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Zug Basel-Berlin, Zwickau (Robert Schumann Haus), 7. und 8. Juni 2010

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Ich hatte mir eine dreiwöchige Auszeit genommen. Nach Beendigung meines Medizinstudiums war ich ausgelaugt und ausserstande, ohne Unterbruch meine berufliche Karriere fortzusetzen. Ich wollte nochmals zurück nach Berlin. Dort hatte mir damals Professor Siegfried Gottesmann wichtige Impulse gegeben. Er hatte mir in seinen Kursen der Berufs- Klavierklasse beigebracht, wie man die Kraft eines einfachen Tastentones ins tiefste Innere des eigenen Wesens überträgt. Trotzdem hatte ich damals entschieden, meinen Berufsweg zu ändern und mich der Medizin zuzuwenden.

Die Musik schien sich in letzter Zeit wieder vermehrt in mein Leben zu drängen. Und so diente meine Reise nach Berlin einer eigentlichen Reinigung meines Gemützustandes.

Ich hatte bewusst darauf verzichtet, das Flugzeug zu nehmen und wollte mich während der Zugreise in Ruhe auf den Aufenthalt in dieser sich stark wandelnden Stadt vorbereiten. Berlin war damals das Gefäss für meine jugendliche Sturm- und Drangzeit gewesen und ich war neugierig darauf, wie die Stadt mich empfangen, welche Gefühle sie in mir auslösen würde, nachdem ich sie vor sieben Jahren Hals über Kopf verlassen hatte. In der Zwischenzeit hatten sich die Emotionen beruhigt. Mein Interesse galt während der Ausbildung zum Arzt mehr den mentalen als den organischen Aspekten der Medizin. Mehrere Monate hatte ich in psychiatrischen Kliniken zugebracht.

Ich war fasziniert von den grenzenlosen Spielarten der menschlichen Psyche. Viel hatte ich über die archaischen Strukturen im tiefsten Innern des menschlichen Geistes gelernt, welche über Jahrhunderte und Jahrtausende immer wieder ihre schöpferische und regulierende Wirkung zeigten. In den letzten Jahren hatten Untersuchungen der Magnetresonanztomographie Strukturen der Musik wie Rhythmus, Takt und Tonintervalle in speziellen Domänen des menschlichen Gehirns nachgewiesen. Man konnte Emotionen, welche von Musikklängen ausgelöst wurden in primitiven Hirnzentren darstellen.

Bezeichnend war die Tatsache, dass kompositorische Elemente alter Meister körperliche und geistige Reaktionen auslösten. Die Frage war: Gab es charakteristische Tonfolgen in der Musik, die in neuralen Strukturen des menschlichen Gehirns unbekannte Kräfte und Energien freisetzten? Schliesslich hatte Musik, wie längst nachgewiesen, eine therapeutische Wirkung bei hirngeschädigten und dementen Patienten.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie mir gegenüber ein Herr mittleren Alters mit ausgesprochen melancholischem Blick Platz genommen hatte. Er trug einen dunklen, etwas altertümlichen Anzug mit Kragenschlaufe. Seinen Kopf hatte er auf seiner abgewinkelten linken Hand aufgestützt. Der Ellbogen ruhte auf der Armstütze seines Sitzes.

„Geht es Ihnen gut?“ fragte er mich.

Es war mir peinlich, denn ich hatte mich selbst dabei ertappt, wie ich meine Lippen bewegte und Selbstgespräche führte.

„Es geht ... mir gut“, stammelte ich, „bitte, ich war nur in Gedanken versunken“.

„Hm!“ Er versteckte seinen Kopf hinter dem Berliner Tagblatt und setzte seine Lektüre fort. Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz. Auf der mir zugewandten Frontseite der Zeitung stand in grossen Buchstaben: Unerwarteter Tod von Professor Siegfried Gottesmann, bekannter Musiker und entfernter Nachfahre des Komponisten Robert Schumann. Die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 200sten Geburtstag Schumanns an seinem Geburtsort in Zwickau verlieren den wichtigsten Teilnehmer.

Mein Atem beschleunigte sich. Hände und Füsse fühlten sich gelähmt an. Konnte es wirklich sein? In Berlin sollte die Person, die ich aufzusuchen gedachte, gestorben sein? Die Jubiläumsfeier zu Ehren Schumanns war mir völlig entgangen! Sie sollte bereits morgen stattfinden.

