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KAPITEL 2

Walzer und Tango

Bald erfreute sich Fußball auch außerhalb Großbritanniens wachsender Beliebtheit. Fast überall, wo die Briten Handel trieben und Geschäfte machten, breitete sich das Spiel aus. Dies beschränkte sich keineswegs nur auf das Empire als solches. Schließlich konnte man mit dem Export von Kupfer aus Chile ebenso Geld verdienen wie mit Guano aus Peru, Fleisch, Wolle und Tierhaut aus Argentinien und Uruguay oder Kaffee aus Brasilien und Kolumbien. Sogar Bankgeschäfte waren überall möglich. In den 1880er Jahren waren 20 Prozent der britischen Auslandsinvestitionen auf Südamerika konzentriert, und um 1890 lebten 45.000 Briten im Großraum von Buenos Aires. Daneben gab es kleinere, aber ebenfalls bedeutende britische Gemeinden in São Paulo, Rio de Janeiro, Montevideo, Lima und Santiago de Chile. Die Briten betrieben dort nicht nur Geschäfte, sondern gründeten auch Zeitungen, Krankenhäuser, Schulen und Sportvereine. Sie beuteten die natürlichen Ressourcen Südamerikas aus und ließen dafür den Fußball zurück.

In Europa verlief die Geschichte ähnlich. Wo immer es eine britische Gemeinde gab, ganz gleich, ob sich ihre Existenz auf diplomatische Beziehungen, Bankgeschäfte, Handel oder Technik gründete: Prompt verbreitete sich dort der Fußball. In Budapest war Újpest, 1885 an einem Gymnasium gegründet, der erste Klub, dem bald darauf MTK und Ferencváros folgen sollten. In Wien mit seiner großen britischen Kolonie wurde Fußball zunächst noch von Angestellten der Botschaft sowie der Banken und verschiedenen Handels- und Ingenieurunternehmen gespielt, konnte sich aber bald breiter etablieren. Am 15. November 1894 fand das erste Spiel in Österreich statt. Der Vienna Cricket Club trat gegen die Gärtner der Anwesen des Barons Rothschild an. Das Interesse vor Ort war so groß, dass Ende 1910 von ehemaligen Mitgliedern des Cricket Club der Wiener Amateur-SV gegründet wurde.

Bei den Tschechen dagegen konkurrierte der Fußball zunächst mit Sokol, der dortigen Variante des in Deutschland so beliebten und nationalistisch gefärbten Turnens. Da sich aber eine wachsende Zahl junger Intellektueller aus Prag an London und Wien orientierte, schlug das Spiel auch dort rasch Wurzeln. Als 1897 der für alle Mannschaften des Habsburgerreiches offene Challenge Cup eingeführt wurde, stieg das öffentliche Interesse weiter an.

Anglophile Dänen, Niederländer und Schweden waren nicht minder schnell darin, sich das Spiel anzueignen. Die Dänen erwiesen sich sogar als so stark, dass sie bei den Olympischen Spielen 1908 in London die Silbermedaille erringen konnten. Nirgends indes dachte man daran, in taktischer oder sonstiger Hinsicht irgendetwas anders zu machen als die Briten. Schaut man sich Fotografien niederländischer Sportvereine aus dem späten 19. Jahrhundert an, fühlt man sich an das viktorianische England erinnert: überall nach unten zeigende Schnurrbärte und gespielte Gleichgültigkeit. Maarten van Bottenburg und Beverley Jackson zitieren in ihrem Buch Global Games einen der Abgebildeten mit den Worten, der Zweck des Sportes sei es, „inmitten der schönen niederländischen Landschaft … auf englischen Plätzen zu spielen, mit all den englischen Bräuchen und englischen Strategien“. Es ging hier also um bloße Nachahmung, eigene Ideen spielten keine Rolle.

In Mitteleuropa und Südamerika dagegen, wo man den Briten gegenüber eine skeptischere Einstellung pflegte, begann sich der Fußball weiterzuentwickeln. Zwar wurde das 2-3-5-System beibehalten, doch schließlich zählte nicht nur die Form, sondern auch der Stil. In Großbritannien blieb man, obwohl sich das Passspiel durchgesetzt hatte und das 2-3-5 allgemein verbreitet war, bei einer rauen und körperbetonten Spielweise. Andere Länder dagegen entwickelten ausgeklügeltere Formen des Fußballs.


Das Besondere am Fußball Mitteleuropas war seine schnelle Verbreitung unter der städtischen Arbeiterklasse. Zwar sorgten Tourneen des AFC Oxford University, des FC Southampton, des Londoner Klubs FC Corinthians, des FC Everton und des FC Tottenham Hotspur wie auch die Gastspiele mehrerer Trainer für einen weiterhin britischen Einfluss. Allerdings waren die Spieler selbst nicht von den Werten englischer Privatschulen geprägt worden und deshalb auch nicht voreingenommen, was die „richtige“ Art betraf, Fußball zu spielen.

Darüber hinaus übten die Schotten den größten Einfluss auf sie aus. So kam es, dass das Spiel von kurzem, schnellem Passspiel dominiert wurde. Slavia Prag beispielsweise wurde von 1905 bis 1938 von John Madden trainiert, der vorher bei Celtic Glasgow als linker Innenstürmer aktiv gewesen war. Wie Jim Craig in seinem Buch A Lion Looks Back schreibt, galt er als „der Ballkünstler seiner Zeit, der alle Tricks draufhatte“. Unterdessen war sein Landsmann John Dick, der einst für den FC Airdrieonians und Arsenal London gespielt hatte, zwischen 1919 und 1933 zweimal als Trainer für Sparta Prag verantwortlich. In Österreich unternahm man gleichzeitig den bewussten Versuch, den Stil der Glasgow Rangers nachzuahmen, die dort im Jahre 1905 eine Tournee absolviert hatten.

