Читать книгу Die Fuge der Liebe - José Luis de la Cuadra - Страница 10

Endenich bei Bonn, Irrenanstalt, Februar 1855

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„Fuge der Liebe, Fuge der Schöpfung, Botschaft meiner tiefsten Seele. Geliebte Gattin, Kinder, Freunde. Dies ist das Tor zu Seligkeit, Vollkommenheit und höherem Sein. Es ist geschafft, es ist vollbracht!

Meine letzte Kraft ruht in diesem Werk. Eine von Gottes Hand geführte Komposition. Die unendliche Wahrheit. Die Befreiung der Sinne.“

Der Wärter Johannes berührt sanft den Arm des auf seiner Liege ruhenden Meisters. Er kann nicht verstehen, was diese Worte bedeuten. Er weiss nicht, ob sein Patient schläft und im Traum spricht, oder ob er im Wachzustand fantasiert.

Er hört ein Lallen und erkennt darin eine Melodie. Ein einfaches, seltsam berührendes Thema.

Es ist Essenszeit. Am Morgen hat der Mann den Tee, den ihm sein Kollege Franz gebracht hat, zurückgewiesen. Er lasse sich nicht vergiften, hat er ihn angeschrien, und in einer Aufwallung von Feindseligkeit ist es beinahe zum Zweikampf gekommen. Franz hat es übel genommen, dass der sonst so freundliche Herr ihm die Teetasse ins Gesicht geschlagen hat. Die beiden kommen nicht gut miteinander aus. Immer ist eine Spannung zwischen ihnen. Deshalb will Franz jetzt nicht mehr zu ihm.

So ist es Johannes, der ihm jeweils das Essen bringt. Bisher ist er vom Patienten gut behandelt worden. Ja, man kann sagen, dass sich Freundschaft zwischen den Männern entwickelt hat. Johannes fühlt, dass ihm der Meister vertraut und er leidet mit ihm, wenn sein Zustand sich verschlechtert.

Johannes freut sich heute. Dr. Sperreisen meint, es gäbe Zeichen der Besserung. Es gäbe längere, ruhigere Phasen. Er spiele viel Klavier, was zu Hoffnung auf Genesung berechtige. So habe er auch wieder Musikerkollegen und Verleger empfangen und kümmere sich um seine kompositorischen Werke. Er schreibe rührende Briefe an seine Frau.

Auch der Wärter bemerkt Zeichen der Stabilisierung. Die Exkremente des Patienten sind nicht mehr übelriechend und die Clystiere klarer. Was Johannes besonders freut, ist die Tatsache, dass die künstlich beigebrachte Wunde braune Flüssigkeit absondert, sodass die kranken Körpersäfte ungehindert entweichen können. Der Appetit ist besser geworden und der Mann hat kräftig zugenommen. Allerdings ist sein Gesicht aufgedunsen und die Gesichtszüge haben sich vergröbert. An guten Tagen wirkt er entspannter und sie haben viel miteinander gesprochen und gelacht, obwohl der Wärter nicht immer verstehen kann, was der Meister eigentlich meint. Die Sprache ist weniger gut artikuliert, manchmal verwaschen und lallend. Dann kommen plötzlich wieder klare Worte von unerhörter Weisheit über seine Lippen.

Sein Klavierspiel ist sehr unterschiedlich. Obwohl Johannes kein ausgesprochener Kenner der Musik ist, verfügt er über ein empfängliches Gehör. Er kann unterscheiden, wenn die Töne falsch klingen, und tatsächlich kommen ihm gewisse Harmonien merkwürdig vor. Nicht wirklich falsch, aber auch nicht wohlklingend. Manchmal weiss er nicht, ob der Musiker frühere Kompositionen übt, oder ob er am Klavier improvisiert.

Einige Male hörte er Unglaubliches. Es waren Tonbilder, die sein Innerstes berührten. Er glaubte einen Augenblick lang, dahingetragen zu werden, irgendwohin in unbeschreiblich schöne Gefilde. Als stünde er unter Rauschgift. Als erweitere sich sein Bewusstsein. Er sah plötzlich alles viel klarer und eindeutiger. Dabei überkam ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl.

Natürlich hat er es den Aerzten nicht gesagt. Was würden sie auch über ihn denken? Womöglich glaubten sie noch, er wäre reif für eine Nervenbehandlung.

Der Wärter fragt sich, welche Bedeutung der Notenschrift zukommt, die der Komponist in wilder Ekstase kürzlich niedergeschrieben hat.

