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ОглавлениеKAPITEL 5
Organisiertes Chaos
Die Sowjetunion erlebte erst spät einen Fußballboom. Dann aber machte Fußball dort eine radikale Entwicklung durch, unbeeinflusst von historisch gewachsenen Ansichten über die „richtige“ Art zu spielen. Bereits in den 1860er Jahren hatten britische Seeleute im Hafen von Odessa Fußball gespielt. Eine Beschreibung in der Zeitschrift The Hunter vermittelt einen Eindruck von dem Chaos und der Körperbetontheit des damaligen Spiels. „Es wird von Leuten mit kräftigen Muskeln und starken Beinen gespielt – ein Schwächling wäre in solch einem Gewühl nur Zuschauer“, schrieb der Reporter amüsiert und missbilligend zugleich.
Erst in den 1890er Jahren wurde Fußball allmählich besser organisiert. Wie in so vielen Ländern spielten die Briten dabei eine entscheidende Rolle, zunächst in Sankt Petersburg und später in Moskau. So gründete Harry Charnock, Generaldirektor der Morosow-Textilfabrik, jenen Verein, aus dem später Dynamo Moskau entstehen sollte. Er hoffte, damit seine Arbeiter vom Wodkatrinken abhalten zu können. Auf dem Höhepunkt sowjetischer Mythenbildung hieß es, dass Dynamo Moskau als Vereinsfarben Blau und Weiß gewählt habe, um jene beiden Elemente zu symbolisieren, ohne die der Mensch nicht leben kann: Wasser und Luft. Tatsache ist aber, dass Charnock, der aus Blackburn stammte, sein Team einfach in den Farben seines Lieblingsklubs, der Blackburn Rovers, kleidete.
Die weiter westlich gelegenen Regionen wurden naturgemäß stärker von Mitteleuropa beeinflusst. Als in Lemberg im Rahmen einer Sportartenvorführung des Sportklubs Sokol 1894 das erste Fußballspiel auf heute ukrainischem Boden stattfand, gehörte die Stadt noch zu Österreich-Ungarn.
Die Briten waren längst verschwunden, als 1936 eine nationale Liga geschaffen wurde. Bereits 1908 hatte die Dominanz der Ausländer ein Ende gefunden, als die russische Mannschaft von Sport den Aspeden-Pokal, die Stadtmeisterschaft von Sankt Petersburg, gewann. Die frühe Form des 2-3-5 war auch nach der Änderung der Abseitsregel im Jahr 1925 vorerst die Standardformation geblieben. Da die UdSSR aufgrund der FIFASanktionen fast nur gegen ausländische Amateurmannschaften spielen konnte, fiel zunächst nicht auf, wie groß der Rückstand der Sowjets war.
Das änderte sich 1937. Die Einführung einer nationalen Liga hätte vielleicht ohnehin dazu geführt, das Spiel analytischer anzugehen. Eigentlicher Auslöser dieser neuen Entwicklung aber war eine baskische Auswahl, die auf einer Welttournee auf die Situation der Basken im spanischen Bürgerkrieg aufmerksam machen wollte und deren erste Station die Sowjetunion war.
Spiele gegen ausländische Mannschaften waren selten und deshalb heiß begehrt. 1937 herrschte zudem eine besondere Fußballbegeisterung, da ein Jahr zuvor Semjon Timoschenkos äußerst beliebtes Singspiel Wratar („Der Torwart“) in die Kinos gekommen war. Darin wird ein kleiner Arbeiterjunge – dargestellt vom Starschauspieler Grigori Pluschnik – für das Spiel seiner Ortsauswahl gegen eine auf Tournee befindliche Mannschaft nominiert, nachdem jemand beobachtet hatte, wie er eine von einem Karren fallende Wassermelone auffing. Nach einer Reihe von Glanzparaden rennt der Held in der letzten Minute schließlich über den ganzen Platz und schießt das entscheidende Tor. Das bekannteste Lied des Films bläut allen das offensichtliche politische Gleichnis ein: „He, Torwart, mach dich auf den Kampf gefasst. / Du bist ein Wächter in dem Tor. / Stell dir vor, es liegt eine Grenze hinter dir.“
Die echte Tourneemannschaft allerdings, die mit sechs Spielern des spanischen WM-Teams von 1934 gekommen war, entpuppte sich nicht gerade als Bauernopfer für die sowjetische Propaganda. Sie setzte auf ein W-M-System und überrollte in ihrem ersten Spiel Lokomotive Moskau mit 5:1. Danach kassierte Dynamo eine 1:2-Niederlage. Einem 2:2-Unentschieden gegen eine Leningrader Auswahl folgte die Rückkehr nach Moskau und ein 7:4-Sieg gegen eine vom Dynamo-Zentralrat zusammengestellte Truppe. Bei ihrem letzten Spiel in Russland trafen die Basken auf den amtierenden Meister Spartak Moskau. Nikolai Starostin, der Chef des Trainerstabes von Spartak, war entschlossen, der Schmach ein Ende zu setzen. Daher berief er eine Reihe von Spielern anderer Vereine, darunter auch die Stürmer Wiktor Schilowski und Konstantin Schtschehozki von Dynamo Kiew. Beide waren 1935 in Paris beim 6:1 Sieg einer Kiewer Auswahl gegen Red Star Olympic de Paris dabei gewesen – einem jener seltenen Spiele gegen eine Profimannschaft.