Der wichtigste Lehrmeister des schottischen Spiels aber war ein Engländer irischer Abstammung: Jimmy Hogan. Er stammte aus einer streng katholischen Familie und wuchs in Burnley in Nordengland auf. Als Jugendlicher trug er sich zunächst mit dem Gedanken, Priester zu werden. Dann aber wandte er sich dem Fußball zu und wurde schließlich der einflussreichste Trainer aller Zeiten. „Wir spielten Fußball, wie ihn Jimmy Hogan uns gelehrt hatte“, sagte Gusztáv Sebes, Trainer der großen ungarischen Mannschaft der 1950er Jahre. „Wann immer man unsere Geschichte des Fußballs erzählt, sollte sein Name in goldenen Lettern geschrieben werden.“

Entgegen dem Wunsch seines Vaters, der eine Karriere als Buchhalter für ihn vorgesehen hatte, trat Hogan als 16-Jähriger der in Lancashire beheimateten Mannschaft des FC Nelson bei. Er entwickelte sich nach eigener Aussage zu einem „brauchbaren und fleißigen rechten Innenstürmer“, wechselte weiter zum AFC Rochdale und später zum FC Burnley. Berichten zufolge war er ein schwieriger Charakter, der immer wieder um eine bessere Bezahlung feilschte und fast besessen an sich arbeitete. Seine Mannschaftskameraden gaben ihm den Spitznamen „der Pfarrer“ und spielten damit auf seine pedantische, fast puritanisch anmutende Art an. Beispielsweise ersannen Hogan und sein Vater ein einfaches Trainingsfahrrad – im Prinzip ein auf einem klapprigen Holzgestell befestigtes Fahrrad. Darauf legte er täglich knapp 50 Kilometer zurück, bis er bemerkte, dass dies lediglich zu einer Festigung seiner Wadenmuskeln führte und ihn alles andere als schneller machte.

Training als solches sorgte selbst im Profifußball zunächst für Stirnrunzeln. Man erwartete von den Spielern, dass sie rannten und gegebenenfalls sogar ihre Sprintstärke trainierten. Die Arbeit mit dem Ball dagegen wurde als unnötig, möglicherweise sogar als schädlich angesehen. Auf dem Trainingsplan von Tottenham Hotspur von 1904 standen lediglich zwei Einheiten pro Woche mit dem Ball, was aber immer noch mehr war als bei den meisten anderen Teams. Würde man einem Spieler unter der Woche einen Ball geben, so die Argumentation, wäre er am Sonnabend nicht hungrig danach.

Nach einem Spiel, in dem Hogan eine Reihe von Gegnern ausgedribbelt, eine gute Chance herausgespielt und dann enttäuschenderweise über die Querlatte geschossen hatte, fragte er Trainer Spen Whittaker, was er wohl verkehrt gemacht habe. War seine Fußhaltung nicht korrekt gewesen? War er nicht im Gleichgewicht gewesen? Whittaker zeigte sich wenig interessiert und riet Hogan lediglich, es weiter zu versuchen. Ein Treffer bei zehn Versuchen sei doch eine ordentliche Quote. Manch anderer hätte nach solch einem Gespräch lediglich mit den Schultern gezuckt. Hogan dagegen blieb, perfektionistisch wie er nun einmal war, hartnäckig bei der Sache. Seiner Ansicht nach waren solche Dinge keine Frage des Glücks, sondern der Technik. „Von dem Tag an begann ich, dies alles selbst zu ergründen“, sagte er. „Zusätzlich suchte ich den Rat der wirklich großen Spieler. So kam es, dass ich in meinem späteren Leben Trainer wurde. Es lag nahe, weil ich mich ja schon als recht junger Profi selbst trainiert hatte.“

Hogan war von der primitiven Herangehensweise in Burnley zwar frustriert. Dennoch verließ er Lancashire erst im Alter von 23 Jahren zum ersten Mal, und das auch nur aufgrund finanzieller Differenzen. Fulhams Trainer Harry Bradshaw, den er bei Burnley kurz kennengelernt hatte, lockte ihn fort. Bradshaw verfügte über keinen Hintergrund als Spieler und war eher Geschäftsmann und Funktionär denn Trainer. Nichtsdestotrotz besaß er klare Vorstellungen davon, wie Fußball gespielt werden musste. Da er kein Anhänger des Kick-and-rush war, verpflichtete er eine Reihe von schottischen Trainern, die im Kurzpassspiel geschult waren.

Bradshaws Methode war fraglos erfolgreich. Mit Hogans Hilfe gewann Fulham 1906 und 1907 die Meisterschaft in der Southern League. Nachdem der Verein 1907/08 der zweiten Liga der Football League beigetreten war, erreichte man das Halbfinale des FA-Pokals, wo man schließlich gegen Newcastle United verlor. Bei dieser Gelegenheit spielte der bereits seit einiger Zeit an einer Knieverletzung laborierende Hogan zum letzten Mal für den Klub. Geschäftsmann, der er war, entschied Bradshaw, dass weitere Einsätze ein nicht zu rechtfertigendes Risiko für den Verein darstellten. Kurzzeitig schloss Hogan sich Swindon Town an. Dann aber überzeugten ihn Vertreter der Bolton Wanderers von einer Rückkehr in den Nordwesten, nachdem sie eines Sonntags nach der Abendmesse vor der Kirche auf ihn gewartet hatten.

Seine dortige Karriere verlief indes enttäuschend und endete mit dem Abstieg. Dafür wurde Hogan bei einer während der Saisonvorbereitung durchgeführten Reise in die Niederlande auf das in Europa schlummernde Potenzial und den dort vorhandenen Lernwillen der Spieler aufmerksam. Der englische Fußball mochte Training vielleicht als unnötig abgetan haben – die Niederländer hingegen bettelten geradezu darum. Nach einem 10:0-Sieg über den FC Dordrecht schwor Hogan, eines Tages „zurückzukehren und diesen Jungs beizubringen, wie man vernünftig spielt“.

Dass es tatsächlich so kommen sollte, war auch seiner Freundschaft mit dem aus Redcar stammenden Ingenieur James Howcroft, der als einer der besten Schiedsrichter galt, zu verdanken. Da Howcroft regelmäßig die Leitung von Spielen außerhalb Großbritanniens übernahm, kannte er eine Reihe ausländischer Funktionäre. Eines Abends erwähnte Howcroft Hogan gegenüber, dass Dordrecht einen neuen Trainer suche und darauf hoffe, einen Experten des britischen Spiels zu verpflichten. Hogan ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen und bewarb sich. Ein Jahr nach seinem Schwur kehrte er im Alter von 28 Jahren nach Holland zurück, wo man sich auf einen Zweijahresvertrag einigte.

Hogans Spieler waren Amateure, darunter viele Studenten. Dennoch begann er sie einem Training zu unterziehen, wie er es bei britischen Profis für angebracht gehalten hätte. Fraglos förderte er dabei auch die Fitness der Spieler, doch ging es ihm vor allem darum, ihre Ballkontrolle zu verbessern. Seinen eigenen Worten nach wollte er mit seiner Mannschaft „das alte schottische Spiel“ nachbilden und auf „intelligente, konstruktive und fortschrittliche Weise“ spielen lassen. Hogan führte auch theoretische Einheiten ein, in denen er seine Vorstellungen vom Fußball mit Kreide auf einer Tafel erläuterte. Fort an wurde Taktik und Positionsspiel nicht mehr einfach nur spontan auf dem Platz vermittelt, sondern mit Hilfe von Diagrammen in einem Klassenzimmer erklärt.