Am folgenden Tag suchte der Mann verzweifelt nach dem Dokument. Er stürzte zum Klavier und nahm das Instrument beinahe auseinander. Vielleicht war das Blatt zwischen die Saiten gerutscht. Schliesslich, so glaubt der Pfleger, hat er etwas in der Nachttischschublade verstaut. Nun wacht er peinlichst darüber. Täglich schaut er mehrmals nach, ob es noch dort liegt. Beim Aufräumen hat der Wärter kürzlich einen Blick auf das Dokument geworfen. Da war nur wirres Gekritzel, wobei ... , nun, er ist kein Kenner der Notenschrift und er würde sich niemals zumuten, die Noten eines so genialen Komponisten zu entziffern.

„Meister, ich bin es, Johannes. Es ist Zeit zu essen.“

Seine Stimme ist sanft und einfühlsam.

Der Mann öffnet die Augen, richtet sich auf und ergreift mit Inbrunst den Arm des Wärters.

„Johannes, es ist vollbracht! Heute Nachmittag musst du mich nach Bonn zum Denkmal Ludwig van Beethovens begleiten. Er ist mein grosser Mentor. Ich brauche seine Nähe. Mein grossartiges Werk lässt mir keine Ruhe.“

„Gewiss Meister, versprochen. Draussen ist ein milder Herbsttag. Ich werde Sie gerne begleiten. Zuerst müssen Sie mir aber versprechen, dass Sie die Mittagsmahlzeit einnehmen werden, um sich für den Nachmittagsspaziergang zu kräftigen. Wir werden ja einige Stunden unterwegs sein“.

Der Mann stürzt sich auf das Essen. Es kann ihm nicht schnell genug gehen. Statt Messer und Gabel benützt er seine Finger und schlürft laut, sodass Johannes betreten wegschaut. Sogar ein Glas Wein trinkt er in einem Zuge aus. Dann verschluckt er sich, läuft blau an und beginnt zu keuchen und zu husten. Sein Atem beschleunigt sich. Angst erfüllt seine Augen, und dann beginnen sich seine Finger zu verkrampfen. Sogar der vermeintlich gelähmte vierte Finger zuckt heftig.

Der Wärter klopft ihm auf den Rücken und fordert den Patienten auf, ruhiger zu atmen. Er kennt diese Anfälle. Es handelt sich nicht um den grossen Zitteranfall, sondern um eine angstvolle Panikattacke. Manchmal überfällt sie den Meister in der Erregtheit, manchmal auch, wenn er zu hastig isst und sich dann verschluckt. Kalter Schweiss bedeckt das Gesicht. Die Haut ist leichenblass, als wollte alles Leben weichen.

„Hilf mir, Johannes!“, krächzt der Mann verzweifelt, „Ein grosses Unglück steht mir bevor, Fürchterliches. Johannes, ich habe eine riesige und mächtige Fuge komponiert! Das Ende darf mich noch nicht ereilen. Ich muss die Fuge an einen sicheren Ort bringen. Wohin? Zu Beethoven? Zu meiner geliebten Frau? Oder willst Du sie aufbewahren? Soll ich sie meinen Verlegern für Millionen verkaufen? Himmel, mir schwirrt der Kopf. Grässliche Musik. Haben es Dämonen auf meine Fuge abgesehen? Ich muss sie wegschliessen, sie den Klauen der Häscher entreissen!“

Er zieht Johannes zu sich heran und umarmt ihn. Dann beruhigt sich sein Atem und die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück.

„Oh, Engelslied, sei willkommen! Ihr seligen Klänge. Ich kann die Sehnsucht nach Harmonie und Liebe wieder spüren! Die Sehnsucht nach Vollkommenheit und Unendlichkeit! Es tut mir Leid, Johannes, es ist stärker als ich. Ich bin wie ein Seiltänzer. Ich schwanke zwischen den höchsten Sphären und den tiefsten Abgründen. Ich bin dem Wechselbad der Gefühle hilflos ausgeliefert. Halte mich fest, damit ich nicht noch tiefer ins Elend stürze!“

Johannes steigen die Tränen in die Augen. So stark lässt er sich vom Elend seines Patienten mitreissen.

„Schon gut, schon gut, Meister. Es ist alles gut. Und heute Nachmittag gehen wir zu Beethoven.“

Es ist fast heiss an diesem Oktobertag, als der Komponist und sein Wärter von Endenich nach Bonn wandern. Der Musiker geht zügigen Schrittes voran. Zu seiner rechten Seite der Kreuzberg und in der Ferne das Siebengebirge. Er atmet tief ein und fühlt, wie sich seine Lungen mit neuem Leben füllen. Ja, er muss zu Beethoven. Sein grosses Idol hat, gleich wie er selbst, mit seiner grössten Sinfonie Uebermenschliches geleistet. Eine Komposition, die bisher unübertroffen ist. Aber nun, mit der weiterentwickelten Engelsmelodie und der Steigerung ihrer Tonbilder zur gewaltigsten aller Fugen gibt es eine neue Dimension in der Musik.