Starostin entschied, auf das System der Basken zu reagieren. Infolgedessen verwandelte er seinen Mittelläufer in einen dritten Verteidiger, um den Einfluss des baskischen Mittelstürmers Isidro Lángara auf das Spiel einzudämmen. Wie Starostin in seinem Buch Zvyozdy Bol’shogo Futbola („Anfänge des Fußballs auf höchstem Niveau“) notierte, machte er sich mit dieser Entscheidung nicht gerade beliebt. Sein vehementester Gegner war der Mittelläufer selbst, sein Bruder Andrej. „‚Willst du, dass ich in der ganzen Sowjetunion berüchtigt werde?‘, fragte er. ‚Du verweigerst mir den Raum zum Atmen! Wer soll den Angriff unterstützen? Du zerstörst die Taktik, die seit Jahren funktioniert hat.‘“ Spartak hatte jedoch schon früher mit einem dritten Verteidiger experimentiert. So war man einige Jahre zuvor auf einer Tour durch Norwegen aufgrund von Verletzungen gezwungen gewesen, das standardmäßige 2-3-5 aufzugeben. „Spartak spielte eine defensive Variante des W-M-Systems, indem die beiden Verteidiger durch einen mittleren Abwehrspieler verstärkt wurden“, berichtete Alexander Starostin, ein weiterer Bruder Nikolais. „Wenn nötig, zogen sich die beiden Halbstürmer zurück.“ Da man von den Möglichkeiten dieses Systems beeindruckt war, setzte man das Experiment in der Vorbereitung auf die Frühjahrsserie der Saison 1936 für kurze Zeit fort. „Eine 2:5-Niederlage in einem Freundschaftsspiel gegen Dynamo [Moskau] bedeutete jedoch das Ende dieses mutigen, aber im Lande unpopulären Versuchs“, sagte Nikolai Starostin. „Nun wollte man es in einem Freundschaftsspiel – gleichzeitig jedoch eminent wichtigen internationalen Vergleich – noch einmal wagen. Das war ganz schön riskant.“
Und das nicht nur aus sportlicher Sicht. Die Parteiführung maß dem Spiel eine solche Bedeutung bei, dass während der Vorbereitung der Vorsitzende des Ausschusses für Körperkultur, Iwan Chartschenko, der Vorsitzende der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol, Alexander Kosarew, sowie eine Reihe weiterer Parteifunktionäre in Spartaks Trainingslager in Tarasowka übernachteten. „Spartak war die letzte Hoffnung“, schrieb Nikolai Starostin in seiner Autobiografie Futbol skovz’ gody („Fußball in all den Jahren“). „Es war der Teufel los! In Briefen, Telegrammen und Anrufen wurden uns Ratschläge gegeben und viel Glück gewünscht. Ich wurde vor diverse hohe Tiere zitiert, die mir zu verstehen gaben, dass das ganze Land auf unseren Sieg wartete.“
Der Tag begann alles andere als gut. Spartak saß in einem Verkehrsstau fest, und der Anpfiff musste verschoben werden. In der ersten Halbzeit ging Spartak zweimal in Führung, doch konnten die Basken beide Male sofort wieder ausgleichen. Nachdem Schilowski in der 57. Minute einen umstrittenen Strafstoß versenkt hatte, gab es jedoch kein Halten mehr. Wladimir Stepanow traf beim 6:2-Erfolg dreimal. Nikolai Starostin behauptete später, die Leistung seines Bruders Andrej, der in ungewohnter Rolle spielte, sei „brillant“ gewesen. Die Zeitungen und Torhüter Anatoli Akimow sahen das allerdings anders und verwiesen darauf, dass der gegnerische Mittelstürmer Lángara ihm in der Luft überlegen gewesen sei und eines der Tore für die Basken erzielt hatte.
