die Londoner Corinthians, leidenschaftliche Anhänger des Amateurideals und, zumindest nach eigener Ansicht, Verfechter der besten Traditionen des Fußballs, hingen auch weiterhin dem Dribbeln und dem körperbetonten Spiel an. Gegründet hatte den Verein Nicholas Lane Jackson, ebenjener FA-Funktionär, der auch den Feldzug gegen den Einsatz von Profis bei Preston North End angeführt hatte. Er bestand darauf, dass „der Pass nach vorne während des Laufens“ das prägende Element der eigenen Spielweise sein müsse. „Die gesamte Sturmreihe läuft gemeinsam los und hält nicht an, so lange sie nicht den Ball verliert oder auf das Tor schießt“, sagte C.B. Fry, zu dessen zahlreichen sportlichen Meriten auch Einsätze für die Corinthians zählen. „Bei dem wissenschaftlichen und überaus gescheiten Kurzpassspiel der Profistürmer bleiben die Spieler oft stehen oder weichen nach hinten aus; diese Methode, mit der man zwar häufig den Ball halten kann, hemmt also den Angriffsschwung.“

Das mag zunächst einmal wenig raffiniert klingen, allerdings hatten die Corinthians Ende der 1890er Jahre mit G.O. Smith einen Mittelstürmer, der lieber die Bälle an seine Flügelspieler und Mitspieler verteilte, als selbst Tore zu schießen – vielleicht ein erster Vorläufer einer falschen Neun. Auch nach Ansicht von Klassestürmer Steve Bloomer, der an der Seite von Smith für England spielte, hat Smith „die Rolle des Mittelstürmers von der eines individualistischen Torjägers zu einem Spieler gewandelt, der die Sturmreihe, ja die gesamte Mannschaft miteinander verband“.

Im Profibereich zeigte sich die direktere Herangehensweise tendenziell als offene oder über die Flügel laufende Spielweise. „Die gefährlichste Form des Angriffsspiels ist die sich verlagernde, offene Spielweise, mit langen Pässen aus dem Zentrum auf die Flügel und von den Männern auf den Halbpositionen auf dem einen Flügel auf die Flankengeber auf dem anderen“, erklärte Andrew Wilson, Halblinker bei Sheffield Wednesday. „Wenn man den Ball solcherart zirkulieren lässt, wissen die Verteidiger nicht, wo sie einen kriegen sollen. Stürmern, die am Balle kleben bleiben, können sie wohl die Luft zum Atmen nehmen, doch wenn es flink hin und her geht, geraten sie in Verlegenheit.“ In den Worten von Wednesdays Halbrechtem Billy Gillespie gehörten zu dieser Taktik „schwungvolle Pässe vom Halbstürmer auf dem einen Flügel zum Außenstürmer auf dem anderen, mit weiten Pässen vom Mittelstürmer auf beide Seiten“.

Diese Spielweise kam etwa bei Blackburn Olympic zum Einsatz und wurde Mitte der 1880er Jahre von West Bromwich Albion weiterentwickelt. West Brom hatte 1886 und 1887 das Endspiel um den FA-Cup verloren, und kaum einer setzte auf sie, als sie im Finale 1888 auf das übermächtige Preston trafen, das in der ersten Runde den FC Hyde mit 26:0 ausgeschaltet hatte. Bei Preston war man sich seiner Sache so sicher, dass man den Schiedsrichter, Major Francis Marindin, fragte, ob man sich nicht vor dem Anpfiff mit dem Pokal fotografieren lassen könne. „Solltet ihr den nicht vorher auch gewinnen?“, entgegnete der.

Die Spieler von Preston beklagten sich später, dass sie vor dem Spiel noch beim University Boat Race zugeschaut hätten und dabei steif geworden seien. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, jedenfalls setzten sich vor 17.000 Zuschauern (dem ersten ausverkauften Spiel der Fußballgeschichte) „West Bromwichs weite Pässe und offener Fußball“ durch, wie Geoffrey Green es beschrieb. Schlüssel zum 2:1-Sieg war der kleinwüchsige Rechtsaußen W.I. Bassett, der noch am gleichen Abend in die englische Mannschaft gegen Wales berufen wurde und in den folgenden acht Jahren Stammspieler im Nationalteam bleiben sollte. „Zu seiner Zeit gingen die Spieler Richtung Eckfahne und hoben dann von dort aus ihre Flanken in die Mitte vor das Tor, doch unterwarf sich Bassett niemals solchen Methoden“, sagte Green. „Er schwor darauf, möglichst rasch Raum zu gewinnen (sein Antritt war sagenhaft) und den Ball so präzise und so schnell wie möglich abzuspielen, noch bevor die Verteidigung Zeit hatte, sich wieder zu fangen.“

Schon früh gab es die Wahrnehmung, dass das Kurzpassspiel etwas für die Künstler war und der Fußball mit langen Bällen für diejenigen, die technisch vielleicht weniger beschlagen waren und das Beste aus ihrem limitierten Können machen wollten. „Da kam eine Mannschaft, die komplett aus Staffordshire stammte und deren Gehaltsabrechnung nicht mehr als zehn Pfund pro Woche betrug, und traf auf die Macht aus Preston, eine Truppe von hochbezahlten Künstlern, nicht wenige von ihnen gefeierte schottische Experten“, schrieb Green.