Hogan war erfolgreich und beliebt – so sehr, dass man ihn um die Betreuung der niederländischen Nationalmannschaft bei einem Spiel gegen Deutschland bat. Dieses endete mit einem 2:1-Erfolg. Da Hogan aber gerade einmal 30 Jahre alt war, überkam ihn das Gefühl, auch als Spieler noch einiges geben zu können. Als sein Vertrag in Dordrecht endete, kehrte er nach Bolton zurück, wo man seine Spielerlaubnis aufrechterhalten hatte. Hogan wirkte dort noch eine Saison lang und leistete seinen Beitrag zum Aufstieg des Teams. Dennoch wusste er, dass seine Zukunft die eines Trainers war. Im Sommer 1912 sah er sich erneut nach einer Anstellung um. Wiederum erwies sich Howcroft als hilfreich, indem er den Kontakt zu Hugo Meisl herstellte, dem großen Pionier des österreichischen Fußballs.


Hugo Meisl wurde 1881 in der böhmischen Stadt Maleschau als Sohn einer bürgerlich-jüdischen Familie geboren. Schon als Kind kam er nach Wien. Er begeisterte sich zunehmend für Fußball und spielte mit begrenztem Erfolg für den Cricket Club. Allerdings sah sein Vater ihn lieber als Geschäftsmann und besorgte ihm einen Arbeitsplatz in Triest. Bald sprach Meisl fließend Italienisch und erwarb auch in anderen Sprachen Grundkenntnisse. Für seinen Wehrdienst kehrte er schließlich nach Wien zurück. Er folgte dem Wunsch seines Vaters, sich eine Stelle bei einer Bank zu suchen, begann allerdings gleichzeitig, für den österreichischen Fußballverband zu arbeiten. Dort war Meisl zunächst vor allem mit der Einwerbung von Geldmitteln betraut. Meisl, wie Hogan ein intelligenter Innenstürmer, hatte jedoch konkrete Vorstellungen vom Fußball und war entschlossen, an der Zukunft des österreichischen Fußballs mitzuarbeiten. So erweiterte sich langsam, aber sicher sein Tätigkeitsfeld. Als er de facto Vorsitzender des österreichischen Verbandes wurde, gab er seine Karriere als Banker schließlich auf.

1912 spielte Österreich in einem von Howcroft geleiteten Spiel 1:1 gegen Ungarn. Enttäuscht über das Ergebnis, fragte Meisl Howcroft, was seine Mannschaft wohl falsch gemacht habe. Howcroft entgegnete ihm, dass Österreich seiner Meinung nach einen geeigneten Trainer bräuchte – jemanden, der die individuelle Technik der Spieler weiterentwickeln konnte, mit anderen Worten: jemanden wie seinen alten Spezi Jimmy Hogan. Ohne viel Federlesens verpflichtete Meisl Hogan und gab ihm einen sechswöchigen Vertrag. Ein Teil von Hogans Engagement bestand darin, mit österreichischen Vereinen zu arbeiten. Vor allem aber sollte er die österreichische Nationalmannschaft auf die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm vorbereiten.

Hogans erste Trainingseinheit verlief nicht sonderlich gut. Die österreichischen Spieler konnten ihn nur schwer verstehen und hatten das Gefühl, er konzentriere sich zu sehr auf Grundlagenarbeit. Meisl dagegen war beeindruckt. Er und Hogan unterhielten sich bis tief in die Nacht über ihre Vorstellungen vom Fußball. Aus taktischer Sicht konnten beide am 2-3-5 nichts Fehlerhaftes entdecken – schließlich bildete es seit über 30 Jahren das Fundament des Fußballs. Beide meinten jedoch, dass eine Weiterentwicklung vonnöten sei, weil viele Mannschaften zu unflexibel und somit vorhersehbar agierten. Beide hielten es überdies für notwendig, den Ball die Arbeit machen zu lassen. Rasche Kurzpasskombinationen waren ihrer Meinung nach dem Dribbling vorzuziehen und die individuelle Technik entscheidend – allerdings nicht für jene kurvenreichen Sololäufe, die einmal das Markenzeichen des südamerikanischen Fußballs werden sollten. Stattdessen ging es um die sofortige Ballkontrolle bei der Annahme eines Passes und die damit verbundene Möglichkeit einer schnellen Weitergabe. Hogan legte außerdem Gewicht auf lange Pässe, mit denen die gegnerische Verteidigung durcheinandergebracht werden sollte – vorausgesetzt, die Bälle wurden nicht einfach nach vorne gehauen, sondern genau gespielt. War Meisl ein Romantiker, war Hogan im Grunde genommen ein Pragmatiker. Nicht irgendwelche weltfremden Glaubenssätze hatten ihn zu einem Missionar des Passspiels macht. Hogan war einfach nur der Meinung, dass Ballbesitz das beste Mittel sei, um Fußballspiele zu gewinnen.

Österreich verpasste Deutschland in Stockholm eine 5:1-Packung, schied dann aber im Viertelfinale nach einem 3:4 gegen die Niederlande aus. Dessen ungeachtet blieb Meisl weiterhin von Hogan überzeugt. Als der Deutsche Fußball-Bund ihn um eine Empfehlung bei Hogan bat, bot er diesem lieber selbst einen Job an. Meisl beauftragte ihn mit der Vorbereitung Österreichs auf die Olympischen Spiele 1916. „Mein dunkles, finsteres und industriell geprägtes Lancashire zu verlassen und ins lebenslustige Wien zu kommen, war, wie ins Paradies einzutreten“, sagte Hogan. Er arbeitete zweimal in der Woche mit der Olympiaauswahl und trainierte in der übrigen Zeit mit den besten Vereinsmannschaften der Stadt. Am Ende war er so gefragt, dass er seine Einheiten beim Wiener FC morgens um halb sechs ansetzen musste. Österreich wurde warm mit Hogan, und Hogan wurde warm mit Österreich. Dessen Fußball, so sagte er, sei wie ein Walzer, „leicht und einfach“. Meisl war optimistisch, dass die Olympischen Spiele 1916 ein Erfolg werden würden. Doch der Krieg sollte diesen Traum vernichten. Als Hogan erkannte, dass ein bewaffneter Konflikt drohte, nahm er Kontakt zum britischen Konsul auf und fragte, ob eine rasche Rückkehr mit der Familie nach Großbritannien ratsam sei. Man teilte ihm mit, dass keine Gefahr im Verzug sei. Tatsächlich aber folgte innerhalb von 48 Stunden die Kriegserklärung. Einen Tag darauf wurde Hogan als Ausländer interniert.