Die Niederlage erwies sich als einmaliger Ausrutscher der Basken. Im weiteren Verlauf der Tournee schlugen sie noch Dynamo Kiew, Dynamo Tiflis und eine Auswahl Georgiens. In einem daraufhin veröffentlichten Artikel schäumte die Prawda vor Wut. Unter der Überschrift „Sowjetische Spieler sollten unbesiegbar werden“ war dort zu lesen: „Die Leistungen des Baskenlandes in der UdSSR haben gezeigt, dass unsere besten Mannschaften von hoher Qualität weit entfernt sind. … Die Defizite des sowjetischen Fußballs sind vor allem deshalb nicht tolerierbar, weil es in keinem anderen Land junge Menschen wie die unseren gibt: junge Menschen, die von Partei und Regierung mit Fürsorge, Aufmerksamkeit und Liebe überschüttet werden.“
Weniger pathetisch hieß es weiter: „Um die Qualität unserer sowjetischen Mannschaften zu steigern, sind Spiele gegen ernsthafte Gegner unabdingbar. So haben unsere Spieler von den Begegnungen gegen die Basken in erheblichem Maße profitiert (lange Pässe, Flügelspiel, Kopfbälle).“
Vier Tage darauf besiegten die Basken in ihrem letzten Spiel auf sowjetischem Boden eine Elf aus Minsk mit 6:1. Der sowjetische Fußball sollte aus diesen Niederlagen seine Lehren ziehen. Es dauerte zwar noch, bis die Rufe nach einer vermehrten Beteiligung am internationalen Sport auch Gehör fanden. Nichtsdestotrotz hatte man erkannt, dass das W-M-System eine Reihe faszinierender Möglichkeiten bot.
Der Mann, der sich am intensivsten mit diesem System auseinandersetzte, war Boris Arkadiew. Er machte sich einen Namen als erster großer sowjetischer Fußballtheoretiker. Sein 1946 erschienenes Buch über Fußballtaktik war viele Jahre lang die Bibel für Trainer in ganz Osteuropa.
Arkadiew stammte aus Sankt Petersburg und ging nach der Revolution nach Moskau. Neben seiner respektablen Karriere als Spieler unterrichtete er Fechten an der Militärakademie „M.W. Frunse“. Später erklärte Arkadiew, dass ihn das Fechten mit seinem Hauptaugenmerk auf Parade und Riposte vom Wert des Konterspiels überzeugt habe. Nachdem er in der ersten Saison der obersten sowjetischen Liga mit Me tallurg Moskau einen der kleineren Hauptstadtvereine auf Platz drei geführt hatte, übernahm Arkadiew Dynamo Moskau, den ersten Titelträger. Wegen seines rastlosen Geists und seiner kreativen Fantasie galt er bald als ebenso brillant wie exzentrisch. So besuchte er beispielsweise mit seinen Spielern vor wichtigen Begegnungen gerne Kunstausstellungen. In seiner ersten Saison bei Dynamo Moskau gewann Arkadiew sogleich das Double aus Meisterschaft und Pokal. Doch auch er sah sich im Zuge des baskischen Gastspiels gezwungen, seine Taktik zu überdenken.
„Nach dem Besuch der Basken begannen sämtliche führenden sowjetischen Mannschaften, ihr Spiel auf das neue System umzustellen“, schrieb Arkadiew. „Torpedo tat dies als erster Verein und spielte deshalb in der Saison 1938 eine großartige Hinrunde. Bis 1939 traten dann alle unsere Mannschaften mit dem neuen System an.“ Dynamo Moskau bekam die Umstellung nicht gut. 1938 rutschte die Mannschaft auf den fünften und im darauffolgenden Jahr auf einen schwachen neunten Platz ab. Da Lawrenti Beria, der berüchtigte Chef des KGB und Schirmherr des Klubs, nach Erfolgen lechzte, waren nun drastische Maßnahmen erforderlich.
Andere hätten sich in dieser Situation womöglich auf ihr ursprüngliches System besonnen, nicht so Arkadiew. Er ging stattdessen noch weiter. Arkadiew war überzeugt, dass weniger die Spieler an sich, sondern vielmehr ihre Position auf dem Platz entscheidend waren. Also bläute er ihnen im Februar 1940 während eines Trainingslagers im Badeort Gagra am Schwarzen Meer zwei Stunden lang Taktik ein. Sein Ziel, so sagte er, war eine verbesserte Variante des W-M-Systems.