Der Schritt des Mannes beschleunigt sich und der Wärter hat alle Mühe, seinem Patienten zu folgen. Er hat ein gichtiges Knie, welches beim schnellen Gehen zu einem sperrigen Klumpen wird. Deshalb versucht er, den Meister zu beruhigen und macht ihn auf die wunderschöne, hügelige Landschaft aufmerksam und auf das Herbstleuchten der Bäume. Der Meister brummelt jedoch nur unverständliche Worte und scheint seinen Wärter nicht wahrzunehmen. Die Entfernung zwischen den beiden Männern wird immer grösser und Johannes beginnt sich zu sorgen, dass er seinen Patienten verlieren könnte. Der Musiker ist jedoch nicht mehr aufzuhalten. Er kennt den Weg von früheren Spaziergängen und überholt selbst Fuhrwerke ohne Mühe. Ein Getriebener seiner selbst.

Der Wärter sieht von ferne, wie der Mann in den ersten Gassen Bonns verschwindet. Sein Ziel ist das Bonner Münster, wo das Beethovendenkmal steht. Als Johannes ausser Atem bei der Kirche ankommt, muss er sich auf eine Bank setzen und sich unter einem schattenspendenden Baum abkühlen. Dann blickt er um sich und sucht seinen Patienten im Umkreis des Monuments. Aber da ist er nicht. Als er aufsteht um näher hinzuschauen, sieht er seinen Schützling hinter dem Denkmal hervortreten. Er befindet sich innerhalb der schützenden Umzäunung. Offenbar ist er über den Zaun geklettert.

„Meister!“

Der Mann scheint ihn nicht zu hören. Er steht nun direkt vor dem Monument und blickt zu seinem Idol hinauf. Der Gesichtsausdruck ist verklärt, das Haupt stolz erhoben. So steht er bewegungslos eine ganze Weile. Viele Passanten staunen ob der hingebungsvollen Geste.

„Meister, Sie müssen aus der Umzäunung herauskommen!“, ruft der Wärter ihm zu.

Schnell begibt sich der Patient nochmals hinter das Denkmal, als suche er etwas oder habe etwas verloren. Dann erscheint er lächelnd auf der Vorderseite des Monuments. Unter den neugierigen Blicken der Anwesenden klettert er über den Zaun und begibt sich zu seinem Wärter.

„Es tut mir leid, Johannes. Ich wollte nicht fliehen. Es war eine Mission und sie ist erfüllt. Komm, wir wollen uns setzen und die milde Abendstimmung geniessen.“

Eine gute Stunde lang sitzen die beiden Herren wortlos nebeneinander. Jeder geht seinen Gedanken nach.

Auf dem Rückweg nach Endenich leuchtet das Siebengebirge in der untergehenden Sonne rot. Es gibt keine Eile mehr.

„Johannes, in meiner Ergriffenheit habe ich vergessen, einen Brief an meine liebe Frau Gemahlin in den Postkasten neben dem Münster zu werfen. Könntest du das für mich in den nächsten Tagen nachholen?“

Der Meister greift in seine Jackentasche und übergibt dem Wärter einen weissen Umschlag. Darauf steht: Meiner grossen Liebe.

„Es ist ein sehr wichtiger Brief, vielleicht der wichtigste, den ich je geschrieben habe. Ich vertraue dir und bitte dich, den Brief wie ein Heiligtum zu behandeln.“

„Selbstverständlich, Meister, ich werde Ihren Brief gleich dem heiligen Gral auf samtenen Händen tragen.“

Der Wärter muss ob seinem gelungenen Ausspruch schmunzeln.

„Sorgen Sie sich nicht.“

Von diesem Moment an kann Johannes kein Wort mehr verstehen. Der Musiker brummt und lallt, was das Zeug hält. Dazu verwirft er die Arme und seufzt. Der Wärter kennt diese merkwürdigen Phasen bei seinem Patienten. Er muss ihn dann in Ruhe lassen. Sonst kann es schon vorkommen, dass der Meister böse wird und sich erregt. So sehr, dass er manchmal auch Schläge austeilt oder zu einem Stock greift. Er speichelt dann stark und die Augen treten aus den Höhlen. Dazu pfeift sein Atem und er bekommt Hustenanfälle.

Also verhält sich Johannes ganz ruhig und trottet treu neben seinem Patienten gegen Endenich. Es dunkelt langsam ein, so dass sich die Passanten ob des eigentümlichen Paares nicht wundern.

Während des letzten Bergleuchtens am Siebengebirge erreichen die beiden die Anstalt. Dann färbt sich der Himmel schwarz.

Die Fuge der Liebe

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