Jimmy Hogan, Fußballpionier auf dem europäischen Festland, zeigt der 1940 in Frank reich stationierten Einheit der britischen Luftwaffe, wie man köpft.

Dank des Einsatzes des amerikanischen Konsuls konnten seine Frau und sein Kind im März 1915 nach Großbritannien zurückkehren. Hogan selbst wurde einen Tag vor der geplanten Überstellung in ein deutsches Internierungslager freigelassen. Die Gebrüder Blythe, die ein Kaufhaus in Wien besaßen, erklärten sich einverstanden, für ihn zu bürgen. Hogan stand daraufhin fast eineinhalb Jahre in ihren Diensten und gab ihren Kindern Tennisunterricht. Allerdings waren 200 Kilometer weiter östlich bereits Bestrebungen im Gange, ihn zurück zum Fußball zu holen. Baron Dirstay, ein Absolvent der Universität von Cambridge und Präsident des Budapester Klubs MTK, hatte von Hogans Notlage gehört. Er ließ einige diplomatische Kontakte spielen und verschaffte ihm schließlich eine Stelle als Trainer seiner Mannschaft – vorausgesetzt, Hogan meldete sich regelmäßig bei der örtlichen Polizei.

Hogan nahm bereitwillig an. Da der größte Teil der Stammelf im Einsatz an der Front war, bestand seine erste Aufgabe darin, eine Mannschaft zusammenzustellen. Naturgemäß wandte er sich dabei jungen Spielern zu. Zwei der bekanntesten Spieler des Vereins wurden György Orth und József „Csibi“ Braun. Hogan hatte sie verpflichtet, nachdem er sie bei einem Spaziergang im Angol-Park beim Kicken beobachtet hatte. „Ich stürzte mich auf sie und sagte: ‚Die gehören mir, mir allein‘“, erzählte er später. „Sie waren beide kluge Jungs, die in Budapest das Gymnasium besuchten. Jeden Tag nach der Schule standen sie bei mir auf dem Platz, und ich unterwies sie in der Kunst des Spieles.“ Mit ihrer intelligenten und lernbegierigen Art waren Orth und Braun typische Vertreter jener Spieler, die Mitteleuropa hervorbrachte und mit denen Hogan so gerne arbeitete. Genau deshalb fühlte er sich ja in Wien wie auch in Budapest so sehr zu Hause. „Der große Vorteil des mitteleuropäischen gegenüber dem britischen Fußball besteht darin“, so sagte Hogan, „dass die Jungs bereits in sehr jungen Jahren trainiert werden.“

Seine Methoden führten zu spektakulären Erfolgen. 1916/17 gewann MTK nach einer kurzen, kriegsbedingten Pause die erste offizielle Meisterschaft und verteidigte sie neun Jahre lang. Nach dem Krieg ließ eine Budapester Auswahl aufhorchen, als sie den Bolton Wanderers eine 4:1-Klatsche zufügte und damit die Stärke des Festlandfußballs demonstrierte. Hogan selbst war allerdings nur bei zwei Triumphen MTKs der Trainer. Als der Krieg zu Ende war, kehrte er, sobald er konnte, nach Großbritannien zurück. „Meine Zeit in Ungarn war bei nahe genauso glücklich wie mein Aufenthalt in Österreich. Budapest ist eine wundervolle Stadt – meiner Meinung nach die schönste in Europa“, sagte er. Dafür aber hatte er fast vier Jahre weder seine Frau noch seinen Sohn gesehen. Hogans Nachfolger wurde mit Dori Kürschner einer seiner älteren Spieler. 20 Jahre später sollte Kürschner noch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Fußballs in Brasilien spielen.

Hogan zog wieder nach Lancashire. In Liverpool fand er einen Job im Versand bei Walker’s Tobacco. Seine Geldmittel blieben allerdings knapp. Man gab ihm deshalb den Rat, bei der FA um eine Beihilfe nachzusuchen. Der Verband hatte einen Unterstützungsfonds für Profis eingerichtet, die durch die Kriegsjahre finanziell zu Schaden gekommen waren. Hogan glaubte, einen Anspruch auf 200 Pfund zu haben. Er lieh sich fünf Pfund, um die Reise nach London bezahlen zu können. Doch der Generalsekretär der FA, Frederick Wall, hatte nur Verachtung für ihn übrig. Der Fonds sei für diejenigen, die gekämpft hatten, sagte Wall. Hogan entgegnete, dass er vier Jahre lang interniert gewesen sei und keine Chance gehabt habe, sich zum Dienst zu melden. Als Antwort gab Wall ihm drei Paar Socken und höhnte, „dass die Jungs an der Front über diese sehr froh gewesen seien“. Hogan war voller Zorn und konnte der FA nie verzeihen. Für den englischen Fußball waren seine Fähigkeiten damit verloren – wobei es fraglich bleibt, ob man seine Vorstellungen im konservativen England überhaupt jemals positiv aufgenommen hätte.

In Wien folgte Hugo Meisl weiter Hogans Vorbild, wenngleich sein Vertrauen kurz nach dem Krieg durch eine 0:5-Niederlage Österreichs gegen eine süddeutsche Auswahl auf eine harte Probe gestellt wurde. Auf dem gefrorenen, ackerähnlichen Platz in Nürnberg erwies sich das Kurzpassspiel als untauglich. Der niedergeschlagene Meisl diskutierte die ganze Rückfahrt lang mit seinen Spielern, ob sie ihre Spielweise direkter und körperbetonter gestalten sollten. Auf gar keinen Fall, lautete die Antwort. Damit war der Grundstein für das österreichische „Wunderteam“ Anfang der 1930er Jahre gelegt, jener ersten großen Nationalauswahl, der ein Triumph verwehrt blieb. Unter Meisl, so schrieb Brian Glanville, „wurde Fußball beinahe zu einer Theatervorführung, einer Art Ballett unter Wettbewerbsbedingungen, bei dem die Torerzielung nichts anderes als einen Vorwand für das Weben von 100 komplizierten Mustern darstellte“.