Es war mir sofort klar, dass ich die Jubiläumsfeier auf keinen Fall verpassen durfte. Die Verehrung für diesen Meister hatte das gesamte Lebenswerk meines damaligen Lehrers und Mentors massgeblich beeinflusst. Und jetzt war er tot. Es war eine moralische Verpflichtung für mich, an dieser Feier teilzunehmen. Auch wenn dies bedeutete, dass ich nach meiner Ankunft in Berlin die Stadt morgen bereits wieder in Richtung Zwickau verlassen musste. Schumann hatte in mir tiefe Spuren hinterlassen. Es war immer seine Musik gewesen, die in mir diese seltsamen seelischen und körperlichen Reaktionen ausgelöst hatte.

„Entschuldigung nochmals, aber ich glaube wirklich, es geht ihnen nicht gut.“

Die Zeitung senkte sich und offenbarte den tiefen und traurigen Blick meines Gegenübers. Wer war dieser Mann?

„Nein wirklich, es ist alles in Ordnung, ich danke Ihnen.“

Benommen lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Ich musste meine Pläne ändern. Als erstes wollte ich in Berlin wie vorgesehen mein Pensionszimmer im Stadtteil Kreuzberg beziehen. Ich würde früh zu Bett gehen und ausgeruht am nächsten Morgen die Reise nach Zwickau fortsetzen. Ich wollte noch heute in Berlin ein Bahnbillett lösen.

Eine leise Vorahnung bemächtigte sich meiner Aufmerksamkeit, ohne dass ich den flüchtigen Gedanken in seiner Bedeutung fassen konnte. Viel weniger noch konnte ich wissen, welch schicksalshafte Wendung meine Auszeit nehmen sollte und welch dramatische Tage mich erwarteten.

Ich blickte auf. Der Zug musste bald in Berlin einfahren. Mein Gegenüber war weg. Auf seinem Sitz lag zusammengefaltet die Zeitung mit der erschütternden Nachricht. War der traurige Herr ausgestiegen? Hatte der Zug in der Zwischenzeit angehalten? War ich einer Sinnestäuschung erlegen oder hatte ich einfach nur geträumt? Irgendwie erinnerte mich der verschwundene Zugnachbar an ein Portrait ..., ja, er erinnerte mich an ein Portrait Robert Schumanns, welches mir von einem früheren Besuch seines Geburtshauses her vertraut war.

Ich kannte mich gut aus in Berlin, nahm nach meiner Ankunft die U-Bahn und trug meinen Koffer durch die belebten Strassen des Stadtteils Kreuzberg. Die kleine Pension befand sich am Rand eines hübschen Parkes beim Oranienplatz wo noch viele Menschen die untergehende Abendsonne genossen. Ich meldete mich bei Frau Rosenblum, die mir meine Reservation per Internet zugesagt hatte. Sie war eine ältere, pummelige und freundliche Frau.

„Mein Name ist Josch Vonstahl.“

„Natürlich, willkommen gnädiger Herr, sicher sind Sie müde von der Reise.“

Sie wies mich zu einem gemütlichen Zimmer mit eigenem Bad und einer Terrasse, die direkt über dem Park lag. Erschöpft und ohne meinen Koffer auszupacken sank ich ins Bett. Im Traum erschien mir nochmals der traurige Herr mit dem melancholischen Blick. Er sprach wirres Zeug und unverständliche Worte. Eine Melodie begleitete mich danach durch die Nacht.

Und so befand ich mich am nächsten Tag bereits wieder im Zug. Das Frühstück war köstlich gewesen und Frau Rosenblum hatte nicht schlecht gestaunt, als ich ihr eröffnete, dass ich die nächste Nacht in Zwickau verbringen würde. Freundlicherweise gab sie mir die Adresse einer Absteige bei einer guten Freundin in der Nähe der Gedenkstätte, wo sich die illustre Gesellschaft in der Konzerthalle des heutigen Robert Schumann - Hauses zu einem Konzert der Staatskapelle Berlin einfinden sollte. Anschliessend würde ein Fest auf dem Hauptmarkt stattfinden.

„Gnädiger Herr“, sagte sie beim Abschied noch „ich kann sehr gut verstehen, dass Ihnen dieser Anlass am Herzen liegt. Ich war auch völlig erschüttert vom Tod des geschätzten Professors. Ich bin regelmässig in seine Konzerte gegangen. Er hat die Werke seines berühmten Vorfahren so ergreifend vorgetragen. Mir sind jeweils die Tränen gekommen. Und wenn ich jetzt bedenke, dass seine Enkelin, die er grossgezogen hat - ein wahrlich schwieriges Kind - nun ganz auf sich allein gestellt ist ..., wie schrecklich, was wird auch aus ihr werden?“