„Mit dem dritten Verteidiger setzten viele unserer eigenen wie auch ausländische Klubs Spieler im Angriff ein, die nicht an eine feste Position gebunden waren“, erklärte Arkadiew. „Diese Entwicklung war nicht von langer Dauer, markierte aber den Anfang einer radikalen Umstellung unserer Fußballtaktik. Ganz ehrlich, einige Spieler bewegten sich auch ohne taktische Gründe gern losgelöst von ihrer eigentlichen Position, weil sie besonders stark, schnell oder ausdauernd waren. So verfügte man neben vier Spielern [in der Offensive], die ganz konventionell ihre Position hielten, plötzlich über einen weiteren Spieler, der deren Bahnen kreuzte. Dadurch konnte ihm das verteidigende Team nur schwer folgen. Die übrigen Stürmer wiederum profitierten von einem freien Mannschaftskameraden, den sie anspielen konnten.“
Der Saisonstart war schlecht. Man spielte unentschieden gegen Krylja Sowjetow Moskau und Traktor Stalingrad und verlor gegen Dynamo Tiflis. Arkadiew ließ sich davon nicht beeindrucken. Am Tag nach der Niederlage gegen Tiflis trommelte er seine Spieler zusammen, setzte sie an einen Tisch und ließ sie einen Bericht über ihre eigene Leistung und die ihrer Kameraden schreiben. Auf einmal schienen die Spieler Arkadiews taktische Anweisungen zu verstehen. Am 4. Juni schlug Dynamo Moskau mit schnellem Kurzpassspiel Dynamo Kiew mit 8:5. Das Rückspiel in der Ukraine gewann man mit 7:0, und im August wurde Titelverteidiger Spartak mit 5:1 abgefertigt. Von den verbliebenen sieben Spielen gewann Dynamo fünf und traf bei nur drei Gegentoren 26-mal.
„Unsere Spieler arbeiteten daran, von einem schematischen W-M wegzukommen und der englischen Erfindung den undogmatischen russischen Geist einzuhauchen“, sagte Arkadiew. „Wir brachten den Gegner mit unseren unvermittelten Positionswechseln durcheinander und ließen ihn wehrlos dastehen. Unser linker Stürmer Sergej Iljin erzielte die meisten seiner Tore aus der Mittelstürmerposition, unser rechter Stürmer Michail Semitschastny aus der des linken Halbstürmers und unser Mittelstürmer Sergej Solowjow von außen.“
Die Zeitungen priesen das „organisierte Chaos“, während die Konkurrenz nach Gegenmaßnahmen suchte. Die meisten reagierten mit strikter Manndeckung, worauf Arkadiew seine Spieler noch häufiger die Positionen wechseln ließ. „Mit dem Wechsel von der Raum- zur Manndeckung war es nur eine taktisch logische Konsequenz, dass sämtliche Stürmer und sogar die Mittelfeldspieler zu rotieren begannen“, schrieb er. „Gleichzeitig mussten auch die Verteidiger räumlich flexibler spielen und ihren jeweiligen Gegenspielern überallhin folgen, wo diese auch hinliefen.“
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Arkadiew mit „Raumdeckung“ nicht jenes ganzheitliche System meinte, das Zezé Moreira in den frühen 1950er Jahren in Brasilien einführte und das Wiktor Maslow später erfolgreich bei Dynamo Kiew einsetzen sollte. Arkadiew sprach hier vielmehr von der einfachen Raumorientierung des 2-3-5, bei der ein Abwehrspieler die linke und einer die rechte Seite übernahm. Beim W-M-System hingegen war jeder Spieler einem bestimmten Gegenspieler zugeordnet: Der rechte Verteidiger hatte den gegnerischen Linksaußen zu decken, der linke Läufer den rechten Halbstürmer, der Vorstopper den Mittelstürmer usw. In England war diese Zuordnung bei der Entwicklung des W-M-Systems mehr oder weniger organisch gewachsen. Da das W-M-System aber schon voll ausgebildet war, als es die Sowjetunion erreichte, kam es dort unausweichlich zu einer Phase der Verwirrung, musste man die Auswirkungen auf die Defensive doch erst noch begreifen.