Grundsätzlich blieb die Schottische Furche aber weiterhin die Basis. Die Spielweise in Form einer radikalisierten Variante des schottischen Passspiels erwies sich allerdings als so verschieden von der in England praktizierten Weise, dass das „Scheiberln“ als eigenes System reüssierte. Technik war dabei zwar wichtiger als Robustheit, wurde aber in den Dienst der Mannschaft gestellt. In Südamerika wich der Fußball später sogar noch deutlicher vom ursprünglichen Vorbild ab. Auch hier stand die Technik hoch im Kurs, doch feierte man in Uruguay und besonders in Argentinien darüber hinaus vor allem Individualität und Selbstdarstellung.


Die Fußballregeln der Football Association erreichten Argentinien im Jahre 1867, als sie von der englischsprachigen Zeitung The Standard abgedruckt wurden. Noch im gleichen Jahr gründete sich als Ableger des Cricket Club der Buenos Aires Football Club. Fußball konnte sich aber zunächst nicht etablieren, und der Verein wechselte sechs Jahre darauf zum Rugby. Erst in den 1880er Jahren sollte der Fußball tatsächlich durchstarten, was in erster Linie Alexander Watson Hutton, einem Absolventen der Universität von Edinburgh, zu verdanken war.

Hutton hatte sich als Lehrer an der St. Andrew’s Scotch School in Argentinien niedergelassen. Als die Schule sich weigerte, die Spielfelder zu erweitern, trat er zurück und gründete 1884 die English High School. Dort beschäftigte er einen Lehrer speziell für den Fußballunterricht. Bei der Reform der Fußballliga des argentinischen Verbandes im Jahr 1893 war Hutton eine der Schlüsselfiguren. Der Alumni Athletic Club aus Buenos Aires, der größtenteils aus Ehemaligen der English High School bestand, erhielt einen Startplatz in der ersten Liga und sollte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominieren. Die Schulmannschaft selbst spielte in niedrigeren Klassen des Ligasystems. Man war jedoch keinesfalls die einzige Schule, die sich um Fußball kümmerte. Sechs der ersten sieben Meisterschaften entschieden Mannschaften für sich, die aus dem renommierten Internat Lomas de Zamora hervorgegangen waren.

Einen ganz ähnlichen Verlauf nahm die Geschichte auch auf dem anderen Ufer des Río de la Plata. In Uruguay hatten junge Briten ebenfalls Kricket- und Ruderklubs gegründet, die Fußballabteilungen hervorbrachten, während auch hier britische Schulen den Fußball nach Kräften förderten. William Leslie Poole, Lehrer an der English High School zu Montevideo, war Huttons Pendant in Uruguay. Er gründete 1891 den Albion Cricket Club, dessen Fußballabteilung bald darauf Spiele gegen Mannschaften aus Buenos Aires austrug.

Ein kurzer Blick auf die Mannschaftsaufstellungen verdeutlicht, dass die Spieler in jenen Anfangszeiten meist Briten oder Anglo-Argentinier waren, und dementsprechend war ihre Haltung. In seiner Geschichte des Amateurfußballs in Argentinien berichtet Jorge Iwanczuk, dass das Ziel darin bestand, „gut, aber leidenschaftslos zu spielen“, und zugleich erzählt er von der Bedeutung des „fairen Spiels“. In einem Spiel gegen die ebenfalls aus Buenos Aires stammenden Estu diantes weigerten sich die Männer von Alumni einmal sogar, einen Strafstoß auszuführen, weil sie ihn als zu Unrecht verhängt betrachteten. Alles drehte sich darum, die Sache auf die „richtige Art und Weise“ anzugehen. Das galt auch für die Taktik, und das 2-3-5 war folglich die Norm. Die umfangreiche Berichterstattung des Buenos Aires Herald über den 3:0-Sieg des FC Southampton über die Alumni im Jahr 1904 – das erste Spiel einer tourenden britischen Mannschaft in Argentinien – verdeutlicht, welch große Rolle die Werte der Privatschulen noch immer spielten. So wurde in einem Leitartikel argumentiert, dass die britische Vormachtstellung das Ergebnis „einer angeborenen Liebe für alles Männliche“ sei.

Nach und nach allerdings schwand die Dominanz des Britischen. Der argentinische Fußballverband AFA (Argentinian Football Association) führte 1903 Spanisch als Geschäftssprache ein. Der Fußballverband Uruguays zog zwei Jahre später nach. 1911 wurde der Alumni Athletic Club abgewickelt. Im darauffolgenden Jahr wurde die AFA zur Asociatión del Football Argentina, auch wenn es noch bis 1934 dauern sollte, bis aus „Football“ „fútbol“ wurde.

Im Gegensatz zu den Briten betrachteten Uruguayer und Argentinier Körperbetontheit nicht als eigenständige Tugend. Genauso wenig besaßen sie ein vergleichbares Misstrauen gegenüber Schläue. Und auch wenn sie das gleiche System spielten, hätte der Stil nicht unterschiedlicher sein können. Der Anthropologe Eduardo Archetti argumentierte, dass mit dem bald spürbar werdenden Einfluss spanischer und italienischer Einwanderer Kraft und Disziplin zugunsten von Geschick und Sinnlichkeit aufgegeben wurden – ein Trend, der sich in einer Reihe von Disziplinen bemerkbar machte. „Wie der Tango, so blühte auch der Fußball in den Armenvierteln auf“, schrieb der uruguayische Dichter und Journalist Eduardo Galeano.

Unterschiedliche Voraussetzungen erfordern unterschiedliche Stile. Einst hatte sich in England das Spiel in den alten Klöstern von jenem auf den Rasenfeldern der Privatschulen unterschieden. Jetzt entwickelten sich auf den schmalen, unebenen und engen Plätzen der ärmeren Gegenden von Buenos Aires und Montevideo wieder andere Fertigkeiten und führten zur Geburt eines neuen Stils. Galeano nannte ihn „eine landestypische Art des Fußballspielens, ganz wie der landestypische Tanz, der in den Milonga-Clubs entstand. Tänzer vollführten filigrane Bewegungen auf einer einzigen Bodenfliese, und auch Fußballspieler ersannen ihre eigene Sprache auf ihrem kleinen Raum. Dabei führten sie den Ball lieber eng bei sich, anstatt ihn zu schießen. … Die ersten hispano-amerikanischen Virtuosen brachten el toque, die sanfte Berührung, hervor: Der Ball wurde wie eine Gitarre angeschlagen, wie ein Quell der Musik.“

Beide Stile konnten nicht harmonisch nebeneinander bestehen, lebten sie doch von ganz unterschiedlichen Tugenden. Als der alte auf den neuen Stil traf, kam es deshalb unausweichlich zum Konflikt. Das wurde bereits 1905 deutlich, als der robuste Stil von Nottingham Forest im sechsten Spiel ihrer Tournee gegen eine größtenteils aus Anglo-Argentiniern bestehende Auswahlelf eine spürbare Missstimmung erzeugte. Der Herald, wie immer auf Seite der Briten, wies ausdrücklich all jene zurecht, die es gewagt hatten, die Spielweise von Nottingham zu kritisieren: „Ein Spiel, das vor allem zur Stärkung der Ausdauer und Erprobung der Kraft junger Männer erdacht wurde, ist nicht unbedingt ein Spiel für den Salon.“ Bei den darauffolgenden Tourneen wurde das Klima immer schärfer, vor allem wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten über die Rolle des Rempelns mit den Schultern im Spiel.