Ich konnte mich noch vage an die Enkelin meines Lehrers erinnern. Sie war damals ein Kind gewesen, etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Oft sass sie während des Klavierunterrichts ihres Grossvaters in einer Ecke des Musikzimmers, die Hände um ihre Knie geschlungen und den Kopf eingerollt. Ich hatte mich immer gefragt, was wohl in ihr vorging während dieser Musikstunden. Der Professor erwähnte einmal, dass sie sich weigerte, ans Klavier zu sitzen, dass er aber glaubte, dass sie ein sensibles und für Musik empfängliches Gehör besass. Sie sei sehr introvertiert und bewahre alle intensiven Eindrücke in ihrem Inneren. Ich hatte sie als schmächtiges Kind in Erinnerung, als wortkarg und nie lachend. Und eine Besonderheit kam mir jetzt wieder in den Sinn: Sie hatte seltsam durchscheinende, grüne Augen. Ob ich Eli heute noch erkennen würde?

Ich hatte mir von Berlin aus eine Eintrittskarte für das Gedenkkonzert reservieren lassen, und als der Zug im Bahnhof Zwickau ankam, begab ich mich mit einem Taxi zum Geburtshaus des Komponisten, wo die Leute vor der Kasse des Konzertsaales bereits Schlange standen. Mit viel Geduld besorgte ich das Billett und begab mich in die Eingangshalle, wo die Besucher ihre Drinks an Stehtischen genossen. Ich erwartete einige bekannte Gesichter aus meiner Studienzeit bei Professor Gottesmann, konnte jedoch vorerst niemanden erkennen. An einem Tisch ganz hinten schienen mir allerdings einige Gesichter vertraut, und ich glaubte zwei Verlagsagenten des Notenhauses H. und B. zu erkennen, die beim Professor immer ein und aus gegangen waren. Der Musiker hatte eine Neuausgabe des gesamten Klavierwerks von Schumann vorbereitet und, so nahm ich an, später auch herausgegeben.

Im Programmheft des heutigen Abends wurde im Anschluss an das Konzert eine Ansprache angekündigt. Anstelle des vorgesehenen Professors würde der Direktor der Musikschule Zwickau, ein guter Freund des Verstorbenen, einige Worte an das Publikum richten. Man konnte gespannt sein, was er in der unvorhergesehenen Situation mitteilen würde.

Ueberrascht war ich von der Auswahl der Darbietungen, alles Werke des Jubilars. So standen fast ausschliesslich Interpretationen seiner Frühwerke auf dem Programm, mit Ausnahme einer sehr umstrittenen und fast nie in Konzertsälen gehörten Komposition: seine letzten Variationen für Klavier, die sogenannten Geistervariationen, die seine Ehefrau unter Verschluss gehalten hatte. Sie befürchtete, das Werk könnte durch die Erkrankung ihres Gatten beeinflusst worden sein und seinem Ruf schaden. Die Komposition wurde erst in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts veröffentlicht, und die Musikwelt war sich bezüglich des kompositorischen Gehalts des Werks uneinig. Hatten die umstrittenen Variationen am Schluss des Konzertes eine tiefere Bedeutung?

Der Gong erklang und die Leute begaben sich in den Konzertsaal. Ich hatte einen Platz am hinteren Ende des Saals, wo sich mir ein guter Ueberblick bis in die seitlichen Logenplätze bot. Mein Interesse galt nebst dem musikalischen Ereignis auch den anwesenden Musikfreunden.

Der Dirigent eröffnete den sinfonischen Teil des Konzertes, nachdem sich das übliche Husten und Stühlerücken des Publikums gelegt hatte. Ich liess mich mit geschlossenen Augen in die Tiefen der wunderschönen Musik herabgleiten und erschrak förmlich, als der tosende Applaus einsetzte und ich den Ellbogen meines Nachbars in meiner Flanke spürte. Offenbar hatte ich ihn gestossen. Ich wollte mich soeben entschuldigen, als ich den traurigen Herrn mit dem melancholischen Blick zu erkennen glaubte, der, seinen Arm auf der Lehne abgestützt, mit der linken Hand seinen Kopf hielt. Er erhob sich jedoch in diesem Moment, nickte mir freundlich zu und entfernte sich zwischen den Stuhlreihen des noch halb abgedunkelten Saals.

Ich blickte mich um und dann sah ich sie: in einem der Logenplätze. Ganz sicher war ich allerdings nicht. Aber dann begegneten sich für einen kurzen Augenblick unsere Augen. Ich erkannte in ihren Mundwinkeln ein kurzes, scheues Lächeln und den tiefen, durchscheinenden Blick ihrer Pupillen. Es war Eli, die Enkelin des verstorbenen Professors. Ich wusste nicht warum, aber mein Pulsschlag beschleunigte sich und es überlief mich ein prickelnder Schauer. Ich wagte nicht, noch einmal hinauf zu blicken und war froh, als der Saal sich wieder abdunkelte und ich mich in die Anonymität des Konzertsaals verkriechen konnte. Hatte ich Angst vor dieser Begegnung?