Ganz allmählich übernahm einer der Außenläufer nun eine defensivere Rolle und bildete eine zusätzliche Absicherung vor den drei Verteidigern. Zugleich ließ sich einer der Halbstürmer weiter nach hinten fallen, um diesen Läufer abzusichern. Diese Entwicklung vollzog sich nur langsam und sollte auf der anderen Seite des Globus in kürzerer Zeit erheblich weiter gedeihen. Dennoch war das 3-2-2-3 bereits auf dem Weg zum späteren 4-2-4. Axel Vartanjan, ein angesehener Historiker des Sowjetfußballs, hält es sogar für wahrscheinlich, dass Arkadiew als Erster mit einer Viererkette in der Abwehr spielen ließ.
Nachdem die Liga kriegsbedingt unterbrochen wurde, zog es Arkadiew 1943 von Dynamo zu ZDKA Moskau, dem Vorläufer von ZSKA. Dort gewann er fünf Meistertitel, bis der Klub aufgelöst wurde, weil Stalin ZDKA für die sowjetische Niederlage gegen Jugoslawien im Achtelfinale des olympischen Fußballturniers 1952 verantwortlich machte. Parallel dazu blieb Dynamo den Prinzipien Arkadiews treu und verzauberte auf einer Freundschaftstournee nach dem Waffenstillstand im Jahr 1945 auch Großbritannien mit seinem Kurzpassspiel, dem Passowotschka.
Im Vorfeld des ersten Spiels an der Stamford Bridge gegen den FC Chelsea gab es neben politischen Bedenken auch Befürchtungen, dass das „Rempeln“ wieder für Zwistigkeiten sorgen könnte wie einst bei den ersten Tourneen britischer Mannschaften in Südamerika. Chelsea stand gerade einmal auf dem elften Platz in der Southern Division – der Ligabetrieb sollte sich erst in einigen Monaten wieder vollständig normalisieren – und mühte sich mit viel Dusel zu einem 3:3. Dennoch waren die Defizite, die man gegenüber Dynamo hatte, nicht zu übersehen. So wie Sindelar die Engländer seinerzeit gepeinigt hatte und Nándor Hidegkuti es noch tun sollte, so brachte auch Stürmer Konstantin Beskow den FC Chelsea durch sein variables Positionsspiel aus dem Takt.
Boris Arkadiew erklärt den Spielern von ZDKA Moskau sein System.
Besonders beeindruckte, wie klug die Dynamo-Spieler ihre Kräfte einsetzten. „Die Russen waren ständig in Bewegung“, lamentierte Chelseas linker Verteidiger Albert Tennant. „Wir konnten kaum mit denen mithalten.“ Der ehemalige Kapitän der Glasgow Rangers, Davie Meikle john, schrieb im Daily Record: „Sie tauschten die Positionen und gingen sogar so weit, dass der Linksaußen zeitweise auf dem rechten Flügel spielte und andersherum. Ich habe nie zuvor einen vergleichbaren Fußball gesehen. Es war unmöglich, die in der Stadionzeitschrift angegebenen Positionen der Spieler nachzuvollziehen. Die liefen hierhin und dorthin, ganz wie sie wollten. Am beeindruckendsten aber war, dass sie sich dabei nie in die Quere kamen.“
FC Chelsea – Dynamo Moskau 3:3, Freundschaftsspiel, Stamford Bridge, London, 13. November 1945.
Nachdem Dynamo dann noch Cardiff City mit 10:1 zerbröselt, Arsenal mit 4:3 geschlagen und gegen die Rangers 2:2 unentschieden gespielt hatte, wurde von ihren Methoden geradezu geschwärmt. In der Daily Mail merkte Geoffrey Simpson an, Dynamo spiele „einen ganz neuen Fußball, der unserem in Klasse, Stil und Effizienz weit voraus ist. Was den Unterhaltungswert angeht – tja, einige von denen, die sich bei unseren Ligaspielen die Seele aus dem Leib jubeln, dürften sich nun fragen, weshalb sie da so herumschreien.“
Die Frage war schließlich, ob Dynamos Stil mit der Ideologie zusammenhing. Man verglich Dynamos Fußball mit Schach und vermutete, dass ein Großteil des Spiels auf einstudierten Spielzügen beruhte. Die These, dass die Mannschaft im kommunistischen Fußball als Einheit und die Spieler als Rädchen darin verstanden wurden, während der britische Fußball demgegenüber eine größere Individualität erlaubte, mag etwas simpel, aber deshalb nicht ganz falsch sein. Arsenals ehemaliger Halbstürmer Alex James schrieb in News of the World, Dynamos Erfolg „liegt im Teamwork, das ein bestimmtes Muster besitzt. Einen Individualisten wie [Stanley] Matthews oder [Raich] Carter gibt es in ihrer Mannschaft nicht. Sie spielen nach einem Plan, den sie ständig wiederholen und nur wenig variieren. Es müsste eigentlich leicht sein, eine Gegenmaßnahme zu finden und sie damit zu schlagen. Das Fehlen eines Individualisten ist eine große Schwäche.“ Vielleicht aber nutzten Dynamos individuell starke Spieler ihre Begabung auch einfach nur auf eine andere Weise – und niemand hätte ernsthaft bestritten, dass Männer wie Konstantin Beskow, Wsewolod Bobrow und Wassili Karzew ausgezeichnete, technisch starke Fußballer waren.