In Schottland hegte man keinen Zweifel daran, dass die reinste Form des Fußballs das Kurzpassspiel war. Das lässt sich am vielleicht deutlichsten an der Ablehnung erkennen, die die Glasgower Zeitungen dem Spiel mit langen Bällen entgegenbrachten, wie es von den Vereinen aus Dumbartonshire (FC Renton, FC Vale of Leven und FC Dumbarton) praktiziert wurde. Als Renton als schottischer Pokalsieger im sogenannten Champions-of-the-World-Spiel 1888 gegen FA-Cup-Sieger West Bromwich Albion antrat, zeigte Renton einen derart rohen Fußball, dass die schottische Presse als ausdrücklicher Befürworter des Kurzpassfußballs von Queen’s Park ihre Sympathie für West Brom nicht verhehlen konnte – und das, obwohl West Brom selbst für sein direktes Spiel nach vorn bekannt war. Die Spielweise Rentons muss also schon sehr weit vom Fußball Queen’s Parks entfernt gewesen sein.

Das Faible der Klubs aus Dumbartonshire für den langen Ball war schon sprichwörtlich, so dass der Scottish Umpire in einem Vorbericht zu einem Gastspiel von Barnsley bei Celtic Glasgow die „kurze und künstlerische“ Spielweise von Celtic gegen „den verwegenen, wagemutigen alten Renton-Fußball Barnsleys“ abgrenzte. Die Begegnung endete mit einem 1:1. Das war Anlass genug für das englische Referee’s Notebook, darüber nachzusinnen, dass „wir es in der Vergangenheit zwar gewohnt waren, die maschinenartigen Pässe von Aston Villa und die ausgezeichnete individuelle Klasse mancher Spieler West Bromwichs zu bestaunen, nie zuvor jedoch eine solche Kombination aus Kunstfertigkeit, grenzenlosem Enthusiasmus und waghalsiger Taktik wie jene gesehen haben, welche die Männer aus Yorkshire zeigten. Einigen Leuten schien der waghalsige Teil des Fußballs nicht zu gefallen, doch ist dies die neue englische Spielweise. … Das Spiel war den weiten Weg wert, und sei es nur, um den deutlichen Unterschied in den Spielweisen zu sehen. Celtic hat sich Anerkennung für die Art und Weise verdient, in der es sich gegen dermaßen mannhaft entschlossene Gegner stemmte. Es handelte sich um Barnsleys erstes Spiel der Saison, und es sagt viel über die Qualität ihres Trainings aus, dass die Männer das Spielfeld beinahe so frisch verließen, wie sie aus dem Pavillon aufgetaucht waren.“ Dass man Barnsley in England als fortschrittlich erachtete, in Schottland hingegen mit den Spießbürgern aus Dumbartonshire verglich, ist bezeichnend für die Entwicklung des Fußballs in diesen beiden Ländern.

Wie Alex Jackson festgestellt hat, gab es die Sichtweise, dass feiner Kurzpassfußball zwar prima für die Liga geeignet sei, eine Mannschaft jedoch knallhart sein müsse, wenn sie den FA-Pokal gewinnen wolle. Dort nämlich könne schon der kleinste Ausrutscher das Ausscheiden bedeuten. In einem Beitrag in Heft Nummer drei der Fußballzeitschrift The Blizzard erläutert Jackson 2011, dass Newcastle United, das in den FA-Pokalendspielen 1905, 1906 und 1908 jeweils unterlegen war, die Taktik auf eine härtere, stärker vertikal nach vorne gerichtete Spielweise umstellte und dann Barnsley im Finale 1910 im Wiederholungsspiel besiegen konnte. „Dieser vertikalen Spielweise wurde in englischen Pokalspielen der Vorzug gegeben“, schrieb Jackson in einem weiteren Beitrag über die Taktik der ersten Jahre. „Die Bedingungen im Pokal führten dazu, mit besonders viel Durchschlagskraft, Tackling und Tempo zu spielen. Das wiederum trug zu der besonders körperbetonten Natur des englischen Fußballs bei.“

In dieser Hinsicht ist es interessant, dass Percy Sands auch vom „Kick and Rush“ sprach, als er in seinem oben erwähnten Beitrag die verschiedenen Spielweisen auflistete. Das nämlich ist sicher keine Variante des Fußballs, die irgendein Trainer bewusst befürworten würde. Jackson hat auch kein Beispiel für einen Spieler gefunden, der diese Spielweise für seine eigene Mannschaft angegeben hätte. Dennoch legt die Verwendung dieses Begriffs nahe, dass allgemein der Fußball in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schneller und aggressiver wurde, also genau die Intensität aufwies, wie man sie auch vom Pokalfußball kannte.