Schon als Kind war mir Eli etwas unheimlich gewesen. Man wusste nie so recht, was in ihr vorging. Sie konnte recht borstig sein, hatte aber auch ihre lieblichen Seiten. Man konnte ihre innere Reife schlecht abschätzen, einesteils war sie Kind, andernteils erschien sie altklug und erwachsen.

In dem kurzen Augenblick der Begegnung unserer Augen glaubte ich wieder dasselbe, undefinierbare Wesen zu erkennen. Es konnte durchaus sein, dass das Bild, das ich mir von Eli machte einer in mir schlummernden Vorstellung entsprach.

Ich wandte mich zum Sitz neben mir. Er war leer.

Der zweite Teil des Konzertes bestand ausschliesslich aus Klavierwerken. Sie waren mir grösstenteils bekannt. Der wohl beste Schüler des verstorbenen Professors interpretierte sie gut und mit tiefem Empfinden. Man konnte spüren, wie Gottesmann seine volle Hingabe an das Werk Schumanns auf seinen Schüler übertragen hatte.

Dann, just vor der Wiedergabe der letzten, noch wenig bekannten Variationen geschah etwas Merkwürdiges. Beim Nachstellen der Notenbank geriet dem Pianisten, der sich kurz erhoben hatte, versehentlich die Brille zwischen die Saiten. Er musste sich nach vorne beugen, schien kurz zu schwanken und verlor beinahe das Gleichgewicht. Es war nicht auszumachen, ob das Loslösen der Brille aus den Saiten die Ursache war. Jedenfalls entwich ein grässliches, dissonantes, fast stöhnendes Geräusch dem prächtigen Flügel, sodass ein dumpfes Raunen durch den Zuschauerraum ging.

Der Pianist war sichtlich irritiert, als er sich wieder setzte und holte ein weisses Taschentuch aus der Hose, um sich den Schweiss von der Stirne zu wischen. Dann legte sich Stille über den Saal. Die Luft war zum Zerreissen gespannt, kein Husten, kein Stühlerücken. Während der nachfolgenden Wiedergabe der Variationen nahm ich starke Gefühle wahr. Unruhe, Erwartungsangst, Sehnsucht.

Berührt liess ich mich durch den tosenden Applaus von der Unwirklichkeit der seltsamen Empfindungen erlösen.

Noch bevor ich mich dem Beifall anschliessen konnte, spürte ich wieder einen Ellbogen in meiner Flanke. Kleine Finger krabbelten zu meiner linken Hand und verstauten ein zerknülltes Stück Papier darin. Instinktiv ergriff ich den Zettel und umschloss ihn fest. Als ich mich umsah, hatte sich Eli bereits vom Nachbarssitz erhoben und entfernte sich zwischen den Stuhlreihen zum Ausgang hin. Sie blickte kurz zurück und rief mir zu:

„Wir kennen uns.“

Dann war sie verschwunden. Ich schob das Papier in meine Jackentasche.

In der Pause begab ich mich in die Vorhalle und griff nach dem Papierknäuel in meiner Jacke. Ich musste ihn glätten, um zu erkennen was darauf stand.

Es war eine Notenspirale mit zwölf Notenköpfen: vier unausgefüllte, acht gefüllte, zwei davon punktiert:


Ich stand vor einem Rätsel. Zum einen konnte ich mit dieser Tonfolge nichts anfangen. Es fehlten der Notenschlüssel, die Notenhälse, der Rhythmus und die Taktstriche. Zum anderen hatte ich keine Ahnung, weshalb mir Eli diese Notiz hatte zukommen lassen. Es blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Anwesenden strömten wieder zu den Saaleingängen. Zudem waren meine Gedanken bereits bei der bevorstehenden Ansprache des Musikdirektors. Ich steckte den Zettel ein. Von Eli keine Spur.

Im Konzertsaal betrat ein grauhaariger, leicht korpulenter Herr die Bühne. Er wirkte gehemmt und war sichtlich gerührt. Nachdem er seine Lesebrille aufgesetzt hatte, begrüsste er die Anwesenden und drückte seine tiefe Trauer über den Tod seines Freundes aus. Seine Stimme schien zu versagen. Er konnte sich aber rasch wieder auffangen, wischte sich mit einem weissen Taschentuch über die Wangen und begann mit einem Rückblick auf das Leben des Komponisten.