Eine der wenigen Tourneen, die als Erfolg bezeichnet werden konnten, war jene von Swindon Town im Jahre 1912. Sie führte zu der Erkenntnis, dass die Briten möglicherweise dazulernen mussten. Swindons Manager Samuel Allen äußerte sich im Großen und Ganzen anerkennend und sagte, dass er nie zuvor besseren Fußball zwischen zwei Amateurmannschaften gesehen habe. Doch selbst er brachte Bedenken darüber zum Ausdruck, dass die einheimischen Spieler „hauptsächlich auf den eigenen Vorteil bedacht sind und jede sich bietende Gelegenheit nutzten, um im Alleingang gescheite Dinge zu tun“. Sogar in Argentinien selbst standen die Konservativen dieser Entwicklung im Fußball skeptisch gegenüber. Jorge Brown, aus Großbritannien stammender, ehemaliger Spieler der Alumni, beklagte in den frühen 1920er Jahren, dass der neue Fußballstil „durch exzessives Passspiel in der Nähe des Tores geschwächt wird. Es ist ein schöneres, vielleicht auch künstlerischeres und offensichtlich intelligenteres Spiel, das aber seine ursprüngliche Überschwänglichkeit verloren hat.“ Eine in Großbritannien immer häufiger geäußerte Kritik, die erst 1953 von den Ungarn in Wembley auf eindrucksvolle Art und Weise endgültig widerlegt wurde.

Doch schon bei den Olympischen Spielen 1924 bewies Uruguay die Stärke dieses neuen Stils. Während Argentinien entschied, zu Hause zu bleiben, fuhr Uruguay nach Paris und schrieb eine der großen Geschichten der frühen Fußballjahre. Auch wenn Galeano dazu neigt, stark zu romantisieren, so kann man ihm seine offenkundige Entzückung über die Goldmedaille seines Heimatlandes doch kaum verübeln.

Aber von Anfang an: Die Mannschaft bestand aus Arbeitern, unter anderem aus einem Fleischereiarbeiter, einem Marmorsteinmetz, einem Gemischtwarenhändler und einem Eisverkäufer, und musste die Überfahrt nach Europa im wenig komfortablen Zwischendeck verbringen. Um Geld für ihre Verpflegung aufzubringen, trugen die Urus nach ihrer Ankunft zunächst diverse Partien aus. Bevor sie überhaupt nach Frankreich kamen, hatten sie bereits neun Freundschaftsspiele in Spanien gewonnen. Uruguay war die erste lateinamerikanische Mannschaft, die eine Tournee in Europa unternahm, und doch schenkte man ihnen – wenigstens zu Beginn – nur wenig Aufmerksamkeit. Gerade einmal 2.000 Zuschauer sahen dabei zu, wie die Urus in ihrem ersten Match bei den Olympischen Spielen Jugoslawien mit 7:0 auseinandernahmen.

„Wir begründeten die uruguayische Fußballschule“, sagte Ondino Viera, der später die Nationalmannschaft betreuen sollte und sich ähnlich bildhaft wie Galeano ausdrückte, „ohne Trainer, ohne Konditionstraining, ohne Sportmedizin, ohne Experten. Nur wir allein auf den Feldern Uruguays, die wir dem Leder von morgens bis abends und bis tief in den Mondschein der Nacht hinterherjagten. Wir spielten 20 Jahre lang, um zu Spielern zu werden, … zu vollkommenen Meistern des Balles, … die den Ball eroberten und um keinen Preis wieder verloren. … Es war ein wilder Fußball, unser Spiel. Es war ein durch Erfahrung entstandener, ureigener Fußball, den wir uns selbst beigebracht hatten. Es war ein Fußball, der noch nicht in den Kanon der Alten Welt … eingegangen war, nicht einmal im Entferntesten. … Dies war unser Fußball, und so haben wir unsere Schule des Spiels geschaffen, und so haben wir die Schule des Spiels für den ganzen Kontinent der Neuen Welt geschaffen.“

In Paris sprach sich das bald herum. „Spiel für Spiel drängten sich die Leute, um diese Männer zu sehen“, schrieb Galeano, „die so clever wie Eichhörnchen Rasenschach spielten. Die englische Auswahl hatte zwar den weiten Pass und hohe Bälle perfektioniert, doch die enterbten Sprösslinge aus dem weit entfernten Amerika traten nicht in die Fußstapfen ihrer Väter. Sie erfanden lieber ein Spiel kurzer Pässe direkt in den Fuß, mit blitzschnellen Wechseln des Rhythmus und Dribblings mit höchster Geschwindigkeit.“

Rasenschach? Charles Alcock hätte so etwas wohl kaum akzeptiert, obgleich er die Torschussqualitäten von Mittelstürmer Pedro Petrone gewiss geschätzt haben würde – auch wenn dieser aus Angst um seine mit viel Pomade versehene Haarpracht jegliche Kopfbälle verweigerte. Die tatsächlich Anwesenden jedoch waren verzückt, da Uruguay seine Form das ganze Turnier hindurch halten konnte. Das Team traf in seinen vier Spielen bei zwei Gegentoren insgesamt 17-mal, bevor man die Schweiz im Finale mit 3:0 besiegte. Die Reaktion des französischen Essayisten und Schriftstellers Henry de Montherlant mag als typisches Beispiel dienen. „Eine Offenbarung!“, so schrieb er. „Hier haben wir echten Fußball. Verglichen damit war das, was wir vorher kannten, was wir spielten, nichts weiter als das Hobby eines Schuljungen.“