Eine übermäßig schnelle Spielweise war in England besonders stark ausgeprägt. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde dieses Problem zunehmend diskutiert, doch schon vor dem Ersten Weltkrieg war man sich bewusst, dass der englische Fußball immer schneller wurde, eventuell sogar in schädlichem Ausmaß. „Nach umfangreicher Erfahrung sowohl im schottischen wie im englischen Fußball sage ich ohne zu zögern, dass der schottische Fußball tatsächlich langsamer ist, obgleich die Schotten nach meiner Ansicht mit weniger Anstrengung auf das gleiche Ergebnis wie die Engländer kommen“, schrieb Looker-On 1910 (wobei er natürlich Schotte war). „Dass erstklassiger Fußball in Schottland genauer kalkuliert, planvoller und dementsprechend langsamer als englischer Fußball ist, wird praktisch jeder Schotte zugeben, und ich darf vielleicht sagen …, dass die Kaledonier in aller Regel sehr stolz auf diese Tatsache sind. Die schottischen Dorfvereine spielen ein dem durchschnittlichen Fußball in den professionellen englischen Ligen sehr ähnliches Spiel, was in erstklassigen Kreisen in Schottland geringschätzig als ‚Kick-and-rush-Fußball vom Dorf‘ bezeichnet wird. Abseits des Fußballs sind die Schotten durchaus genauso schnell wie die Engländer. Spielen sie indessen Fußball, scheinen sie in höherem Grade als die Angelsachsen einen ‚Kopfsport‘ zu spielen.“

Drei Jahre später hatte Looker-On seine These weiter ausdifferenziert. Nun stellte er fest, dass die unterschiedliche Spielweise in England und Schottland nicht bloß auf die Spieler zurückzuführen war, sondern auch auf die jeweilige Fußballkultur. Looker-On schrieb: „In Schottland … ist der Fußball langsamer, da die schottischen Zuschauer wissen, dass ein Mann, der den Ball über das halbe Spielfeld führt, diesen ganzen Aufwand nicht bloß zu dem einzigen Zweck betreibt, prima dabei auszusehen. Den schottischen Zuschauern nämlich ist wohlbekannt, dass der Ausführende am Ende eines solchen Dribblings den größten Teil der gegnerischen Verteidigung auf sich gezogen haben kann, mit dem Resultat, dass bei seinem Pass ein Kamerad frei vor dem Tor steht. In England wird ein Mann, der etwas Derartiges probiert, den Unmut der Zuschauer deutlich zu spüren bekommen. Dort wird man ihm zu verstehen geben, dass er sich vom Ball trennen soll oder es selbst erledigen müsse, und der schottische Fußball würde in England für lange Zeit auf keine Gegenliebe stoßen; nicht bevor die englischen Zuschauer ihn zu verstehen beginnen. Mehrfach haben Leute zu mir gesagt: ‚Was für ein Erfolg [Johnny] Walker oder [Jimmy] McMenemy wohl in England zuteilgeworden wäre‘, und ich habe dem stets widersprochen. Die beiden eben erwähnten Stürmer wären in beinahe jedem Stadion in England bis zur Abscheulichkeit mit Buhrufen bedacht worden, weil die Zuschauer ganz einfach nicht verstanden hätten, was die Stürmer im Sinn haben.“

Den Spielern war bewusst, dass das hohe Tempo negative Auswirkungen hatte. „Zu sagen, dass einem Spieler die Schnelligkeit fehle, ist in den Augen der Mehrzahl der Fußballanhänger ein vernichtendes Urteil“, meinte West Broms Flügelstürmer A.C. Jephcott 1914 dazu. Die Folge sei, dass „handwerkliches Geschick und Raffinesse bei Taktik und Ballkontrolle nachrangig behandelt zu werden scheinen“. Flügelstürmer Jocky Simpson, der zwar in Lancashire geboren wurde, aber bereits in jungen Jahren nach Schottland gezogen war und sowohl für den FC Falkirk als auch die Blackburn Rovers spielte, hegte keinen Zweifel daran, dass der englische Fußball schneller war. Darin sah er auch den Grund für die schrumpfende Anzahl an Toren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. „Meiner Meinung nach ist das unheimliche Tempo, mit dem in England Fußball gespielt wird, die hauptsächliche Ursache für die dürftige Trefferzahl“, sagte er. „Man scheint mir zu viel für die simple Vorstellung zu opfern, ‚vorwärts zu kommen‘.“

Doch ob man nun schnell oder langsam spielte, mit kurzen Pässen, in Dreiecken oder von Flügel zu Flügel oder gar das Dribbling alter Schule praktizierte – die Schottische Furche, die „Pyramide“, blieb weltweit der Standard. Erst mit der Änderung der Abseitsregel konnte in England das W-M-System entstehen. So wie es einmal die „richtige“ – sprich: einzige – Spielweise gewesen war, zu dribbeln oder alles nach vorne zu werfen, hatte sich nun das 2-3-5 zum Maß aller Dinge entwickelt.

Revolutionen auf dem Rasen

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