Schumann wurde in Zwickau geboren, erlebte seine Ehejahre in Leipzig und Dresden, bis er sich mit seiner Familie als städtischer Musikdirektor in Düsseldorf niederliess. Leider waren seine letzten Lebensjahre von einer seelischen Krankheit geprägt, und er musste nach einem Selbstmordversuch die Zeit bis zu seinem Tod in einer Irrenanstalt verbringen. Alles bekannte Fakten. Man konnte durch das zunehmende Gehuste und Flüstern spüren, dass das Publikum leicht gelangweilt war. Die Spannung nahm jedoch abrupt zu, als der Referent noch kurz auf das Schaffen des verstorbenen Nachfahren zu sprechen kam:

„Meine geschätzten Musikfreunde! Sie alle wissen, dass ich dem Verstorbenen aus tiefstem Herzen verbunden war. Sein Wirken und sein Bemühen, die kompositorische Hinterlassenschaft seines Ahnen ins richtige Licht zu stellen, kann niemand vergessen. Insbesondere war er in seinen letzten Jahren mit ungebrochener Hartnäckigkeit damit beschäftigt, die letzten Werke des grossen Meisters neu zu bewerten. In vielen Gesprächen, die ich mit ihm führen durfte, hat er immer wieder auf seine Ueberzeugung hingewiesen, dass das kompositorische Schaffen Schumanns in seinen letzten Jahren, entgegen der herkömmlichen Meinung, durch das Auftreten seiner seelischen Probleme keinesfalls beeinträchtigt war. Im Gegenteil hätten seine letzten Kompositionen deutlich an Kraft gewonnen und zeigten sogar Aspekte eines übersteigerten musikalischen Bewusstseins.

Eines Abends berichtete er mir über ein erstaunliches Dokument, das sein Leben in den letzten Jahren vollumfänglich gefesselt hatte. Er glaubte, der Bedeutung dieses Dokumentes auf die Spur zu kommen. So soll er kürzlich bei der Durchsicht der Hinterlassenschaft seiner Familie einen Brief des Komponisten an seine Gattin entdeckt haben, welchen sie aus der Irrenanstalt erhalten hatte. Es ist bekannt, dass Schumann in der Anstalt noch Fugen komponiert hat, die allerdings als verschollen gelten. Nun soll in diesem Brief ein Bezug zu einer dieser Fugen enthalten sein. Gottesmann war regelrecht darauf versessen, das Geheimnis dieses bisher unbekannten Werkes zu entschlüsseln. Es liess ihm keine Ruhe mehr und ich glaube, er wollte das Tongefüge dieser Komposition entschlüsseln. Er vermutete dahinter eine archaische Kraft.

Liebe Musikfreunde, ich kann mir nicht vorstellen, welche Bedeutung der Entdeckung einer bisher unbekannten und unter aussergewöhnlichen psychischen Bedingungen entstandenen Fuge zukommen würde. Im Rahmen dieser 200-Jahr-Feier und in bedauerlicher Abwesenheit meines verstorbenen Freundes sehe ich mich verpflichtet, die Musikwelt von diesen erstaunlichen Fakten in Kenntnis zu setzen. Was sie auch immer für die Menschheit bedeuten werden!“

Der Redner entfernte sich mit gesenktem Kopf. Es kam kein Applaus auf. Nach einer seltsamen Stille setzte Raunen ein. Eli sass nicht in ihrer Loge. Der Sitz neben mir war frei.

Beim nachfolgenden Fest auf dem Marktplatz rund um das Schumann-Denkmal setzte ich mich auf eine Mauer. Ich wollte mich nicht unter die Gäste und Musikfreunde mischen. Ich war nicht einer von ihnen. Nur der Zufall hatte es gewollt, dass ich mich an diesem Tag an diesem Ort befand. Und ich fühlte mich nicht glücklich dabei. Eine leichte Uebelkeit überkam mich. Eine Magenverkrampfung, dachte ich. Zudem hatten mich das Gehörte und die Ereignisse der vergangenen Stunden ziemlich irritiert.