Gabriel Hanot, der später einmal Frankreichs Fußballorgan L’Équipe herausgeben sollte und eine herausragende Karriere als Spieler hinter sich hatte, reagierte weniger emotional. Uruguay, so hielt er fest, habe „eine fabelhafte Kunstfertigkeit bei der Ballannahme, -kontrolle und -weitergabe [gezeigt]. Sie schufen einen herrlichen Fußball: elegant und gleichzeitig vielseitig, schnell, kraftvoll und effektiv.“ Hinsichtlich der Meinung, der britische Fußball könne nach wie vor überlegen sein, äußerte sich Hanot herablassend: „Das wäre, als vergleiche man reinrassige Araberhengste mit Ackergäulen.“

Nach der Rückkehr in die Heimat wurden die Urus prompt von Argentinien zu einem Match herausgefordert. Nach einem 3:2-Sieg nach Hin- und Rückspiel – zustande gekommen dank eines 2:1 in einem frühzeitig wegen Zuschauerausschreitungen unterbrochenen Rückspiel in Buenos Aires – meinte Argentinien, gezeigt zu haben, dass man Olympiasieger geworden wäre, hätte man an den Spielen teilgenommen. Vielleicht, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht. Sicher ist, dass die Mannschaft der Boca Juniors aus Buenos Aires auf einer Tournee durch Europa im Jahre 1925 zweifellos einigen Eindruck machte. Die Truppe verlor gerade einmal drei von 19 Spielen.

Zu den nächsten Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam reiste Argentinien dann tatsächlich an und traf im Finale ausgerechnet auf Uruguay, dem man im Wiederholungsspiel mit 1:2 unterlag. Zwei Jahre später trafen beide Mannschaften im Finale der ersten Weltmeisterschaft erneut aufeinander, und wieder triumphierte Uruguay, dieses Mal mit einem 4:2-Sieg. Soweit es sich auf Basis der zeitgenössischen Berichte beurteilen lässt, bestand Uruguays Vorteil darin, dass sie trotz aller Kunststückchen in der Lage waren, eine defensive Formation beizubehalten. Der Individualismus Argentiniens dagegen führte gelegentlich zu Unordnung. Der italienische Journalist Gianni Brera legte in seinem Buch Storia critica del calcio italiano dar, dass die WM von 1930 den Beweis lieferte, dass „Argentinien zwar einen Fußball mit viel Vorstellungsvermögen und Eleganz spielte, technische Überlegenheit jedoch die Preisgabe der Taktik nicht ausgleichen kann. Von den beiden Nationalmannschaften vom Río de la Plata sind die Uruguayer die Ameisen und die Argentinier die Heuschrecken.“

Es entstand die Theorie von La Garra charrúa – wobei sich „charrúa“ auf die eingeborenen Charrúa-Indianer Uruguays bezieht und „garra“ wörtlich „Klaue“ und in einem übertragenen Sinne „Mumm“ oder „Kampfgeist“ meint. Diese Garra charrúa gab einer Nation mit einer Bevölkerung von lediglich drei Millionen Menschen angeblich die Entschlossenheit für den Sieg bei zwei Weltmeisterschaften. Außerdem wurde damit die Brutalität späterer uruguayischer Mannschaften auf fragwürdige Weise legitimiert.

So romantisch diese Theorie auch gewesen sein mag – schließlich spielten von den Charrúa selbst nur sehr wenige Fußball –, so wusste doch jeder außerhalb Großbritanniens, dass der beste Fußball der Welt an der Mündung des Río de la Plata gespielt wurde. Klar war auch, dass er weit fortschrittlicher als das vorhersehbare 2-3-5 war, das man in England praktizierte. „Der angelsächsische Einfluss verschwindet zunehmend und macht den Weg frei für den weniger phlegmatischen und ruheloseren Geist der Lateinamerikaner“, hieß es in einem Beitrag in der argentinischen Zeitung El Gráfico aus dem Jahr 1928. „Sie [die Lateinamerikaner] begannen bald, die Wissenschaft des Spiels zu verändern und ihr eigenes zu gestalten. … Es unterscheidet sich insofern vom britischen, als es weniger eintönig und weniger diszipliniert und methodisch ist, weil es das Individuum nicht zugunsten kollektiver Werte opfert. … Der Fußball vom Río de la Plata legt mehr Wert auf das Dribbling und den selbstlosen persönlichen Einsatz und ist gewandter und attraktiver.“


Finale der WM 1930: Héctor Castro (2.v.r.) erzielt das 4:2 für Uruguay. Argentiniens Torhüter Juan Botasso reckt sich vergeblich.

Das Hohelied auf die Fantasie ging so weit, dass bestimmte Spieler als Erfinder bestimmter Fertigkeiten oder Tricks vergöttert wurden. Juan Evaristo wurde als Urheber der Marianella, des volley gespielten Hackentricks, gerühmt, Pablo Bartolucci für den Flugkopfball bejubelt und Pedro Calomino für den Fallrückzieher. Letzteres ist allerdings umstritten. Manche behaupten, dass der Fallrückzieher im späten 19. Jahrhundert in Peru erfunden wurde. Die meisten schreiben seine Erfindung jedoch Ramón Unzaga Asla zu, der in Bilbao geboren wurde, in jungen Jahren aber nach Chile auswanderte und den Fallrückzieher erstmals 1914 praktiziert haben soll. Dementsprechend entstand im spanischsprachigen Südamerika auch der Ausdruck Chilena, wobei sich dieser auch auf David Arellano beziehen könnte, der die Technik 1920 auf einer Tournee durch Spanien bekannt machte. Wieder andere schließen sich der Meinung Leônidas’ an, des brasilianischen Stürmers der 1930er Jahre, der Petronilho de Brito als Urheber des Fallrückziehers betrachtete. Bizarrerweise behauptete auch der ehemalige Präsident von Aston Villa, Doug Ellis, dass er den Fallrückzieher erfunden habe. Allerdings hatte er niemals in irgendeiner Liga Fußball gespielt und wurde überhaupt erst zehn Jahre nach dem ersten Bericht über die Ausführung des Tricks durch Unzaga geboren. Letztlich ist es in unserem Zusammenhang auch ziemlich egal, wer den Fallrückzieher erfand. Wichtiger ist, dass die Auseinandersetzung die Bedeutung aufzeigt, die man der in den 1920er Jahren an der Mündung des Río de la Plata herrschenden Fantasie beimaß. Angesichts der beschämenden ablehnenden Haltung des Fußball-Mutterlandes gegenüber Neuerungen kann man sich Ellis dann sogar tatsächlich gut als den ersten Mann vorstellen, der einen Fallrückzieher auf britischem Boden hinlegte.