Michail Jakuschin, Arkadiews Nachfolger als Trainer bei Dynamo, argumentierte ähnlich ideologisch wie die britische Presse. „Der sowjetische Fußball folgt dem Prinzip des Kollektivspiels“, sagte er. „Ein Spieler muss nicht nur einfach gut sein, sondern gut für eine bestimmte Mannschaft.“ Und Matthews? „Seine individuelle Qualität ist hoch, aber bei uns steht der Kollektivfußball über dem Individualfußball. Wir sind keine Anhänger seines Stils, weil wir glauben, dass die Teamarbeit darunter leiden würde“, antwortete Jakuschin.
Für den britischen Fußball waren diese Ansätze zu revolutionär, und es wurden keine Lehren aus Dynamos Auftritten gezogen – kein Wunder, hatte man ja schon zuvor die Entwicklungen im südamerikanischen und mitteleuropäischen Fußball ignoriert oder zumindest von oben herab betrachtet. Zwar versuchte Bob McGrory, den Passowotschka-Stil bei Stoke City zu etablieren, scheiterte aber damit – was angesichts eines Stan Matthews in der Mannschaft nicht wirklich überraschte. Vielleicht hätten die Briten Neuerungen offener gegenübergestanden, wenn sie seinerzeit nicht mit einem solchen Überangebot großartiger Flügelspieler gesegnet gewesen wären. Warum hätte man ein System ändern sollen, in dem Männer wie Stan Matthews, Tom Finney und Len Shackleton für England und Willie Waddell, Jimmy Delaney und Gordon Smith bei den Schotten ihren Fähigkeiten freien Lauf lassen konnten?
Matthews größte Stunde und vielleicht der Höhepunkt des englischen Flügelspiels war das FA-Pokalfinale 1953, in dem sein Verein FC Blackpool auf die Bolton Wanderers traf. Mit seinen Tricks und Finten, die die Gegenspieler zumeist ins Leere laufen ließen, riss er die Mannschaft so sehr mit, dass sie einen 1:3-Rückstand noch drehte und 4:3 gewann. Sechs Monate später sollte Ungarn England auf dem gleichen Platz mit 6:3 abfertigen und der Daily Mirror in seiner Schlagzeile die „(Fußball-)Götterdämmerung“ verkünden. Was die Verlässlichkeit der Flügelspieler anging, stimmte das wohl.
Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Herbert Chapman als Vater des W-M-Systems dem Flügelspiel äußerst misstrauisch gegenüberstand. Sein System, das die erste bedeutsame Entwicklung in der englischen Fußballtaktik nach fast einem halben Jahrhundert darstellte, hatte die Flügelspieler ursprünglich ausgeklammert. Jetzt waren sie es, die für die Beibehaltung seines Systems sorgten und Neuerungen verhinderten. Für Trainer mit starken Außenspielern war es nur logisch, am Altbewährten festzuhalten. Englands Bilanz direkt nach dem Krieg war zudem gut. Man blieb ab Mai 1947 fast zwei Jahre lang ungeschlagen, wobei unter anderem ein 10:0-Schützenfest gegen Portugal in Estoril und ein 4:0-Sieg gegen den immer noch amtierenden Weltmeister Italien in Turin zu Buche standen. Schottlands Form war durchwachsener, doch auch die Schotten konnten sich mit dem Wissen um sechs Siege in Serie seit Oktober 1948 trösten. So machte die Strahlkraft der Flügelspieler Großbritannien blind für die andernorts erreichten Fortschritte auf taktischem Gebiet. Acht Jahre nach der Tournee von Dynamo Moskau sollten England schließlich sehr unsanft die Augen geöffnet werden.