Ich hatte mir meine Auszeit anders vorgestellt. Ich wollte zur Ruhe kommen, neue Kräfte sammeln, die früheren Zeiten nochmals Revue passieren lassen. Und nun sass ich auf einer Mauer unweit des Schumann- Denkmals und fühlte mich unbehaglich. Das Thema der letzten Variationen Schumanns schwirrte in meinem Kopf und übertönte die Stimmen und festlichen Geräusche auf dem Hauptmarkt. Ich konnte die Liebe spüren, die von dieser einfachen Tonfolge ausging. Warum hatte die Frau des Komponisten dieses Werk so lange unter Verschluss gehalten? Hatte sie wirklich gemeint, der Geisteszustand ihres Mannes habe die Komposition in ihrer Bedeutung gemindert? Oder hatte sie die Kraft der Liebe darin gespürt und sie deshalb für sich behalten? Waren Schuldgefühle im Spiel? Was war mit den verschollenen Fugen? Hatte sie auch diese zurückbehalten? Und weshalb?

Gedankenverloren blickte ich mich um. Es war viel Leben und Freude auf diesem Platz. Ich wusste nicht, ob sich Schumann in seiner bekannten Verschlossenheit darüber gefreut hätte. Aber so waren eben die Menschen. Wenn es etwas zu feiern gab, waren sie dabei und konnten ihre Nöte und ihren Kummer für einige Zeit vergessen. Bei mir war das nicht so. Ich mied grosse Menschenansammlungen und fühlte mich nur in kleinem Kreis wohl. Bei grossen Anlässen wurde ich zum Betrachter und machte mir Gedanken über dieses und jenes, über das Befinden und Wesen der Anderen.

Dann sah ich sie wieder, Eli. Sie stand unter einem grossen Baum im Schatten riesiger Blätter. Die Baumkrone wippte im sanften Wind, und die Schatten gebenden Konturen der Wipfel umspielten die kleine Gestalt. Dann erschrak ich. Ich erkannte die beiden Verleger, die wild gestikulierend auf Eli einwirkten. Die Frau wich gegen den Baumstamm zurück. Man konnte ihr Ungemach erkennen. Sie war zwischen den beiden Herren und dem Baum eingeklemmt. Fast schien es, als wollten die Verleger handgreiflich werden und Eli fort reissen. Plötzlich schienen die Herren den Bogen überspannt zu haben, denn Eli holte zu einem heftigen Tritt aus und traf erst den einen, dann den anderen mitten in den Schritt. Geschickt nützte sie das Ueberraschungsmoment und lief davon. Die verdutzten Herren blieben in gekrümmter Haltung zurück und blickten vorsichtig um sich, als wollten sie die Peinlichkeit verbergen.

Ich sprang von der Mauer und mischte mich unters Volk, verzweifelt nach Eli Ausschau haltend. Sie war nirgends zu sehen. Die Frau hatte es wirklich in sich. Wohl war mir ihr aufbrausendes Wesen in Erinnerung. Aber zwei Herren auf einmal gefechtsuntauglich zu schlagen und dann vom Erdboden zu verschwinden war wirklich eine starke Leistung.

Unbewusst griff ich nach dem Zettel in meiner Jackentasche. Ich spürte ein Brennen an den Fingerspitzen, als ich ihn berührte. Gab es einen Zusammenhang zwischen den Noten auf dem Papier und den Ereignissen auf dem Marktplatz? Was wollten die Verleger von Eli? Ging es um ihren verstorbenen Grossvater?

Gedankenversunken blieb ich vor einem CD - Stand mit Musik von Schumann stehen. Es waren die bekannten Werke, die sich immer gut verkauften, veredelt durch illustre Interpreten, sogenannte Starpianisten und Stardirigenten. Die Musik war längst zum Geschäft geworden und viele verdienten sich eine goldene Nase mit den Werken längst verstorbener Komponisten.

„Guten Tag Herr Vonstahl, kennen wir uns nicht?“

Verblüfft drehte ich mich um und sah den beiden Verlegern direkt in die Augen. Der eine war korpulent, mit groben Zügen, der andere hager und bleichgesichtig, mit stechenden Augen. Der Dünne schien der Wortführer zu sein.

„Nun ja, Sie kommen mir bekannt vor, bitte helfen Sie mir auf die Sprünge“, antwortete ich geistesgegenwärtig.

„Wir haben uns oft im Hause von Professor Gottesmann gesehen, als Sie vor etlichen Jahren Musikunterricht nahmen. Wir glauben, dass Sie eine besondere Beziehung zu dem Verstorbenen hatten. Er sprach immer gut von Ihnen, wenn wir uns mit ihm zur Besprechung von Publikationen trafen. Das war eine riesige Leistung des Professors, wenn man bedenkt, wie viele Kompositionen Schumanns bisher nicht veröffentlicht wurden. Und wie Sie sicher wissen, wurden ja viele Werke nur bruchstückhaft geschaffen und teilweise nicht zu Ende geführt. Diese Aufgabe muss den Verstorbenen verbraucht haben. Sicher ist er deshalb so unerwartet gestorben. Nun, dürfen wir Sie fragen, was uns die Ehre verschafft, Sie hier in Zwickau zu treffen?“