Uruguay – Argentinien 4:2, WM-Finale, El Centenario, Montevideo, 30. Juli 1930.

Der argentinische Fußball entwickelte seinen ganz eigenen Gründungsmythos. Er beruht größtenteils auf einem Besuch der ungarischen Mannschaft von Ferencváros Budapest im Jahre 1922. Deren Vorführung des österreichischen „Scheiberlns“ revolutionierte angeblich die Ansichten der Einheimischen über das Spiel. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Tournee lediglich bereits stattfindende Umbrüche bestätigte: weg vom körperbetonten britischen Stil, hin zu einer Spielweise, die stärker auf individueller technischer Klasse beruhte.

Mit den Technik-Experimenten ging eine Bereitschaft einher, in gleichwohl vorsichtiger Weise an der Taktik zu basteln. „Südamerikanische Teams hatten eine bessere Ballbehandlung und eine stärker taktisch geprägte Spielauffassung“, sagte Francisco Varallo, seines Zeichens rechter Halbstürmer Argentiniens im ersten WM-Finale. „Zu jener Zeit hatten wir fünf Stürmer, wobei sich der Achter und der Zehner zurückfallen ließen und die Flügelspieler Flanken nach innen schlugen.“ Diese Halbstürmer sah man bald in der Schlüsselposition für die kreativen Momente, und der Fußball entwickelte einen Kult um die Gambeta, den slalomartigen Dribbelstil. Sowohl in Argentinien als auch in Uruguay erzählt man sich die Geschichte eines Spielers, der leichtfüßig durch die Reihen des Gegners tanzte und den Lauf mit einem fulminanten Tor abschloss. Bei der Rückkehr in seine eigene Hälfte habe er dann seine Fußspuren im Staub verwischt, damit ihm niemals jemand seinen Trick nachmachen konnte.

Auch wenn sich die Geschichte sicherlich nie so zugetragen hat, zeigt sie doch das vorherrschende Wertesystem, das besonders deutlich wurde in der Zeit, als sich der argentinische Fußball von der internationalen Bühne zurückzog. Vor der WM 1934 hatte Argentinien durch Emigration viele Spieler verloren – in der siegreichen italienischen Mannschaft spielten beispielsweise vier Argentinier – und kassierte in der ersten Runde eine Niederlage gegen Schweden. Nachdem die eigene Bewerbung für die Ausrichtung des Turniers abgelehnt worden war, weigerte man sich, 1938 ein Team nach Frankreich zu schicken. Infolge des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Isolation des Landes unter Juan Perón spielte Argentinien erst 1950 wieder international.

In der Zwischenzeit erlebte es ein goldenes Zeitalter: 1931 war eine Profiliga ins Leben gerufen worden, und die großen Stadien zogen gewaltige Zuschauermassen an. Zeitungen und Radioreportagen befeuerten das landesweite Interesse am Fußball. Das Spiel wurde für das Leben in Argentinien so bedeutsam, dass Jorge Luis Borges, der diesen Sport hasste, und Adolfo Bioy Casares, der ihn liebte, für ihre gemeinsame Kurzgeschichte „Esse est percipi“ eben den Fußball wählten, um zu zeigen, wie die Wahrnehmung der Wirklichkeit manipuliert werden kann. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Fan, der in einem Gespräch mit einem Vereinsvorsitzenden erfährt, dass der gesamte Fußball nur vorgespielt ist – mit abgesprochenen Ergebnissen und von Schauspielern dargestellten Kickern.

Der seit den 1920er Jahren entstandene argentinische Stil wurde immer spektakulärer. Er wurde später La Nuestra, „die unsere [Spielweise]“ genannt, und hatte seine Wurzeln in der Viveza criolla, der „hispano-amerikanischen Gewitztheit“. Der Begriff selbst scheint sich nach einem 3:1-Sieg der Argentinier über eine englische Elf im Jahr 1953 in der Öffentlichkeit verbreitet zu haben: Wie man hätte sehen können, konnte La Nuestra, also „unser Stil“, den der Gringos besiegen (auch wenn es sich strenggenommen nur um einen Schaukampf und nicht um ein richtiges Länderspiel gehandelt hatte). Der argentinische Fußball dieser Zeit lebte von seiner Freude an der Offensive. Zwischen September 1936 und April 1938 gab es in der argentinischen Meisterschaft kein einziges torloses Unentschieden. Nichtsdestotrotz waren Tore nur ein Aspekt.

In einer vielzitierten Anekdote aus seinem Roman Sobre héroes y tumbas, zu Deutsch: Über Helden und Gräber, erörtert Ernesto Sabato den Geist von La Nuestra. Dabei berichtet die Figur des Julien d’Arcangelo dem Helden namens Martín von einem Vorkommnis, an dem zwei von Independientes Innenstürmern der 1920er Jahre, Alberto Lalín und Manuel Seoane – die die Spitznamen La Chancha und El Negro trugen –, beteiligt waren. Diese beiden wurden als die Verkörperung der zwei verschiedenen Denkschulen des Fußball gesehen. „Eines Nachmittags sagte El Negro während der Halbzeitpause zu Lalín: ‚Spiel mir die Flanke zu, Mann, und ich kann nach vorne stürmen und ein Tor schießen.‘ Die zweite Halbzeit beginnt, Lalín flankt, natürlich bekommt El Negro den Ball, stürmt vorwärts und trifft. Seoane kommt mit ausgebreiteten Armen zurück, läuft auf Lalín zu und ruft: ‚Siehst du, Lalín, siehst du?‘ Lalín antwortet ihm: ‚Ja, aber mir macht das keinen Spaß.‘“ Diese Anekdote verkörpert anschaulich das Grundproblem des argentinischen Fußballs.

Von der Bedeutung her standen Tricks und Unterhaltung schließlich sogar in Konkurrenz zum Sieg. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte es in Großbritannien dieselbe Debatte gegeben: Sollte man weiter auf die „richtige Art“ spielen, also dribbeln (wenn auch längst nicht so spektakulär wie später in Argentinien), oder sich jenen Stil aneignen, mit dem man Spiele gewann? In den 20 Jahren der internationalen Isolation gab es nur wenige Spiele gegen Mannschaften von außerhalb Argentiniens, die Niederlagen und ein taktisches Umdenken hätten bringen können. Folglich kam es zu einer Blütezeit dieser unbändigen Spielweise. Vielleicht hätte sie dem argentinischen Fußball langfristig gar nicht gut getan. Solange sie anhielt, war sie allerdings die reinste Freude.

Revolutionen auf dem Rasen

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