„Ich wollte einen Urlaub in Berlin verbringen, als ich vom Tod Gottesmanns und von den Feierlichkeiten zum 200sten Geburtstag Schumanns erfuhr. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, hierher zu kommen.“

„Eine edle Geste“, meinte der Dünne und blickte den Dicken vielsagend an. „Gestatten Sie, dass wir uns mit unseren Namen vorstellen. Ich heisse Matthias Gnadnoth vom Notenverlag H. und B. und dies ist mein Partner Ulrich Sauerkampf.“

Nun, das war die Bestätigung, dass mich meine Erinnerung nicht getäuscht hatte. Es waren in der Tat die beiden Herren, die tagein und tagaus die Wohnung von Professor Gottesmann frequentiert hatten. Es war schon früher so gewesen, dass immer der Dünne das Wort führte und der Dicke sein Einverständnis mit zustimmendem Nicken kundtat.

„Wir fühlen ganz mit Ihnen, Herr Vonstahl. Der Tod von Professor Gottesmann hat uns ebenso schwer getroffen, war er doch ein begnadeter Musiker und guter Kunde. Und so vieles ist unerledigt geblieben. Ein Menschenleben, das uns so kurz vor Vollendung seines Lebenswerkes entrissen wurde!“

„Ich glaubte, Sie hätten das Klavierwerk bereits neu herausgegeben.“

„Ja natürlich, wenn man die kompositorischen Schöpfungen Schumanns in ihrer Gesamtheit überhaupt jemals überblicken kann. Sie wissen natürlich, dass, wie im soeben gehörten Vortrag erwähnt, so Vieles unfassbar und verborgen geblieben ist. Insbesondere diese unglaubliche Geschichte der verschollenen Fugen und des bisher unbekannten Briefes an die Gattin. Aber sicher langweilen wir Sie. Ohne Zweifel wissen Sie durch ihre intimen Kontakte zur Familie des Verstorbenen viel mehr über all diese Dokumente. War doch auch die Enkelin des Verstorbenen Ihnen früher immer sehr zugetan. Das glaubten wir jedenfalls. Bitte korrigieren Sie mich, wenn es nicht zutreffen sollte. Diese Eli, diese Blicke! Sie hat Sie mit ihren riesigen Augen beinahe verschlungen.“

Der Dicke nickte zustimmend und immer wieder, konnte kaum mehr aufhören. Dabei wackelte auch sein überhängender Bauch bedenklich. Ich musste schmunzeln.

„Ehrlich, ich weiss nicht, woher Ihr Eindruck kommt. Natürlich hatte ich eine sehr gute und tiefe Beziehung zu Gottesmann. Und mit seiner Enkelin ..., aber ich bitte Sie, sie war doch damals ungefähr 15 jährig! Ich glaube Sie missdeuten ihre zweifellos schönen und tiefsinnigen Augen.“

„Wie dem auch sei, sicher haben Sie die Frau beim Konzert getroffen. Wie wir wissen, waren Sie jedenfalls beide anwesend. Wir haben uns gefragt, ob die Enkelin bei der Bewältigung der erheblichen musikalischen Hinterlassenschaft womöglich unsere Hilfe braucht. Sollten noch irgendwelche unbekannten Schriften vorhanden sein, wären wir sicher eine qualifizierte Unterstützung. Unser Verlag ist bereits über Generationen mit dem Werk Schumanns vertraut. Sie wissen nicht zufällig, wo Elisabeth Schrag gegenwärtig wohnt? Sie scheint ja ein recht instabiles Leben zu führen. Und so ist sie auch jetzt plötzlich verschwunden.“

„Ich bedaure, aber ich war seit sieben Jahren nicht mehr in Berlin und hatte in der Zwischenzeit auch keinen Kontakt mit Eli. Damals wohnte sie noch bei ihrem Grossvater.“

„Nun, bei unseren letzten Besuchen beim Musikprofessor haben wir sie nie mehr angetroffen. Er reagierte immer sehr gereizt, wenn man sich nach seiner Enkelin erkundigte. Sie hatten scheinbar erhebliche Differenzen miteinander.

Einmal machte Gottesmann eine merkwürdige Bemerkung. Er meinte, seine Enkelin habe, wie einst auch Schumann, einen melancholisch - cholerischen Charakter, und er glaube, dass sie auch bald reif für das Irrenhaus sei. Stellen Sie sich vor: die Enkelin im Irrenhaus! Dabei ist sie eine durchaus sensible Person und sie hat eine ganz besondere Begabung für die Sinnhaftigkeit von Tonfolgen. Das musste auch der alte Gottesmann zugeben. Ich glaube, er hat sie ab und zu um ihren Rat gefragt, wenn es um das Redigieren von Noten ging. Diese Frau hat einen ausserordentlichen Feinsinn für übernatürliche Aspekte der Musik. Es wäre zu schade, wenn sie durch den Tod ihres Grossvaters aus dem Gleichgewicht geriete. Wir machen uns grosse Sorgen.“

Sauerkampfs Ueberhängsel wackelte wieder stark, und er musste sich kurz an seinem Partner festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen, tut mir leid.“

„Hm, nun ..., noch ein Letztes. Reisen Sie zurück nach Berlin? Es würde uns freuen, Sie bei Gelegenheit in unserem Verlagshaus begrüssen zu dürfen. Und, falls Sie unsere Unterstützung - in welcher Angelegenheit auch immer - in Anspruch nehmen möchten, bitte zögern Sie nicht. Wir sind offen für alle Belange im Zusammenhang mit den Werken Schumanns. Es wäre uns wirklich eine Ehre, Sie nochmals zu treffen. Und sollten Sie den Aufenthaltsort von Elisabeth Schrag erfahren, auf welchen Wegen auch immer, wären wir für eine kleine Mitteilung dankbar. Seien Sie versichert, dass wir nur das Beste wollen und dass uns die Rettung allfälliger Relikte in selbstloser Art und Weise ausgesprochen am Herzen liegt.“

„Ich werde mich gerne daran erinnern, möchte aber eigentlich meinen geplanten Aufenthalt in Ruhe und Abgeschiedenheit verbringen. Ich brauche einige Tage des Nachdenkens, wenn Sie das bitte verstehen könnten.“

„Wir haben volles Verständnis und hoffen natürlich, dass Sie Ihre ersehnte Ruhe finden werden.“

Gnadnoth verdrehte vielsagend die Augen und Sauerkampf wackelte mit Kopf und Bauch.

„Wir danken für die Aufmerksamkeit, gnädiger Herr und wünschen eine gute Reise, und bis ... “

Sogleich stiess der Dicke seinen Partner in die Flanke. Gnadnoth schrie kurz auf.

Verdutzt blieb ich stehen und brachte kein Wort des Abschieds über die Lippen, als sich die beiden Herren von mir entfernten. In meinem Inneren blieb ein merkwürdiges Gefühl zurück. Mein Mund war trocken und ich fühlte einen bitteren Geschmack. Das Gespräch hatte eine seltsame Wendung genommen. Ich empfand Abneigung gegenüber den aufsässigen Verlegern und konnte mir nicht vorstellen, was sie mit ihren Andeutungen bezweckten. Was hatte ich denn mit Hinterlassenschaften und Relikten zu tun? Warum sollte ich eine spezielle Beziehung zu Eli haben? Welche irren Vorstellungen kreisten in den Köpfen dieser komischen Käuze?

Eine leise Ahnung strich durch meine Gedanken, ohne dass ich sie zu fassen bekam. Ich erinnerte mich, dass das Traditionshaus auch in den letzten Lebensjahren Schumanns Kompositionen herausgegeben hatte. Sicher waren Verleger von H. und B. in der Nervenheilanstalt gewesen. Na und? Es war schliesslich ihr Métier. Es war nichts dagegen einzuwenden.

Mir war die Lust an den Festlichkeiten vergangen und ich sehnte mich danach, wieder nach Berlin zurückzukehren. Ich wollte alles bisher Erlebte von mir abschütteln und mich endlich in meine Auszeit begeben. In Gedanken sah ich mich durch die vielen Pärke Berlins gehen und zu meinem inneren Frieden finden.

In einem nahen Gasthaus nahm ich einen kleinen Imbiss zu mir und begab mich zur Adresse, die mir meine Hausmutter in Berlin mitgegeben hatte. Auf dem Weg dorthin begegnete ich einem Herrn, der die Mütze tief in das Gesicht gezogen hatte. Er schwankte leicht und ich dachte zuerst, er sei betrunken. Dann blieb er stehen, zog seinen Hut nach oben. Ein Schaudern streifte meinen Körper, und einen Augenblick lang geriet auch ich ins Wanken. Der Mann nickte mir zu, bevor er seine Mütze wieder hinunterzog und seinen Kopf auf den linken Arm legte. Als ich mich an einer Hauswand anlehnte und um mich blickte, sah ich den Mann nicht mehr. Ich beschleunigte danach meinen Schritt.

Die Fuge der Liebe

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